Dokumentation Vom „Roten Wien“ zur sozialen Wohn(bau)politik der Gegenwart.

Eine neunzigjährige Erfolgsgeschichte unter der Lupe. Von Peter Klein

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16.05.2017 - 20.05.2017

 

Unter diesem Titel lud die Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW gemeinsam mit Arbeit und Leben DGB/VHS NRW vom 16. bis zum 20. Mai 2017 zu einer Studienfahrt nach Wien ein, 24 Interessierte nahmen teil, darunter auch einige ArchitektInnen und KommunalpolitikerInnen. Geleitet wurde die Reise von Gloria Müller.

Frau Dr. Susanne Piffi-Pavelec aus dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz eröffnete das Seminar am ersten Abend mit einem Vortrag zum Thema „Wien-Stadt und Land - zur aktuellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation“.

Das österreichische Bundesland Wien wird derzeitig aus einer Koalition von SPÖ und Grünen regiert. Wien hatte 2017 ein Budget von 13 Mrd. € Gesamtausgaben und 2, 56 Mrd. € Investitionen. Die  Ausgaben verteilen sich auf 18,7% für soziale Wohlfahrt und Wohnbauförderung, 18,4% für Vertretungskörper und allgemeine Verwaltung, 17,6% für Gesundheit sowie 17,3% für Unterricht und Erziehung. Die Arbeitslosenquote betrug in Wien 2015 insgesamt 12,8%, davon Männer 14,4%, Frauen 10,3% und Jugendliche 15,5%, in Österreich gesamt 8,6%, davon Männer 8,8%, Frauen 8,3% und Jugendliche 10,6%.

Die Sozialquote (Summe aller Ausgaben eines Staates für soziale Belange in Prozent zum BIP) liegt in Österreich bei 30%, finanziert durch private Arbeitgeber (32%), den Staat als Arbeitgeber (4%), Arbeitnehmer (21%), Steuern (36%) sowie Selbstständige und Pensionisten (5%). 99,9% aller in Österreich lebenden Menschen sind krankenversichert. Die Renten sind ca. 50% höher als in der BRD. Das Arbeitslosengeld wird je nach Länge des Einzahlungszeitraums bis zu 72 Monate lang ausgezahlt. Nach Ablauf des Arbeitslosengeldes besteht die Möglichkeit der Gewährung der Notstandshilfe, die unbefristet unter der Berücksichtigung des Partnereinkommens ausgezahlt wird. Die Notstandshilfe ist mit der früheren Arbeitslosenhilfe bei uns vergleichbar. Für Menschen, die noch nie ein berufliches Einkommen bezogen haben, z. B. Geflüchtete, besteht noch die Möglichkeit bedarfsorientierte Mindestsicherung zu beziehen.

Der Vormittag des 2. Tages startete mit einem Besuch der Ausstellung „Das Rote Wien“ zur Entstehung der Wohnungsbaupolitik in Wien zwischen 1918-1934 im Waschsalon des Karl-Marx-Hofes.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem ersten Weltkrieg war die Wohnsituation geprägt von einer extrem hohen Bevölkerungsdichte sowie von daraus resultierenden unhygienischen Wohnsituationen. Eine Folge davon war die Tuberkulose, die auch „Wiener Krankheit“ genannt wurde. Eine Beschreibung des Elends dieser Verhältnisse findet sich in der Montagspost vom 13. Nov. 1911, in der über einen Mieter-Aufstand berichtet wird, bei dem sich 2.000 Menschen gegen Kündigungen durch ihre Vermieter wehrten. Die Zeitung zitiert aus Berichten von Kontrolleuren der Bezirkskrankenkassen: „Im Hause 2. Bezirk, Kleine Schiffgasse 32, sind alle Wohnungen in einem desolaten Zustand, insbesonders aber die Wohnungen Nr. 11 und Nr. 12 sprechen geradezu Hohn allen sanitären Anforderungen. Diese beiden Wohnungen sind miteinander durch offene Türen verbunden und gehören einem Mieter. Sie bestehen aus fünf Zimmern und einer Küche. Alle Räume dienen als Schlafräume. Es befinden sich darin 38 Betten, diese werden aber von mehr als der doppelten Anzahl von Personen benutzt, da nicht nur zwei Personen ein Bett teilen, sondern diese auch noch Kinder bei sich haben. Der freie Raum zwischen den Betten wird überdies noch von auf dem Boden liegenden Schläfern benutzt.“

Mit dem Ende des 1. Weltkrieges und dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie veränderte sich die politische Lage in Europa und auch in Wien drastisch. Die Sozialdemokratie hielt Einzug im Wiener Rathaus und war dort sofort die bestimmende Kraft. 1922 wurde die Stadt Wien ein selbstständiges Bundesland Österreichs. Neben zahlreichen Verbesserungen für die Menschen im täglichen Leben und der Schaffung von Arbeitsplätzen wurde auch ein Konzept für den kommunalen Wohnungsbau entwickelt. 1923 wurde dann das 1. Wiener Wohnungsbauprogramm unter dem Motto „Licht, Luft, Sonne für die Arbeiterschaft“ aufgelegt. Bis 1934 errichtete die Gemeinde Wien 64.000 Wohnungen in 400 Gemeindebauten, die Platz für 200.000 Menschen boten. Im 1. Schritt wurden von den Architekten 2 Grundrisstypen entwickelt, eine 35qm-Wohnung mit einem Zimmer, Küche, Vorraum und WC sowie einer 45qm-Wohnung mit zwei Zimmern, Küche, Vorraum und WC. Später wurden diese Grundrisstypen der Wohnungen schrittweise bis auf 75 qm vergrössert und dann auch zumeist mit Balkonen ausgestattet. Zur Stärkung der Gemeinschaft in den Gemeindebauten dienten gemeinschaftlich genutzte Räume wie Gemeinschaftsküchen, Bäder und Waschküchen, aber auch Büchereien und medizinische Einrichtungen, z. B. eine Zahnklinik im Karl-Marx-Hof.

Ein nächster Punkt an diesem Vormittag war ein Besuch beim Magistrat der Stadt Wien, Abteilung Wohnbauforschung, wo Susanne Bauer über „Soziales Wohnen heute – Strukturen, Aufgaben und Konzepte der Stadt Wien für Wohnungsbau und Stadtentwicklung“ referierte.

Die Stadt Wien hat derzeitig etwas mehr als 1,8 Mill. EinwohnerInnen und soll laut Prognosen bis 2025 auf über 2,0 Mill. EinwohnerInnen anwachsen, d. h. die Stadt wird in den nächsten Jahren jährlich um 1,2% wachsen.

Die Wohnungsstruktur in Wien gliedert sich wie folgt: 33% aller Wohnungen sind in privatem Besitz, 20% sind im Besitz von Genossenschaften, 25% im Besitz der Gemeinde und 12% sind Wohneigentum. Die Verteilung sozialgebundener Wohnungen erstreckt sich über das gesamte Stadtgebiet. So besitzen 10% aller Wohnungen im 1. und im 8. Bezirk eine Sozialbindung, 11-25% im 4.,6.,7.,9. und 18. Bezirk und zwischen 26 und 33% im 2.,3.,5.,13.,14.,15.,16. und 17. Bezirk. Die Mieten in Gemeindebauten betragen im Bestand 6,17 € und in Neubauten 7,83 €, in geförderten Wohnungen bei Wiedervermietung 7,60 €, und 8,76 € bei Neuvermietung, alle inkl. Betriebskosten. Der Wohnungsbestand verteilt sich  nach Bauperioden in folgende Bereiche: 30% aller Wohnungen wurden vor 1919 gebaut, 9,8% entstanden zwischen 1919 und 1944, 11% zwischen 1945 und 1960, 12,9% zwischen 1961 und 1970 und 36,4% zwischen 1971 und 2011. Derzeitig befinden sich 220.000 Gemeindewohnungen im Bestand der Stadt Wien. Das Jahreseinkommen für den Zugang zu einer geförderten oder einer Gemeindewohnung darf für einen 1-Personen-Haushalt 44.700 €, einen 2-Personen-Haushalt 66.600 €, einen 3-Personen-Haushalt 75.360 € und für einen 4-Personen-Haushalt 84.130 € nicht übersteigen. Bei jeder weiteren Person erhöht sich der Betrag um 4.910 €. Alle Einkommenszahlen beziehen sich auf das Netto-Einkommen. Das „Wiener Modell“ lässt sich heute wie folgt beschreiben: Es gibt keine Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände, Miete als langfristig sozial gebundene Wohnversorgung verhindert „Immobilienblasen“ und sorgt für Leistbarkeit, eine aktive Grundstückspolitik und sozial verträgliche Sanierung im Rahmen der „sanften Stadterneuerung“.

Das  Nachmittagsprogramm begann mit einer Führung durch den Karl-Marx-Hof. Die Anlage wurde zwischen 1927 und 1933 errichtet. Offiziell eröffnet wurde das Gebäude am 12. Oktober 1930 vom damaligen Bürgermeister Karl Seitz. Architekt des Bauwerks war Stadtbaumeister Karl Ehn, ein Schüler Otto Wagners. Ursprünglich beinhaltete der Karl-Marx-Hof 1.382 Wohnungen und bot Platz für 5.000 Menschen, heute sind es durch Zusammenlegungen noch 1.272 Wohnungen. Er verfügte über zwei Wäschereien, zwei Bäder mit 20 Wannen und 30 Duschen, zwei Kindergärten, eine Zahnklinik, eine Mutterberatungsstelle eine Bibliothek sowie ein Jugendheim. Des Weiteren gab es eine Apotheke, ein Postamt und 25 Geschäftslokale.

Der Karl-Marx-Hof ist 1 km lang und wurde aufgrund seiner Ausdehnung auch „Ringstrasse des Proletariats“ genannt. Wie andere Gemeindebauten seiner Zeit auch, besitzt der Marx-Hof „Festungscharakter“. Ausdruck dafür sind z. B. die Torbögen, die kleinen Fenster und auch die strategisch wichtige Lage an einer Einfahrtstraße. Im Februar 1934 war der Karl-Marx-Hof neben anderen ein Zentrum des Widerstands gegen den Austrofaschismus.

Fortgesetzt wurde das Nachmittagsprogramm mit einem Besuch und einer Führung durch den Karl-Seitz-Hof. Diese zwischen 1926 und 1933 entstandene Wohnanlage wurde von Architekt Hubert Gessner als Wohnen in der Gartenstadt konzipiert. Hubert Gessner war in der damaligen Zeit einer der führenden Wohnungsbau-Architekten.  Ursprünglich verfügte der Seitz-Hof über 1.173 Wohnungen. Der Karl-Seitz-Hof gehörte neben dem Karl-Marx-Hof u. a. zu den Repräsentationsbauten der regierenden Sozialdemokraten. Auch im Seitz-Hof gab es im Februar 1934 erheblichen Widerstand gegen die Faschisten.

Zum Abschluss des Tages stand noch ein Besuch in einem neueren Gemeindebau, dem Heinz-Nittel-Hof an. Dieser von Architekt Harry Glück entworfene Bau wurde 1982 eröffnet und war ein Vorzeige-Bauwerk des Roten Wien der 1980er Jahre. Das nach dem von Terroristen 1981 ermordeten Wiener Stadtrat benannte Gebäude umfasst 1.430 Wohnungen. Zur Ausstattung der Anlage gehören ein Schwimmbad auf dem Dach, Sauna, Fitness- und Kinderspielraume sowie großzügige Loggien. In zwei von vier Wohnblöcken wurde die FPÖ bei der letzten Wien-Wahl stärkste Kraft, in einem erreichte sie mehr als 60%.

Der 3. Tag begann am Vormittag mit einer Einführung in die Grundkonzeption und die Idee des „Masterplans Seestadt Aspern“ am Stadtmodell und einer anschließenden Begehung des neuen Stadtteils. Auf einem ehemaligen Flugfeld entstehen auf 240 ha derzeitig 10.000 Wohnungen und 20.000 neue Arbeitsplätze. Für die Verwaltung in Wien ist es wichtig, dass ein qualitätsvoller öffentlicher Raum mit lebendigen Erdgeschosszonen entsteht. Es wird dort eine Funktionsmischung von Arbeit und Wohnen geben und Kleinteiligkeit und Vielfalt sollen die Gestaltung des Stadtteils bestimmen. Zurzeit werden Ladenlokale von der Stadt angemietet, um sie dann nach Bedarf zu vermarkten (z. B. an Bäcker, Metzger, Friseure), um eine Nahversorgung zu sichern. Die Mehrzahl der entstehenden Wohnungen sind öffentlich gefördert, alle Wohnungen besitzen Niedrig-Energie-Standard. Mit der Innenstadt ist die Seestadt über eine U-Bahn sowie über eine Straßenbahn verbunden.

Fortgesetzt wurde das Programm durch einen Vortrag zum Stadtentwicklungsplan 2025 - „Smart City Wien“. Derzeitig entstehen in Wien 1/3 aller geförderten Neubauwohnungen als SMART-Wohnungen. Diese Wohnungen sind kompakt und flächenoptimiert errichtet. Zielgruppe sind junge Familien, Alleinstehende, aber auch Senioren, die sich räumlich verkleinern wollen. Die Miethöhe dieser Wohnungen gleicht der in den neuen Gemeindebauten. So kostet eine 1-Zimmer-Wohnung max. 40 qm max. 300 €/ Monat und 2400 € Eigenmittelbeitrag, eine 2-Zimmer-Wohnung max. 55 qm max. 412,50 €/ Monat und 3.300 € Eigenmittelbeitrag sowie eine 3-Zimmer-Wohnung max. 70 qm max. 525,50 €/ Monat und 4200 € Eigenmittelbeitrag.

Als nächstes stand ein Besuch der Werkbund-Siedlung auf dem Programm. Diese wurde zwischen 1930 und 1932 unter der künstlerischen Leitung des Architekten Josef  Frank für die städtische Wohnbaugesellschaft Gesiba von verschiedenen Architekten errichtet. Im Vordergrund bei der Errichtung stand die Wirtschaftlichkeit auf engstem Raum.

Abgeschlossen wurde der Tag mit einer Begehung der Siedlung Lockerwiese. Diese zwischen 1928 und 1932 unter der Regie von Architekt Karl Schartemüller erbaute Siedlung umfasste mehr als 750 Wohneinheiten. Sie gilt nach dem Karl-Seitz-Hof als die zweitgrößte Gartenstadtsiedlung in Wien. Auch bei dieser Siedlung war die städtische Wohnbaugesellschaft Gesiba Bauherrin.

Verwaltung, Bewirtschaftung und Sanierung des kommunalen Wohnungsbestandes“ waren die Themen zu Beginn des 3. Tages bei der Abteilung „Wiener Wohnen“ des Magistrats der Stadt Wien. In diesem Vortrag wurde noch einmal auf die Geschichte des Wiener Gemeindewohnungsbaus eingegangen. Finanziert wurde das 1923 gestartete Wohnungsbauprogramm durch eine Wohnbausteuer, die zweckgebunden für die Errichtung von Wohnbauten verwendet wurde. Die Wohnbausteuer war gestaffelt nach Größe der Wohnungen: je größer die Wohnung, desto höher die Steuer. 82% der Wiener Bevölkerung entrichteten 22% der Steuern. Die teuersten 0,5% der Wohnungen brachten 45% der Wohnbausteuer. In den folgenden Jahren deckte die Wohnbausteuer rund 40% der gesamten Wohnbaukosten. Der Rest wurde u. a. aus Luxussteuern (z. B. erhoben auf  den Besitz von großen Fahrzeugen oder auch auf die Beschäftigung von Hauspersonal) finanziert. Mit den Luxusausgaben der Wohlhabenden wurde die Grundversorgung der breiten Bevölkerung finanziert, ein Grundanliegen der damaligen Wiener Stadtregierung.

In der Zwischenkriegszeit entstanden ca. 64.000 Wohnungen, teils in großen Wohnhöfen wie dem Karl-Marx-Hof mit 1.400 Wohnungen, aber auch in kleineren Anlagen wie dem Reumann-Hof mit 500 Wohnungen. Gemeinsam ist allen in der damaligen Zeit entstandenen Wohnungen die hervorragende Lage im Stadtgebiet. Die Miete in diesen Wohnungen machten ca. 6-8% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens aus. Mit den sozialen Reformen wurde Wien zu einem Vorbild für ganz Europa. Heute ist die Gemeinde Wien die Kommune mit dem weltweit größten Immobilienbesitz.

Zum Abschluss des Vormittags gab es noch einen Vortrag zum Thema „Integration und Diversität – Wiener Zugänge und Maßnahmen“ in der Abteilung Integration und Diversität des Magistrats der Stadt Wien. In dieser Stadt leben Menschen aus ca. 180 Nationen. Jeder 2. Wiener oder Wienerin besitzt einen Migrationshintergrund. Die Mehrzahl der Migranten sind Deutsche (ca. 55.000), Türken (78.000) und Serben (150.000). In zehn Wiener Bezirken beträgt der Anteil der Zugewanderten 40% und in einem ca. 53%.

1992 wurde der Wiener Integrationsfond gegründet. Dieser ist vom Status her zwischen einer NGO und der Verwaltung angesiedelt. Seit 1996 gibt es einen Integrationsstadtrat. 2004 kam es zur Gründung der Abteilung „Integration und Diversität“ beim Magistrat der Gemeinde Wien.

Zuständig für die Grundversorgung von Geflüchteten ist der Fond „Soziales Wien“, der Menschen in schwierigen Lagen berät. Im Mai letzten Jahres lebten nur noch 2.000 Geflüchtete in Massenunterkünften. Geflüchtete Kinder sollen innerhalb von neun Monaten in Jugendkollegs auf den regulären Schulbetrieb vorbereitet werden. Koordiniert werden die Hilfen für Geflüchtete, aber auch für Zuwanderer aus südosteuropäischen EU-Staaten in dem Programm „Start Wien“. In diesem finden sich insgesamt acht verschiedene Module für Zuwanderer und Geflüchtete.

Ein Abschlussgespräch unter den TeilnehmerInnen beendete das Programm dieser Studienfahrt.

Peter Klein