Dokumentation EU-Experte Andreas Wehr referierte beim Linken Forum

Äußerst kenntnisreich beleuchtete der Berliner Jurist und ehemalige Politiker der „Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne“, Dr. Andreas Wehr kurz vor den Europawahlen am 26. Mai beim Linken Forum Paderborn die wichtigsten Krisen-erscheinungen der Europäischen Union.

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Zeit

14.05.2019

Mit

Dr. Andreas Wehr

Themenbereiche

Westeuropa

Äußerst kenntnisreich beleuchtete der Berliner Jurist und ehemalige Politiker der „Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne“, Dr. Andreas Wehr kurz vor den Europawahlen am 26. Mai beim Linken Forum Paderborn die wichtigsten Krisen-erscheinungen der Europäischen Union. Zu „Selbstgerechtigkeit“ oder gar einem Diskurs der „Guten“ gegen die „bösen Nichteuropäer“ bestehe keinerlei Anlass. Als fundamentale Bedrohungen der EU benannte Wehr die weiter schwelende Eurokrise, den Austritt Großbritanniens, der zweitgrößten Volkswirtschaft, und die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, so Wehr, wirke der Euro wie ein Beschleuniger für neue Turbulenzen. Die seit 2007 installierte „Rettungsarchitektur“ aus Euro-Rettungsschirm, „Schuldenbremsen“, Staatsanleihekäufen und Nullzinspolitik durch die Europäische Zentralbank zeitige spürbare Folgen etwa in Form immer weiter steigender Mieten und Lebenshaltungskosten hierzulande. „Billiges Geld strömt auf den Immobilienmarkt, die Preise für Häuser und Wohnungen explodieren und Sozialbauwohnungen werden in rentable Eigentumswohnungen umgewandelt“, benannte Wehr einige Wirkungen der „Rettungspolitik“. Der Druck auf Sparvermögen, Renten und Versicherungen bezeichne einen Vorgang des „Weiterreichens der Eurokrise nach unten“. Die Verluste der Krise würden schrittweise sozialisiert. In den so entstandenen sozialen Verwerfungen sieht Wehr einen entscheidenden Grund für das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte wie der „Alternative für Deutschland“ (AfD).

Als „verrückt“ seien die Briten nach ihrer „Brexit“-Entscheidung tituliert worden. Ökonomisch sei Großbritannien ein Gewicht wie dasjenige der zwanzig schwächsten Mitgliedsstaaten zuzuschreiben. Daneben habe der Inselstaat einen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat und verfüge über eine der stärksten Armeen der EU. „Mit dem Brexit haben sich alle Phantasien, eine europäische Armee zu schaffen, erledigt – was jedoch komplett ignoriert wird“, bemerkte Wehr. Die wahren Ursachen des Brexit-Votums lägen, so Wehr, in den Folgen der EU-Binnenmarktliberalisierung: „Großbritannien hat seit 2004 die Grenzöffnung durch die so genannte ‚Arbeitnehmerfreizügigkeit‘ ohne jede Übergangsbestimmung am weitgehendsten  betrieben, was zu Masseneinwanderungen von Arbeitssuchenden aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern führte“. Allein 3,4 Millionen Polen seinen nach Großbritannien gegangen. Im Ergebnis sei es in den Folgejahren zu extremen Verwerfungen auf dem britischen Arbeitsmarkt gekommen, ganze Belegschaften seien – in klassisch kapitalistischer Manier – gegeneinander ausgespielt und Industrien in „Billiglohnländer“ verlagert worden. Die „Brexit“-Entscheidung, so Wehr, sei vor allem zu betrachten als Denkzettel-Votum gegen diese von New Labour und den Konservativen betriebene Politik.

Beim Thema der Flüchtlings- und Migrationspolitik stellte Wehr die Motive hinter Merkels „Willkommenskultur“ des Sommers 2015 grundsätzlich infrage. „Die Angst vor dem endgültigen Scheitern des Dublin-Abkommens, nicht etwa humanitäre Erwägungen“ sei maßgeblich für die Entscheidung einer befristeten Grenzöffnung durch die Kanzlerin gewesen. Das Dublin-Abkommen sei „untrennbar mit dem freien und ungehinderten Grenzverkehr innerhalb des EU-Binnenmarktes“ verbunden. Eine Regelung zur Verteilung von Flüchtlingen in den EU-Staaten habe indes nie existiert. Der Versuch, eine solche Vereinbarung zu Lasten insbesondere der mittel- und osteuropäischen Staaten, durchzusetzen, habe zu einer beispiellosen Entfremdung dieser Länder von der EU beigetragen.

Für Andreas Wehr ist das Auseinanderbrechen der Europäischen Union durch die anhaltende Politik des „Weiter so“ nur noch eine Frage der Zeit. Eine Zukunft für ein anderes, soziales Europa könne es nur noch jenseits der EU, die nicht einmal die Hälfte Europas ausmache, geben.


Carsten Schmitt