Dokumentation „Spirale der Angst“ im Sozialstaat: Antreiber und Getriebene

Ingo Bode referierte zur politischen Psychologie

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05.09.2018

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Ungleichheit / Soziale Kämpfe

Beim Veranstaltungsabend des Linken Forums zum Thema „Angst im Sozialstaat“ wurde dem engagierten Paderborner Gewerkschafter und Friedensaktivisten Kurt Zenker, der unlängst seinen 90. Geburtstag feierte, eine besondere Ehre zuteil: Erstmalig verlieh ihm das Linke Forum die Ehrenmitgliedschaft. Zenker habe „sein Herz am richtigen, linken Fleck“. Der Geehrte bedankte sich, indem er auf die herausragende Rolle des Linken Forums für kritisches politisches Denken und Debattieren in Paderborn hinwies.

Um diesem Anspruch gerecht zu bleiben, referierte der Kasseler Soziologieprofessor Ingo Bode über die grundlegende Emotion der Angst als politisches Steuerungsinstrument. An Beispielen des massiven Sozialabbaus durch die so genannten „Agenda-Refomen“ unter Kanzler Schröder oder drastischen Eingriffen in die Rentenansprüche stellte Bode die Frage: „Woher kommt die Akzeptanz der Menschen für Dinge, die sie eigentlich nicht wollen?“ Die Antwort, die Bode, gemeinsam mit seiner Kollegin Sigried Betzelt auf der Basis umfangreicher empirischer Untersuchungen geben, lautet: Neue strukturelle Unsicherheiten führten zu Ängsten, die, nach sozialer Schichtzugehörigkeit differenziert, als existenzielle Bedrohung empfunden würden.

Daraus resultierten häufig die angstgetriebene „Flucht nach vorn“, eine gesteigerte Anpassungs- und Hinnahmebereitschaft oder Handlungslähmung und Fatalismus. Lautstarker Protest sei als dauerhafte Reaktionsform eher unwahrscheinlich. „Der Abrutsch in die  Grundsicherung wirkt auf Menschen in Normalbeschäftigung stark verängstigend, ebenso der potenzielle Absturz in die Erwerbslosigkeit, egal bei wem. Die Konfrontation mit der Arbeitsverwaltung ist nicht selten mit Ängsten besetzt, was dazu führt, dass viele Menschen auf Leistungen verzichten“, diagnostizierte Bode.

Eine fatale „Spirale der Angst“ im Sozialstaat habe sich, im Unterschied zum eher wohlfahrtsstaatlichen Modell der 1960er und 70er Jahre, herausgebildet: Um „Schlimmeres zu vermeiden“, so die offizielle Begründung, werde Angst für den Abbau sozialstaatlicher Leistungen instrumentalisiert. Die darauf folgende faktische „Entsicherung“ (etwa durch die rot-grünen „Agenda-Reformen“) produziere wiederum neue Ängste, die sich politisch für weitere „Reformschritte“ ausnutzen ließen.    

Am Beispiel der Altersvorsorge machte Bode deutlich, wie die „demographische Keule“ immer wieder herhalten müsse für den weiteren Abbau von berechenbarer Sicherheit durch Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversichrung. Die Folge sei, dass das Alter quer durch alle sozialen Gesellschaftsschichten als Bedrohung empfunden werde. Für Menschen, die sich keine Zusatzvorsorge leisten können und in den unteren Zonen der Arbeitsgesellschaft sei Altersarmut das vorprogrammierte Schicksal. Aber auch für Gruppen aus der gesellschaftlichen „Mitte“ mit schlecht funktionierender Zusatzvorsorge sei das Risiko des drohenden Statusverlustes sehr präsent – nicht nur bei Finanzkrisen und Versicherungspleiten.

Die politische Mobilisierung von Angst und die wachsenden Unsicherheiten trieben die Menschen teilweise in Richtung Rechtspopulismus. Ein paradoxes Phänomen, denn Rechtsparteien haben zur Lösung der Probleme nichts beizutragen, im Unterschied zur politischen Linken. Bode nannte als Gründe für die politische Rechtsentwicklung die „Macht einfacher Lösungen“, ein (neu-)rechtes „Klassenbündnis“ und die Spaltungen linker Milieus. Ob sich letztere durch eine Sammlungsbewegung wie „Aufstehen“ wenigstens teilweise überwinden ließen, das müsse man weiter beobachten, sagte Bode.

Carsten Schmitt