Publikation Parteien- / Bewegungsgeschichte - Gesellschaftliche Alternativen - Staat / Demokratie - 1968 1968 als umkämpfter Erinnerungsort (und als Zurechnungsadresse)

Ein Beitrag zu einer aktuellen geschichtspolitischen Debatte von Clemens Knobloch

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AfD reagiert mit alten CDU-Slogans auf die antifaschistische Demonstration «Kein Raum der AfD! Kein Raum für rechte Hetze!» in Berlin-Weißensee 2017, antifa-nordost.org

[1] Vorab

1968 ist auch 50 Jahre nach dem Bezugsdatum ein umkämpfter und umworbener Erinnerungsort. Wer dieses Jahr im Zeichen von 1968 an die Öffentlichkeit drängt, der hat gute Chancen auf mediale Aufmerksamkeit. Kein Wunder, dass die üblichen Verdächtigen einmal mehr zuschlagen.  Und dass neue Akteure auf den Markt der Aufmerksamkeit drängen.

Einmal mehr treten die Zeitzeugen in den Ring, mit der Autorität derjenigen, die dabei gewesen sind. Ihre Rolle im Diskurs ist (mit der treffenden Formulierung von Sylvia Bovenschen) die des „Hüters der Ereignisse“. Als Historiker sind sie immer auch mit ihren gegenwärtigen Selbstbildern und Identitäten im Spiel – aber das trifft selbstverständlich auch auf die später geborenen Historiker zu, die sich gegenüber den „Dabeigewesenen“ profilieren müssen.

Wolfgang Kraushaar, Inhaber eines zeitgeschichtlichen Großbetriebs beim Hamburger Institut für Sozialforschung, ist dick im Geschäft. Vom Zeitungsaufsatz (SZ vom 25. April 2018) über das Reclambändchen aus der Reihe „100 Seiten“ bis zum (angekündigten) illustrierten Vierbänder über „Die 1968er Bewegung international“ ist er überall dabei. Und dabei haben wir den Klett-Cotta-Band über „Die blinden Flecken der 1968er Bewegung“ noch nicht einmal erwähnt. Heinz Bude, ebenfalls Zeithistoriker und ebenfalls aus dem Umkreis des Hamburger Instituts stammend, hatte bereits in den 1990er Jahren unter dem Titel „Das Altern einer Generation“ längere Interviews mit einigen Protagonisten von 1968 veranstaltet und ausgewertet, die er nun unter dem hübschen Titel „Adorno für Ruinenkinder“ recyclet und neu auswertet. Leggewie (2018) gibt seine Version vom zwischenzeitlich heimatlosen Antikapitalismus unter dem Titel „Kein Sozialismus ist auch keine Lösung“. Krippendorf (2008) erzählt die Geschichte von der Warte des kämpferischen Politikwissenschaftlers, der mit einigen Kollegen das Berliner OSI erobert und zu einem Zentrum linker Theoriebildung macht.

Neu auf den Markt drängen feministische Deutungen von 1968. Adamczak (2017) argumentiert in ihrem Vergleich zwischen der Oktoberrevolution 1917 und 1968 (ein Vergleich, der aus meiner Sicht nicht ganz unproblematisch ist!), 1968 sei in erster Linie einer Bewegung der Verflüssigung und Auflösung erstarrter Verhältnisse zwischen den Geschlechtern gewesen, eine Bewegung der Pluralisierung und Differenzierung homogenisierter Beziehungsformen (Tenor: Von der Großfamilie und der Kleinfamilie über die WG zum Single-Haushalt).  Auch Hodenberg (2018) behauptet im Rückblick, 1968 sei in Wirklichkeit weiblich gewesen, wogegen Kraushaar (2018) m.E. zurecht daran erinnert, dass eine starke Frauenbewegung sich erst 1971 im Kampf um die Abschaffung des § 218 konfiguriert habe. Die größte Demonstration gegen den Abtreibungsparagraphen habe 1975 der Kommunistische Bund Westdeutschland auf die Straße gebracht, der nicht gerade ein Hort des Feminismus gewesen ist.

Anders als vor 10 Jahren zum 40. Jahrestag sind heuer die medienöffentlichen Umkodierungsversuche auf Krawall, Straßenschlachten, RAF, ja auf „linken Faschismus“ (hierzu Bollenbeck 2008), jedenfalls aus den Mitte-Medien weitgehend verschwunden. Vor 10 Jahren hatte sich noch ein Götz Aly in der Frankfurter Rundschau an solchen (aufmerksamkeitspolitisch natürlich äußerst vorteilhaften!) Versuchen beteiligt. Heute ist dieser Motivkreis in die Medienszene der Neuen Rechten abgewandert, deren Reichweite sich freilich seither vervielfacht hat. Wer will, kann sich da das Lied von der „rot-grün versifften 68er Republik“ anhören.

Kurz: Lernen lässt sich aus der erneuten Geschäftigkeit um 1968 vor allem, dass die Optik der Gegenwart mit ihren aktuellen Fronten und Gruppierungen in jeden Historisierungsversuch (mehr oder minder unkontrolliert) einschießt. 1968 ist eine Zurechnungsadresse geworden (und das schon seit 1978). Das versteht sich, weil man das Vergangene ja durchaus im Lichte dessen betrachten kann und soll, was später daraus geworden ist. Damit man aber die Dinge nicht zu gradlinig in den Realität gewordenen Folgen auflöst, ist es vielleicht nützlich, mit ein paar ganz evidenten Widersprüchen zu beginnen. In diesen Widersprüchen bleibt am ehesten erhalten, was 1968 ausgemacht hat. Wenn wir indessen schauen, was sich historisch durchgesetzt hat von den 1968er Anliegen, dann werden wir sehen: Es war in erster Linie das, was mit der Modernisierung und Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus einigermaßen kompatibel war.

 

[2] Zur Szene

Zur „Szene“ der späten 1960er Jahre gehört die Erfahrung (und Gewissheit), dass an vielen Ecken und Enden der Welt vieles in Bewegung geraten ist. Wilde Streiks erschüttern die europäischen Ökonomien – und das, nachdem die Gewerkschaften bereits in den frühen 60er Jahren erhebliche Lohnzuwächse erkämpfen konnten. Es war weltweit „viel los“, schreibt Adamczak (2017: 11): Befreiungsbewegungen, antikoloniale Regimewechsel, die kubanische Revolution, der Krieg in Vietnam und dann in ganz Indochina, Chile, Angola, Mozambique, die Revolte der Schwarzen in den USA, das Free-Speech-Movement in Berkeley, die Zerschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes.

Aber nicht nur in der großen Politik, auch sonst war „viel los“: Eine rebellisch anmutende Popkultur mit großen Festivals („Three days of love, peace, and music“), wildes experimentelles Kino, allerlei Subkulturen mit Drogen, allenthalben blühen Kinderläden, Elterninitiativen, antiautoritäres Gedankengut, alternative Lebensformen, WGs. Schon länger ist die literarische Kultur „engagiert“. Nichts bleibt, wie es ist. Das ist der vorherrschende Eindruck, das Lebensgefühl. Die ganz große Weltpolitik und die ganz kleinen Emanzipationen aus den Zwängen des Alltagslebens, all das rückt ziemlich eng zusammen (um dann freilich in den 1970er und 1980er Jahren wieder auseinanderzulaufen). Und der vorherrschende Eindruck, das vorherrschende Zeitgefühl, ist: Es geht voran, mehr Leute mischen sich ein. In Frage gestellt wird so ziemlich alles Überkommene: Staat, Familie, Autorität, Kultur. Das (inzwischen längst wieder normalisierte) Stigmawort für alles Etablierte wird das Adjektiv bürgerlich.

Ein paar Widersprüche:

[a] 1968 kommt als „Studentenbewegung“, das ist jedenfalls die erste Medienchiffre, die zirkuliert (vielleicht auch nur, weil man Studenten – im Vergleich zur „arbeitenden Bevölkerung“ - leicht als privilegierte Müßiggänger kodieren kann, bis heute übrigens): die sprichwörtliche „kleine radikale Minderheit“. Tatsächlich dürfte es vorher und nachher in der deutschen Geschichte nie wieder öffentliche Milieus gegeben haben, die stärker entmischt und vielfältiger waren als die Szenen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Es gab ja nicht nur den SDS, sondern alle möglichen Treffs, Lokale, Szenen, in denen (außer Schülern und Studenten) Subkulturen, Randgruppen, Politisierte aus allen möglichen Soziallagen sich trafen, tranken und diskutierten – allerdings ganz überwiegend aus der jüngeren Generation.

[b] Charakteristisch für „die 68er“ ist einesteils eine heute ganz unglaublich anmutende Obsession mit Fragen der Theorie, der Analyse, der „richtigen“ Modellbildung, ein Intellektualismus mit eingebautem Überbietungsgestus und mit Widerlegungsobsessionen. Es dominiert der Typus des „universellen Besserwissers“. Und es scheint einmal mehr um die „reine Lehre“ zu gehen. Das Bewusstsein (es gibt immer ein richtiges und ein falsches, das sind zweifellos Folgen der Frankfurter Schule)  wird regelrecht zum Fahnenwort. Man schlägt sich hoch detaillierte Theorien um die Ohren. Die Buchauflagen intellektuell höchst anspruchsvoller Theorietexte betrugen leicht das Hundertfache heute üblicher Zahlen. Konservative Analytiker (Kondylis 2001 und öfter) sehen in diesem Habitus eine Endmoräne des zutiefst bildungsbürgerlichen Weltbildes, das gerade die marxistischen Meinungsführer der 68er geprägt habe (und ich meine: Kondylis hat recht).

Was allerdings auch nicht recht zusammenpassen will, das ist die anti-autoritär selbstbewusste Kritikbereitschaft der intellektuellen 68 gegenüber allem und jedem und ihr Vertrauen in die Autorität der Schriften und Theorien einiger intellektueller „Überväter“ (Bollenbeck 2008) wie Marx, Engels, Freud. Zu denen sich dann in den maoistischen Kleinmilieus der 70er Jahre noch Mao Tse Tung und Enver Hoxa gesellten!

Auf der anderen Seite und nicht minder charakteristisch war der ausgeprägte Hedonismus in den diversen Szenen. Man isst und trinkt gerne gut, fährt nach Frankreich und Italien, ist Konsumpionier auf vielen Feldern und schätzt das gute Leben. [Das Etikett „Kohlsuppenkommunist“ habe ich mir mal zugezogen von einem äußert genussfreudigen 68er].

Schon in den 70er (und erst recht n den 80er) Jahren trennen sich diese Szenen. Die asketischen Kämpfer gehen „in die Betriebe“, versuchen richtige Arbeiter zu werden - meist im Umkreis der (maoistischen, „anti-revisionistischen“) K-Gruppen, aber durchaus auch in der DKP. In den frühen Öko-Milieus der späten 70er gibt es sowohl Asketen als auch Genießer. Später kommt die Rede von der „Toscanafraktion“ auf etc., und aus den kargen Bioläden der Frühzeit werden kulinarische Tempel.

Eng verbunden mit der Theorieobsession der 68er war ihre durchaus beträchtliche Breitenwirkung an den Universitäten, wo zahlreiche ihrer Protagonisten alsbald Karriere machen. Das wurde durch den Umstand erleichtert, dass zeitgleich der kräftige Ausbau und Neubau der westdeutschen Universitäten erfolgte – und deren soziale Öffnung. Ergo wurde viel neues Personal gebraucht und eingestellt. Bis in die 90er Jahre gab es in den Geistes- und Sozialwissenschaften starke linke und auch marxistische Positionen (hierzu genauer Lauermann 2008).

Der (nur auf den ersten Blick) widersprüchliche Mix aus einer ausstrahlungsstarken und selbstbewussten Subkultur und einer politisierten und kämpferisch-antiautoritären Intelligenz ist verantwortlich für die originellen und spektakulären politischen Kampformen der frühen 68er: Sit-ins, Blockaden, das Übernehmen und Umdrehen öffentlicher Veranstaltungen, die Revitalisierung der Traditionen des zivilen Ungehorsams, schlagende Sprüche, Parolen, politisierte Konzerte und Kulturveranstaltungen etc. Diese Lust an der politischen Aktion, am kollektiven Handeln im emphatischen Sinne des Wortes, an der Unterbrechung der „normalen“ Abläufe, hat allein Hannah Arendt (1972) an der Studentenbewegung gesehen und analysiert.

[c] Zur Theorieobsession in erheblichem Widerspruch stehen die zweifellos dominierenden moralischen Antriebskräfte der 68er Bewegung. Empörung über den US-Krieg in Vietnam, über Napalmangriffe auf wehrlose Dörfer (die Bilder trug das Fernsehen in jedes Wohnzimmer), Empörung über den Schah von Persien (und seine Jubelperser-Schlägertruppe), Empörung über die weiter nach oben führenden Karrieren zahlloser NS-Täter, Empörung über die Bigotterie der Elterngeneration, den Mord an Benno Ohnesorg, über die Springer-Hetzpresse etc. Das eklatante moralische Versagen der Elterngeneration erzeugt einen ausgeprägten und reaktiven Moralismus.

[d] Im einigermaßen widersprüchlichen Motivmix der Akteure von 1968 findet sich immer neben der „großen Politik“, deren Formen demokratisiert, den etablierten Eliten entrissen, durch Beteiligung weiterer Kreise kontrolliert werden sollten, auch die „Arbeit am Selbst“. Unter den Stichworten „Emanzipation“, „Selbstverwirklichung“ etc. sollen die eigenen Bedürfnisse, Wünsche, das eigentliche Selbst freigelegt werden. Hier ist Kraushaar (2018) durchaus zuzustimmen.

 

[3] Drei Zugänge

Der Soziologe Helmut Schelsky war ein kluger Mann. Als die CDU sich im Bundestagswahlkampf 1980 anschickte, die alten „Freiheit statt Sozialismus“- Plakate aus dem Keller zu holen, da gab er stattdessen einen Rat, der Zukunft hatte. Man solle doch besser, da nun einmal die von den Konservativen als gemeinschaftsfeindlich und hedonistisch gegeißelte „Selbstverwirklichung“ des Individuums einen hohen und allgemein akzeptierten Wert bilde, das freie Unternehmertum als Inbegriff einer solchen erfolgreichen „Selbstverwirklichung“ oder „Emanzipation“ präsentieren und gewissermaßen programmatisch und verbindlich machen. Das hat man 1980 noch belächelt. Als dieser Rat schließlich auf der ganzen Linie von den Inhabern politischer und ökonomischer Macht beherzigt wurde, war Schelsky schon lange tot. Die 80er Jahre waren das Trainingslager dieser Machttechnik, der Zusammenbruch des Staatssozialismus war ihre Bewährungsprobe. Seitdem haben wir sie am Hals und wissen nicht mit ihr umzugehen. Wir sind umstanden von den Wiedergängern unser eigenen Parolen: Für „Kreativität“, „Autonomie“ und „Praxisrelevanz“ brauchen wir nicht mehr zu kämpfen. Der Staat und die Wirtschaft fordern diese Eigenschaften von uns. „Aus der Hochschulreform, die die Studenten einmal gefordert hatten, war eine Hochschulreform geworden, mit der die Regierung drohte“, schreiben Heinzen & Koch (1985: 49). Und seit den 90er Jahren empfiehlt selbst die bayrische „Kommission für Zukunftsfragen“ (unter Beteiligung von Ulrich Beck) den politischen und wirtschaftlichen „Entscheidungsträgern“ (wie es so schön heißt) das Leitbild des unternehmerischen Selbst als absolut einwandsimmune Zukunftsfigur (Bröckling 2007: 57). Und in den vergangenen 10 Jahren ist das Lied mit den emanzipatorischen Leitthemen des neuen Unternehmertums immer schriller geworden: kreativ, innovativ, divers und vielfältig, autonom, start up, Gründer – das müssen wir heute mehr oder weniger alle sein. Kein Zweifel: Der neoliberale Selbstsorge-Imperativ ist ein (uneheliches) Kind der 68er, mit Vergnügen adoptiert von den Propagandisten des unternehmerischen Selbst, die den konsumistischen Hedonismus ebenso zu schätzen wissen wie die Bereitschaft, lebenslang für den eigenen Markterfolg zu lernen – oder besser: zu strampeln.

Da wir den Salat nun einmal haben, lautet die Frage, wie wir ihn uns angerichtet haben (oder wer ihn uns angerichtet hat). Dieser Frage kann man sich auf verschiedene Arten nähern (bitte um Entschuldigung für das Proseminarhafte dieser Einleitung):

Drei Zugänge  zur Analyse und Beurteilung von 1968 möchte ich stichwortartig unterscheiden. Folgende Titel schlage ich vor:

(1) Der Kreuzweg, die Stationen der Brechung, die aus den (mehr oder weniger revolutionären) Wellen von 1968 ein kaum noch wahrnehmbares Kräuseln der Wasseroberfläche gemacht haben;

(2) Nicht ganz zusammenfallend damit die Kette der medialen Rethematisierungen von 1968, vornehmlich zu medientypischen Anlässen wie den runden Geburtstagen 1988, 1993, 1998 und eben 2008 und 2018;

(3) Schließlich die Bestandaufnahme der strukturellen Veränderungen des Feldes (oder der Felder), in denen die 68er aktiv waren und denen sie ihre Wirkungsgeschichte verdanken.

Die Punkte (1) und (2) fasse ich stichwortartig zusammen und komme dann kurz auf Punkt (3) zu sprechen.

[4] Der Kreuzweg: Stationen demolierter Hegemonie bzw. 50 Jahre mediale Rethematisierung von 1968

-> In den frühen 70er Jahren ist immer noch „viel los“. Allerdings entmischen sich die zahlreichen Szenen und Strömungen der späten 60er zusehends. Bewegungen, Parteien, Bürgerinitiativen, teils mit sehr umfassenden, teils mit sehr punktuellen Zielen und Programmen. Es entsteht die Ökobewegung (mit zahlreichen Untergruppierungen), die Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung, in den späten 70ern dann die zwar lokale, aber mit erheblicher Ausstrahlung und Militanz operierende Bewegung gegen die Frankfurter Startbahn West, die DKP (68 gegründet) etabliert sich auf niedrigem Niveau, die maoistischen Parteien und Parteigründungsinitiativen auf noch kleinerem. Und, was sich als wichtig herausstellen wird: Es etabliert sich eine nicht unbedeutende alternative Wirtschaftsszene mit Bioläden, Biobauern, Aussteigerkommunen, alternativen Umzugskollektiven etc.

-> Die erste Station des eigentlichen Kreuzweges ist natürlich der „deutsche Herbst“ des „Terrorismus“ und der RAF. Der Staat nimmt die Feinderklärung an und weitet sie qua „Sympathisantensumpf“ auch auf studentische, akademische, kulturelle Milieus aus, die bislang mit den potentiellen Kosten und Risiken des Dagegenseins relativ wenig Erfahrung gesammelt hatten.

-> Im Jahr 1978 verbreitet sich nicht nur das Etikett „die 68er“ in der Öffentlichkeit, womöglich durch den Stichwortgeber Klaus Hartung, es formiert sich auch unter dem damals für durchaus provokant geltenden Titel „Mut zur Erziehung“ eine pädagogisch reaktionäre Fronde, die es in den Medien relativ weit bringt  Ich nenne sie hier nur als Symptom und Indiz dafür, dass der antiautoritäre Konsens gegen Ende der 1970er Jahre bröckelt und zerfällt, obwohl niemand daran zweifeln wird, dass die Folgen, die 1968 für die Kindererziehung in Schule und Familie hatten, nachhaltig und radikal waren.

-> Im Jahr 1985 markiert ein in der Studentenpopulation ziemlich gut verkauftes Buch (80.000 Exemplare im ersten Jahr) mit dem Titel „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“, die heiter-depressive Lebenserfahrung der 1955 bis 1965 geborenen, die mit den 68er noch Werte und Orientierungen teilten, aber nicht mehr deren sichere Aufstiegschancen. Die Wege nach oben sind inzwischen eng und verstopft. „Lebenslange Jugendstrafe“ drohte den Zuspätgekommenen, die auch damals schon das Leben bestrafte. Die nicht eingestellten Lehrer fuhren Taxi oder gründeten alternative Umzugsunternehmen. Am Ende dieser enttäuschten Erwartungen steht allerdings noch der trotzige Vorsatz, weiterhin links zu bleiben und den Mund aufzumachen.

-> Die nächste Station des Kreuzwegs wird bestimmt durch den ersten starken Schub für die diskursive Umkehrung der emanzipatorischen Motive. Es geht um die rasche Kommerzialisierung der bunt-kleinteiligen Alternativwirtschaft. Aus den Bioläden, Ökobauern und Umzugsklitschen werden Selbstunternehmer, die weißgott nicht mehr nur die Alternativszene adressieren. Dazu nur einen Satz von Bröckling: „Im Rückblick betrachtet erweisen sich die verschiedenen Ausfaltungen der Gegenkultur nach 1968 trotz ihrer antikapitalistischen Stoßrichtung als Labors unternehmerischer Verhaltensorientierung. Die Versöhnung von Leben und Arbeiten, welche die Alternativbewegung proklamierte, realisiert sich für die neuen Selbständigen als Ausgreifen der Arbeit in alle Lebensbereiche. Wichtig für die Genealogie des unternehmerischen Selbst ist der Hinweis auf die gegenkulturellen Wurzeln der neuen Selbständigkeit insbesondere, weil er repressionstheoretische Erklärungen der unternehmerischen Anrufung unterläuft.“ (Bröckling 2007: 58)

-> 1988, im 20. Jahr nach der Studentenrevolte, war die veröffentlichte Meinung milde und versöhnlich. In Moskau regierte ein gewisser Gorbatschow. Man würdigte die Studentenbewegung als ein inzwischen historisches Stück der turbulenten Modernisierungsgeschichte des Landes.

-> 1989/90, Kollaps, Implosion des Staatssozialismus (und wie die Sprachregelungen heißen mögen) nenne ich nur. Der „reale Sozialismus“, im Westen wahrgenommen als immer doch etwas monströser Klotz am Bein der Neuen Linken, bezeugte im Nachhinein, dass er doch auch erheblichen Auftrieb gegeben hatte. Aber da hatten die 68er den Kopf schon unter Wasser.

-> Im Jahre 1993, es war das 25. Jahr des Kreuzweges, veranstalteten diverse Massenmedien Foren mit Titeln wie „Sind die 68er an allem schuld?“ In diesem Jahr durften alle Schnellhistoriker ihre Notdurft an den 68ern verrichten. Titel wie der genannte indizieren, dass es sogar den empfindlicheren Vertretern der journalistischen Zunft zu viel wurde. In diesem Jahr, 1993, war die Repräsentanz der 68er in den Medien enorm, die Repräsentanz in der politischen Machtelite geradezu lächerlich gering. Da gab es den freiberuflichen Frankfurter Dezernenten für multikulturelle Angelegenheiten und den unaufhaltsamen hessischen Umweltminister. Gleichwohl titelte E. Fuhr in der FAZ (27.3.93): „Alle sind 68er“, um danach zu konstatieren, die Folgen von 1968 lähmten bis heute die Republik. Ihr „neototalitärer Kern“ (Hermann Lübbe) war ohne weiteres vereinbar mit ihrem pflichtfeindlichen „Hedonismus“ (Antje Vollmer), und auch das „vagabundierende Protestpotential“ (Kurt Sontheimer) war nicht ohne, und stand offenbar nicht im Widerspruch zum „intellektuellen Konformismus“ (E. Fuhr) der 68er. Kurz: Schon 1993 ging diskursiv eigentlich so gut wie alles mit den 68ern. Viel Steigerung schien nicht mehr möglich.

-> Fast unbemerkt vollzieht sich in den 90er Jahren die weitgehende Refeudalisierung der Elitenreproduktion, der Übergang zu lückenloser Selbstrekrutierung und die Abschließung höherer Positionen gegen Personen, die nicht über den rechten Stallgeruch verfügen (Michael Hartmann hat das im einzelnen untersucht). Das dürfte, obwohl medial völlig absent, die folgenschwerste (und wohl verflixt „nachhaltige“) Abwicklung der 68er gewesen sein. Sie ratifiziert den Statuswandel des reflexiven Bildungswissens von exemplarisch-exklusiv zur Selbstmarginalisierung im hegemonialen Konzert der Massendemokratie.

-> Mit Michel Houellebecq (und seinem Roman „Elementarteilchen“) nimmt sich dann (im 30. Jahr – 1998) ein neuer Kultautor der letzten verbleibenden Erfolgsgeschichte der 68 an: der „sexuellen Befreiung“, die freilich schon seit Röhls „Konkret“ und dem Flirt mit den  „Sankt-Pauli-Nachrichten“ nicht mehr ganz ungetrübt war. Nun geht es aber ernstlich zur Sache: Nachdem der Autor warenförmige Libertinage und Sexmarkt im ersten Schritt kulturkritisch vorführt, erklärt er sie im zweiten umstandslos für eine Folge von Emanzipation, Feminismus und 68ern. Diese Vorlage wird allenthalben mehr oder weniger dankbar aufgenommen.

Zur Kreuzweg-Station von 1998 gehört natürlich auch die rot-grüne Schröder/Fischer-Regierung mit dem Kosovokrieg und der (späteren) Agenda 2010. Hier gibt es die Lesarten: die 68er seien jetzt „angekommen“ in den höchsten Machtpositionen vs. die konträre, die man zusammenfassen könnte mit der Formel: „angekommen schon – aber in welchem Zustand!“ Erst in der gegenwärtigen und jüngsten Runde bringt Heinz Bude auch die Agenda 2010 als ein spätes 68er-Projekt ins Spiel (darüber spottet Kraushaar 2018).

-> Wir nähern uns rasch der Gegenwart: Die Schnellschießer unter den Feuilletonisten fangen bereits 2007 an, den nicht eben zahlreichen verbleibenden 68er Kreuzträgern auf ihre Dornenkronen zu schlagen und die Redeweisen und Deutungsmuster für den 40.  Jahrestag in Umlauf zu bringen. Nur Götz Aly trägt inzwischen nicht mehr das Kreuz, sondern seit 2007 das Bundesverdienstkreuz. Allen voran ist Steinfeld mit dem schönen Bild des „Scheinriesen“ 1968 (jedem Fan von Lukas, dem Lokomotivführer wohl vertraut), der als „Vollzugsbeamter der Modernisierung“ nur fortgeführt habe, was sich schon lange aufgebaut und angedeutet habe. Nur Exorzisten und Angeber kämen überein in der Riesenhaftigkeit des Kolosses 1968, der sich bei näherer Betrachtung als ganz mickriger Zwerg entpuppen soll.

-> Da in letzter Instanz alles öffentlich Abgewickelte mit dem NS enggeführt werden muss, konnte dieses Schicksal auch den 68ern nicht erspart bleiben. Den willigen Vollstrecker gibt (wie gesagt) 2008 Götz Aly in der FR (zugleich eine „Fähre“ beim Umbau der FR von der sozialliberalen Kritik zum Boulevard). Dazu ist kein Wort zu verlieren.

-> Der Rest baut im Jahr 2008 auf die Engführung von RAF-Terror und Studentenrevolte. Die BILD notiert, der Selbstbetrug der 68 beherrsche noch heute das Leben in Deutschland „bis in dessen letzte Fasern“: Staatsgläubigkeit, kryptosozialistische Versorgungssysteme, Selbsthass, Identitätsverlust, das sei das Erbe von 1968.

-> Was ist neu, wenn wir die gegenwärtige und letzte Station des Kreuzwegs im Jahr 2018 dazu nehmen? Nun, einiges ist bereits angeklungen: Das harte 68er-Bashing ist übergegangen auf die explizit rechten Medien, deren Expansion ziemlich ungebremst weiterläuft. Wenn wir die eher linke Rezeption betrachten, dann fällt auf, dass sie sich in zwei Linien zerlegen lässt. Einmal die (im weitesten Sinne) feministische, die es (im Einklang mit den im hegemonial liberalen Milieu durchweg erfolgreichen und moralisch durchgesetzten Gleichstellungsansprüchen von Frauen, sexuellen Minderheiten, alternativen Lebensformen, mit einer Umakzentuierung der ganzen 68er Bewegung) in diese Richtung versucht. Und zum anderen diejenigen Linken, die den 68ern gerade das zum Vorwurf machen: Ihre (angeblich) vorrangige Beschäftigung mit Kultur-, Minderheits- und Identitätsproblematiken, ihren raschen Abschied vom Klassenkampf und von der sozialen Spaltung (Didier Eribon, Luc Boltanski). All das habe dazu geführt, dass der rebellisch strömende Impuls von 1968 letztlich auf den Mühlen des modernen Konsumkapitalismus, des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) und der hedonistischen Massendemokratie gelandet sei.

Hierzulande war es der konservative politische Philosoph Kondylis (1991, 2001), der diese Lesart zuerst verbreitet hat. Mit Steinfeld (2007) taucht sie dann auch in den liberalen Medien auf. Und seit Eribons Rückkehr nach Reims hat sie (endlich!) die innerlinke Diskussion erreicht. Im Augenblick hat dieser „Kampf zweier Linien“ (um eine alte maoistische Formel neu zu beleben) in der Linken ein beträchtliches Spaltpotential. Was aber nicht recht verständlich ist: Wer Anspruch auf Meinungsführerschaft erhebt, der sollte in der Lage sein, emanzipatorische Minderheitenrechte und soziale Gruppen- und Klasseninteressen gemeinsam zu vertreten.

Im Wirtschaftsteil der liberalen Zeitungen finden wir 2018 ein mildes einerseits – andererseits. Piper (2018) würdigt den Beitrag „der Wohlstandskinder“ von 1968, sie hätten Deutschland offener und westlicher gemacht, aber eben auch einen „problematischen Antikapitalismus“ etabliert, eine (hier muss ich zitieren) „linke Sehnsucht nach umfassender Versorgung“ – was man angesichts des allseitigen Aktivismus der 68 nur als ziemlich postfaktisch-groben Unfug bezeichnen kann. Die 68er-Feindschaft gegenüber dem autoritären Staat haben die neoliberalen Propagandisten gerne für sich umdefiniert: nur eben so, dass es der Sozialstaat und der wirtschaftlich gestaltende Staat ist, den sie als autoritär kodieren. Also genau der Staat, den die 68er wollten.

Extrem witzig ist im Vergleich dazu die Medienstrategie von FOCUS (Fuhrer 2018), und die geht ungefähr so: Die 68er haben alles, was ihnen zugerechnet wird, von anderen abgekupfert: die Anti-Nazi-Masche, die Popmusik, die Emanzipation der Frau etc. Für alles gibt es Vorläufer (das muss man erst mal bringen und erst einmal widerlegen! Als ob es nicht für alles in der Welt „Vorläufer“ gäbe!). Schon 1968 sahen die 68er so etwas von alt aus! Wenn die Meinungsführerschaft auf die AfD übergegangen sein wird, dann wissen wir jedenfalls jetzt, dass der FOCUS das neue Zentralorgan sein wird.

 

[5] Was daraus geworden ist

Vieles von dem, was in seiner Gesamtheit 1968 ausmacht, ist (sagen wir) angekommen in der massendemokratischen Realität des neoliberalen Kapitalismus. Aus den rebellischen Sub- und Gegenkulturen sind florierende Geschäftszweige geworden, aus der Ökobewegung sind die Grünen hervorgegangen, die sich alsbald (unter tatkräftiger Mithilfe der Medien und der etablierten Parteien) in „Realos“ und „Fundamentalisten“ zerlegten. Mit Ströbeles Abgang aus dem Bundestag dürfte der letzte wirklich linke Grüne aus der Partei verschwunden sein. Schwieriger und weniger eindeutig liegen die Dinge bei den starken Ansätzen zu einer linken und emanzipatorischen Gegenöffentlichkeit, die für das Bild der 1970er Jahre nicht weniger prägend ist als der im Zeichen der RAF- und Terrorsympathisanten-Hysterie geführte staatliche Kampf gegen jede linke Meinungsführerschaft. An den Hochschulen ist die kämpferische Gegenöffentlichkeit in den frühen 1980er Jahren versandet. Und mit ihr auch der beinahe religiöse Glaube an die Macht des richtigen und kritischen Bewusstseins und der (alternativen) Theorie.

Was sich im Gegenzug etabliert in den 80er Jahren, das sind zahlreiche Bürgerinitiativen und Bewegungen mit konkreten politischen Anliegen (und dementsprechend reduziertem Theoriebedarf), am stärksten unter ihnen sicher die (in der gesamten Bevölkerung verankerte) Friedensbewegung, die die größten Demonstrationen in der Geschichte der BRD auf die Straße gebracht hat.

Die ganz normale Massendemokratie, die die 68er in Deutschland herzustellen halfen, ist just die gesellschaftlich-politische Ordnung, die für deren werthafte programmatische Überschüsse keine Verwendung mehr hat. Die ständigen Querelen um „Amerikanismus“ und/oder  „Antiamerikanismus“ der 68er verkennen darum, dass es in der Hauptsache  die ganz normale massendemokratische Kultur war, der man zum Durchbruch verhalf (und die naturgemäß von da, wo sie noch nicht durchgesetzt war, „amerikanisch“ aussah).

Intellektuelle weigern sich häufig einzusehen, „dass Ideen und Werte überhaupt in größerem Umfang nur wirken, indem sie eben ´verdreht´ und ´verfälscht´, indem sie also durch interessierte Interpreten verarbeitet werden“ (Kondylis 2001: 32). Das ist als Erkenntnis doch einigermaßen marxistisch, dass sich die Idee blamiert, wenn sie sich nicht dem Interesse verbinden lässt. Nun sind aber Marxismus und Sozialismus (neben vielem anderen) auch bildungsprogrammatische Projekte gewesen, deren Konjunktur und Wirksamkeit mit der allgemein-gesellschaftlichen Vorbildlichkeit von Bildungs- und Aufstiegs- und Aufklärungsideologien zusammenhängt. Kein Wunder, war doch der Dreischritt von Bildung, Aufklärung und sozialem Aufstieg die prägende Erfahrung für die 68er Generation. Und diese Erfahrung wird Modell für die 68er (ein Modell, das sich später, in der Rede von den „bildungsfernen Schichten“, gegen die Erben von 68 wenden lässt).

In echten und „normalen“ Massendemokratien etabliert sich aber ein Typus von kulturellem Pluralismus, der die Privilegierung einer bildungsbürgerlichen Kultur beseitigt. Und so gesehen wäre der Hegemonieverlust der 68er nicht so sehr ein Zeichen für das „Ende des Proletariats“ als vielmehr für das „Ende des Bildungsbürgertums“ als kulturell vorbildlicher sozialer Formation. Es ist wohlgemerkt ein Weg, der endet, nicht nur eine „Bewegung“.

Natürlich bedeutet der kulturelle Pluralismus der Massendemokratie nicht, dass es keine herrschende Ideologie mehr gäbe. Zum einen rücken „Pluralismus“ und „Toleranz“ selbst in die Funktion einer individualistischen Leitwertlehre ein. Heute wird allenthalben das Hochamt von „Diversität“ und „Vielfalt“ gefeiert. Und das gilt ebenfalls für die emanzipatorisch-autonom-kreativen Tugenden der 68er, die auf den neuen Märkten gewissermaßen Pflicht geworden sind.

Der kulturelle Pluralismus der Massendemokratie bedeutet auch nicht, dass es für distinktives Bildungswissen künftig keine Nischen und Subkulturen mehr gäbe. Im Gegenteil. Der symbolische Distinktionswert von Bildungswissen dürfte schon bald wieder steigen. Die Pointe ist eine ganz andere:

Der neue hegemoniale Zusammenhang zeigt sich eben darin, dass Bildungswissen künftig eben nicht mehr sein wird als eine Subkultur, während es bis zur 68er-Epoche eben auch ein Bestandteil der hegemonialen Kultur war. Ergo mit Bereitschaft und Möglichkeit, vorbildlich, modellbildend zu wirken. Politikfähige Motive, die sich aus der Bildungskultur in die Breite der Gesellschaft hineinbewegen, werden ersetzt durch die Motive der Gegenbewegung. Vom Fußballplatz und aus dem Fitnessstudio in die Bildungsschichten bewegt sich jetzt der kulturelle drift. Strukturell ausgebremst ist die Kopplung von Bildungswissen, politischer Irritations- und Kampfbereitschaft und sozialem Aufstieg.

1968 war die Endmoräne der bildungsbürgerlichen Hegemonie in dem Sinne, dass letztmalig (das natürlich vorläufig aus der analytischen Sicht von 2018) kritisch-reflexive Bildungsgedanken den Weg genommen haben, den die Traditionen der Aufklärung und des Marxismus vorgezeichnet haben: aus der elitären Selbstreflexion der Gesellschaft in deren sozial-programmatische Praxis. Der soziologische Befund für 1968 lautet in ungehöriger Vereinfachung: Es gab eine schmale, radikale Intelligenz mit großer Ausstrahlung, aber ohne einen eigenen angestammten Ort in der sozialen Hierarchie. Man zählte sich definitiv nicht zur „alten“ Elite, und eine neue war nicht in Sicht.

Es ist keine historische Seltenheit, dass Schichten, die eine fällige Umwälzung am nachdrücklichsten vorantreiben, dieser Umwälzung als erste zum Opfer fallen. Die Bedeutung bürgerlicher Bildungseliten beruhte ja nicht auf deren Wissen selbst. Die Kenntnis von Latein, Hölderlin und Hegel prädestiniert nicht per se zu Leitungsaufgaben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Vielmehr ist es die Engführung zwischen der hegemonialen Vorbildlichkeit dieses Wissens (seinem Modellcharakter) und dem mit seiner Hilfe programmierten Aufstieg in administrative und sonstige Leitungsfunktionen. Diesen Nexus haben die 68er letztmals genutzt und zugleich zerschlagen helfen. Kondylis (2001: 214) hat das schön formuliert: Die „vereinten Kräfte der Kulturrevolution und der Wirtschaft“ hätten sich bei aller Gegnerschaft in der Losung treffen können, Bildung sei in den Dienst der „Praxis“ und der „Gesellschaft“ zu stellen. Wessen Vorstellungen von „Praxis“ und „Gesellschaft“ am Ende siegreich sein würden, das sei ohne viel Phantasie vorhersehbar gewesen: die der kapitalistischen Märkte.

Kraft dieses Strukturwandels sind die Bildungseliten in der Massendemokratie nicht mehr der Ausgangspunkt hegemonialer Meinungsbildung. Sie sind, wenn sie nicht pure Spezialisten bleiben,  günstigenfalls Stichwortgeber einer professionalisierten Medienszene, die ihr Fundament <anderswo> hat (dahinter lauert natürlich ein Problem), sagen wir in einer Projektion der „Mitte“ auf das massenmedial adressierte <Wir>. Ein handgreifliches Symptom dieses Strukturwandels ist, dass die 68er längst ihren Frieden mit Springer & BILD, mit dem Boulevard, gemacht haben. Nichts ist heut so fern wie die „Enteignet Springer!“ – Kampagne. Heute kann und muss man auch die Bildungseliten vom Boulevard her aufrollen, wie Bertelsmann als zeitgemäßes (und hegemonial hochgerüstetes) Pedant vormacht.

Völlig übersehen wird in der ausufernden Bewältigungsliteratur, dass die kulturrevolutionären und die marxistisch-linksradikalen Züge von 68er schon früh damit begonnen haben, sich tendenziell wechselseitig auszuschließen. Während noch um 1970 herum die Zentren rebellischer Politik und die Zentren einer sozial entgrenzten Gegenkultur dieselben waren, verspießert die revolutionäre Linke ebenso zügig (in der DKP-Szene nicht weniger als in den maoistischen Sekten) wie sich die Gegenkultur entpolitisiert und kommerzialisiert. Hier genauer zu schauen, wäre durchaus interessant (hierzu wie auch zum Komplex Amerikanismus/Antiamerikanismus Tanner 1998). Mit dieser Engführung geht nämlich auch die Lust an der originellen und provokativen öffentlichen Aktion baden, die Kennzeichen der frühen 68er Jahre war.

Die weltweit durchgesetzte Globalisierungssemantik besiegelt – natürlich vorläufig - die Niederlage der Linken auf dem Feld universalistischer Orientierungen und Deutungsmuster. Zur Attraktivität der 68er Leitbegriffe gehört deren „globale“ Perspektive, semantisches Pendant der Tatsache, dass der „Ruck“ von 1968 zeitgleich in ganz unterschiedlichen Weltgegenden zu verspüren war. Das <Wir> von 1968 war mehr als vage, aber es war weder national noch anderweitig „partikular“. Es umfasste den Vietkong und die sozial Benachteiligten, die Emanzipation des Einzelnen und die klassenlose Gesellschaft.  Mit dem Ende des Staatssozialismus werden alle Spielarten des Universalismus kapitalistisch verwaltet. 

Für den Zeithistorikerblick steht 1968 für die Zusammenführung von Studentenbewegung, Ostermarschbewegung, Antinotstandsbewegung. Die prototypische Aktionsform der gezielten und phantasievollen Regelverletzung garantierte eine Zeitlang viel mediale Aufmerksamkeit, maximale Provokation der Staatsorgane, einen hohen Vorführeffekt, was deren Humorlosigkeit betraf und zog immer die Lacher auf die eigene Seite. Mit der Neukalibrierung des Verhältnisses von Staat, Medien, öffentlicher und veröffentlichter Meinung, mit der Professionalisierung der Meinungsproduktion war dieser Effekt nicht mehr zu erzielen.

 

[6]  Nachgedanken

Das latente Bezugssystem der medialen Rethematisierung von 1968 ist die Selbstdeutung der jeweiligen Gegenwart. Und die sucht in der Hauptsache eine Zurechnungsadresse. Als Ereignisbegriff ist 1968 fest etabliert, die Frage ist, was man mit diesem Ereignis verbinden möchte. Um eine Zurechnungsadresse geht es auch in Steinfelds Scheinriesendiagnose von 2007/8, die im Kern von Kondylis abgeschrieben ist. Sie besagt, dass 1968 lediglich Vollzugsbeamte des hedonistisch-massendemokratishen Zeitgeistes zu einer Party mit Selbstmissverständnissen versammelt waren. Das trivialisiert die 68er im Nachhinein durch die Erzählung, sie hätten nur all dem zum Sieg verholfen, was ohnehin nicht aufzuhalten und längst auf dem Weg war. Auf dem Weg nämlich zu einer ganz normalen westlichen Massendemokratie. Zur Seite steht dieser Trivialisierungsgeschichte eine Polarisierungsgeschichte, die ungefähr so geht:

Die einen sagen: Alles, was heute schlecht ist, hat 1968 seinen Anfang: Terror, Ruin der Familie, kryptosozialistische Versorgungsmentalität, blindes Staatsvertrauen. Die anderen: Alles, was heute gut, modern und „demokratisch“ ist, hat seinen Anfang 1968, wieder andere tauchen 1968 zur Gänze in ein kaltes Bader-Meinhof-Bad (Motto: „Die Freiheit war stärker“, und sie wird es auch künftig sein, wenn Ihr bereitwillig auf alle Bürgerrechte verzichtet). Das ist relativ abgeschmackt, hat aber für den Diskursbeobachter (und in dieser Rolle trete ich auf) einen harten Kern. Es zeigt nämlich an, dass es gelungen ist, die Widersprüche von 1968 medial in Fragmente zu zerlegen, für die jeweils eine ganz und gar eindeutige, eine ambivalenzfreie „Bewertung“, eine wasserdichte Konsensfiktion möglich ist. Genau das zeigt den vollständigen Sieg des massendemokratischen Typs professioneller öffentlicher Meinungsproduktion über eine immer widersprüchliche Aufklärung.

Der Typus des aufklärerischen Bildungswissens, der den 68ern als Treibstoff und als Aufstiegsmodell diente, ist heute keineswegs verschwunden. Er führt aber bei seinen Trägern eher zur Selbstmarginalisierung in einer exklusiven intellektuellen Subkultur, deren Debatten die Öffentlichkeit weder erreichen noch gar beeinflussen.

Für einen Sprachwissenschaftler wäre es naheliegend, die Rezeptionsgeschichte von 1968 entlang der Programm- und Fahnenwörter der Bewegung zu schreiben. Dafür fehlt mehr als nur der Raum. Aber das Bild würde wohl ungefähr so aussehen:

Die Leitbegriffe von 1868ff zerfallen im Rückblick von 2018 in zwei Hauptgruppen, in enteignete einerseits und umgedrehte andererseits, die wir im schönen neuen und herrschenden Gebrauch selbst nicht wiedererkennen: Autonomie, Selbstverantwortung, Relevanz, Praxis, Aktivierung, Kreativität, Nachhaltigkeit, Flexibilität, Toleranz, Vielfalt, Reform… Von Programmwörtern der Emanzipation sind sie zu Markt- und Wirtschaftstugenden der atomisierten Selbstunternehmer mutiert, teils auch  zu seltsam verdrehten Programmwörtern des neoliberalen Staates geworden.

Und enteignete und entwertete, die  wir selbst nicht mehr so gerne verwenden, weil ihnen jeder programmatische Rückhalt in der medienöffentlichen Kommunikation abhandengekommen ist: Kommunismus, Sozialismus, Proletariat, Arbeiterklasse, Verstaatlichung, Revolution, Enteignung, Monopole….

Verstaatlicht ist zwischenzeitlich die Profitgarantie für die großen privatkapitalistischen Akteure, die gerettet werden müssen (too big to fail etc.), enteignet werden die kleinen Sparer, die doch gefälligst riskante Aktien kaufen sollen, anstatt sich auf ihren garantierten Sparbuchzinsen auszuruhen, die ja ohnehin zwischenzeitlich „Negativzinsen“  sind, und die Revolutionen werden natürlich von den Finanzmärkten selbst gemacht.

 

[7] Literatur

Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.

Bollenbeck, Georg (2008): „Lehrstück mit viel Publikum“. In: Freitag 24 vom 13. Juni 2008.

Bude, Heinz (2017): Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968. München: Hanser.

Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. Zwei Essays. München: Piper.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bröckling, Ulrich et al., eds. (2004): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Erdl, Marc Fabian (2004): Die Legende von der politischen Korrektheit. Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos. Bielefeld: transcript.

Fuhrer, Armin (2018): „50 Jahre 1968: So kupferten die Möchtegern-Revoluzzer bei anderen ab“. In: FOCUS-online vom 1. April 2018.

Gilcher-Holtey, Ingrid, ed. (1998): 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Heinzen, Georg & Koch, Uwe (1985): Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden. Reinbek: Rowohlt.

Hodenberg, Christina von (2018): Das andere Achtundsechzig. München: Beck.

Houellebecq, Michel (1999): Elementarteilchen. Köln: Dumont (zuerst franz. 1998).

Kondylis, Panajotis (1991): Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Weinheim: VCH.

Kondylis, Panajotis (2001): Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg: Manutius.

Kraushaar, Wolfgang (2018): „Umso schlimmer für die Tatsachen“. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. April 2018).

Kraushaar, Wolfgang (2018a): 1968 (Reclam Reihe 100 Seiten). Stuttgart: Reclam.

Kraushaar, Wolfgang (2018b): Die blinden Flecken der 68er Bewegung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Kraushaar, Wolfgang (2018c): Die 1968er Bewegung international. 3 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta.

Krippendorf, Ekkehart (2008): „1968 – Moral und Engagement“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2008. S. 95-100.

Lauermann, Manfred (2008): „Theorie als Realität“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2008. S. 101-112.

Leggewie, Claus (2018): „Kein Sozialismus ist auch keine Lösung“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2018. S. 110-118.

Lucke, Albrecht von (2007): „40 Jahre 2. Juni – Die Geburt der 68er Generation aus der Gewaltdebatte“. Blätter 6/2007. 727-741.

Piper, Nikolaus (2018): „Wie die Wohlstandskinder 1968 die Wirtschaft veränderten“. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Februar 2018.

Steinfeld, Thomas (2007): „Der Scheinriese. Mythos 1968: Es wäre Zeit, ihn zu beerdigen. Stattdessen wird er immer größer“. SZ vom 27./28. Oktober 2007.

Tanner, Jakob (1998): „The Times They Are A-Changing“ – Zur subkulturellen Dynamik der 68er Bewegungen. In: Gilcher-Holtey (1998: 207-223)



Zum Autor: Clemens Knobloch ist Professor für Germanistik an der Universität Siegen. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der RLS NRW.