Dokumentation Rheinbunt statt Rheinbraun

Bericht von der Rosalux-Fahrradtour durchs postmigrantische Rheinland von Malte Meyer

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Zeit

22.07.2019 - 26.07.2019

Themenbereiche

Geschichte, Migration / Flucht

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Erstens: Migration ist die Mutter aller Gesellschaften. Zweitens: Das Fahrrad bleibt ein Vehikel gesellschaftlicher Emanzipation. Und drittens: Köln mitsamt Umland eignet sich bestens zur umweltschonenden Erkundung historischer wie aktueller Migrationserfahrungen. Simple Wahrheiten wie diese haben die Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW sowie Arbeit und Leben NRW motiviert, Ende Juli 2019 einen einwöchigen Bildungsurlaub durchs (post-)migrantische Rheinland anzubieten. Insgesamt 18 politisch interessierte Radler*innen fanden das Konzept so überzeugend, dass sie sich der als „kleine Weltreise“ annoncierten Tour angeschlossen haben.

Am Montag machen wir uns auf zu einer migrationsgeschichtlichen Radtour durch Köln. Wir starten an der Jugendherberge in Köln-Riehl und fahren zunächst zum ehemaligen Carlswerkgelände nach Mülheim. Die dortige Kabel- und Drahtseilfabrik von Felten & Guilleaume war fast über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg einer der größten Industriebetriebe Kölns und spielte sowohl bei der Ausbeutung von Zwangsarbeiter*innen als auch bei der Beschäftigung von Arbeitsmigrant*innen in der Nachkriegszeit eine überaus wichtige Rolle. Während seit den 1980er Jahren viele Industriearbeitsplätze abgebaut wurden und Unternehmen aus der Entertainmentbranche ins neue „Schanzenviertel“ nachzogen, entwickelte sich die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Keupstraße wegen ihrer zahlreichen türkischstämmigen Einzelhändler zu einer überregional bekannten Einkaufsstraße. Wie sich allerdings erst bei der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2012 herausstellte, wurde dieses migrantisch geprägte Quartier 2004 zum Ziel rechtsextremen Terrors.

22 Menschen wurden bei dem damaligen Nagelbombenanschlag zum Teil schwer verletzt und nur durch Zufall gab es keine Toten. Wie schwer sich eine vor Diversity-Bekenntnissen nur so strotzende Stadt wie Köln mit einer angemessenen Erinnerung an den rassistischen Terror tut, zeigt sich auch am Umgang mit dem geplanten Denkmal an der Keupstraße: Hier werden aktuell private Eigentümerinteressen vorgeschützt, um eine aktive Aufarbeitung des NSU-Komplexes zu blockieren.

Etwas besser sieht’s dagegen gegenwärtig in Kalk aus: Nachdem wir uns vor der Adolph-Kolping-Hauptschule über Deniz Yücels Schwank aus seiner Schulzeit („Mathe für Ausländer“) amüsiert haben, fahren wir zur ehemaligen KHD-Fabrikhalle 70, das nach jüngsten Planungen der Standort für das geplante Migrationsmuseum werden soll. Wenn das Kölner Dokumentationszentrum für die Migration in Deutschland (DOMID) als zukünftiger Gestalter dieses Museums tatsächlich den Kurs beibehalten kann, mit dem es sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten so viele Verdienste erworben hat, wird die einstige Fabrik von Klöckner-Humboldt-Deutz in einigen Jahren (hoffentlich aber so schnell wie möglich!) bestimmt ein außergewöhnlich anregender und inspirierender Ort werden.

Die Widersprüche der Einwanderungsgesellschaft holen uns aber auch in Kalk schnell ein: In einem funkelnagelneuen Gebäudekomplex an der Dillenburger Straße fächert das dortige Ausländeramt zwischen „Integration“ und „Rückkehrmanagement“ schon rein äußerlich und baulich sämtliche Aufenthaltskategorien auf, mit denen der deutsche Staat über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entscheidet. Wie unspektakulär und „normal“ spielt sich dagegen das Alltagsleben auf der Taunusstraße ab, deren maghrebinische Läden und Einrichtungen nach der „Kölner Silvesternacht“ kurzzeitig zum Hotspot journalistischer Aufmerksamkeit wurden! Nur mit etwas Glück finden wir einen Imbiss, in dem es tatsächlich ein paar nordafrikanische Spezialitäten zu essen gibt. Der nachmittägliche Teil unserer Tour führt uns dann über Deutz in die Innenstadt. Wir passieren den Komplex Bahnhof Deutz / Messe als Schauplatz von Deportation und Arbeitskräfterekrutierung, bevor wir auf der anderen Rheinseite an der Antoniterkirche (Wanderkirchenasyl), am EL-DE-Haus (Zwangsarbeiter), dem WDR (von den fremdsprachigen Hörfunkprogrammen bis hin zu „Cosmo“) sowie auf der Domplatte („Silvesternacht“ 2015/16) Station machen.

Jedes Mal verliest jemand anderes aus unserer Gruppe eine kompakte Information zum jeweiligen politischen Kontext und an einigen Stellen ist die Ausdauer sogar noch groß genug für eine kurze Diskussion. Trotzdem sind wir alle froh, als wir am späten Nachmittag unsere gar nicht mal so kurze Überblickstour durch die Kölner Migrationsgeschichte auf der Terrasse der Jugendherberge bei einem kühlen Getränk ausklingen lassen können.

Dienstag ist es zwar bereits noch ein bisschen heißer, wir fahren aber trotzdem am Rhein entlang über Orte wie Langel, Monheim und Benrath Richtung Düsseldorf. Unser Ziel: Im dortigen Stadtmuseum möchten wir mehr über die Migrationsgeschichten erfahren, die jüdische „Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion nach 1990 erlebt und teilweise auch aufgeschrieben haben. Natascha Janovskaya liest zu diesem Zweck aus der 2016 auf Deutsch erschienenen Autobiografie ihres 1929 geboren Vaters. Titel: „Passt auf, Genosse ist Jude!“ Aaron Janowskis Lebensbericht ist im Düsseldorfer Nelly-Sachs-Seniorenheim entstanden, handelt aber zum größeren Teil von seinem Leben in der Sowjetunion. Zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf die UdSSR war Janowski zwölf und konnte den Holocaust nur dank der Flucht eines Teils seiner Familie in die östlichen Landesteile überleben.

Nach dem Krieg studierte Aaron und fand trotz eines auch in der Sowjetunion immer wieder spürbaren Antisemitismus eine respektable Anstellung im Bereich der Lehrerausbildung. Ab Ende April 1986 gehörte seine Familie dann zu jenem Teil der sowjetischen Bevölkerung, der von den Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl unmittelbar betroffen war. Nicht zuletzt deshalb nutzte die Familie auf Initiative von Janovskis Tochter Natascha Anfang der 1990er Jahre die Gelegenheit, dem von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten post-sowjetischen Raum den Rücken zu kehren und in die Bundesrepublik überzusiedeln. Die eindrücklichen autobiografischen Schilderungen ihres Vaters reichert Natascha Janovskaya dabei mit den Erfahrungen an, die sie als ehemalige Lehrerin nicht zuletzt bei dem Versuch machen musste, in der neuen Heimat beruflich Fuß zu fassen. Wie für viele andere Migrant*innen erwiesen sich auch für sie die bürokratischen Hürden, die den deutschen Arbeitsmarkt gegenüber Zuwanderer*innen abschotten, als allzu hoch.

Den weitgehenden Verzicht, den das unerklärte Einwanderungsland Bundesrepublik damit auf berufliche Kompetenzen wie die ihrigen erklärt hat, hat unsere Referentin nachvollziehbarerweise als ziemlich brüskierend empfunden. Umso wichtiger erscheint es, dass in Sachen Migration auch Bedürfnisse nach sozialmoralischer wie rechtlicher Anerkennung (und ihre Verweigerung durch große Teile der Mehrheitsgesellschaft) immer wieder zum Thema gemacht werden. Gedanken wie diese begleiten uns, als wir den Tag mit einer kurzen Stippvisite im japanischen Viertel Düsseldorfs beenden. Im Innenhof des Deutsch-Japanischen Centers in Düsseldorf lassen wir uns – so viel Stereotyp sei erlaubt – von einer Smartphone-App kurz einige wissenswerte Facetten deutsch-japanischer Beziehungsgeschichte erläutern, widmen uns anschließend aber mit fast noch größerer Hingabe den kulinarischen Highlights, die das „Little Tokyo“ am Rhein zu bieten hat.

Am Mittwoch dann treffen wir im alevitischen Volkshaus in Solingen Kemal Bozay. Der Köl-ner Politikwissenschaftler, der sich mit kritischen Untersuchungen zu den Grauen Wölfen, zur Kriminalisierung der NSU-Opfer („Die haben gedacht, wir waren das“), aber auch zum Erdogan-Regime („Der neue Sultan“) einen Namen gemacht hat, war zum Zeitpunkt des Brandanschlags von Solingen am 29. Mai 1993 24 Jahre alt. Ihn hat die Tat damals so er-schüttert, dass er sofort ins nahegelegene Solingen gefahren ist und sogar noch vor dem Vertreter des türkischen Konsulats bei den Überlebenden der Familie Genҫ war. Zusammen mit Freund*innen hat er ihr in den Wochen nach dem Brandanschlag persönlichen Beistand geleistet und darüber hinaus in Form von Kundgebungen und Demonstrationen auch politische Solidarität organisiert. Aus dieser Perspektive eines echten Zeitzeugen schildert der heutige Professor die diversen Reaktionen auf den rassistischen Mordanschlag. Er erwähnt Helmut Kohls Unwort vom „Beileidstourismus“ und ruft in Erinnerung, dass auch die extreme türkische Rechte den Versuch unternommen hat, den Brandanschlag für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

So sei das gewalttätige Auftreten der aus dem ganzen Bundesgebiet nach Solingen angereisten Grauen Wölfe zu einem Schlüsselerlebnis seiner eigenen politischen Sozialisation geworden. Bozay beleuchtet aber nicht auf der Ereignisebene, sondern analysiert in freier Rede auch sehr gekonnt und kenntnisreich die politischen und ideologischen Hintergründe des Anschlags. Wenige Tage vor dem Solinger Brandanschlag demontierte der Bundestag mit Zustimmung der SPD das Grundrecht auf Asyl, das in den Jahren zuvor in einer konzertierten Kampagne von bürgerlichen Medien, randalierendem Mob und Spitzenpolitik sturmreif geschossen worden war. „Asylanten“ – noch so ein Unwort – wurden von einem erdrückenden Teil der deutschen Öffentlichkeit zu Sündenböcken für die Kosten der deutschen Einheit gemacht, weswegen sich rassistische Mörder plötzlich als Vollstrecker eines vermeintlichen Volkswillens fühlen konnten. Immerhin habe es nach den pogromartigen Überfällen aber auch viel politische Solidarität und Anteilnahme mit den vom rechten Terror betroffenen migrantischen Milieus gegeben – für Bozay ein wichtiger Unterschied zur Situation nach der Enttarnung des NSU.

Zwar hat sich die Stadt Solingen mit dem zynischen Verweis auf den „sozialen Frieden“ lange Zeit erfolgreich geweigert, im Stadtzentrum wenigstens einen Erinnerungsort für die Anschlagsopfer einzurichten. Zivilgesellschaftlichen Initiativen aber ist es zu verdanken, dass heute zumindest vor der Mildred-Scheel-Berufsschule ein Denkmal an deren ehemalige Schülerin Hatice Genҫ und ihre ermordeten Angehörigen erinnert. Am Nachmittag besucht unsere Gruppe diesen antifaschistischen Gedenkort und legt dort rote Rosen nieder. Darüber hinaus fahren wir auch noch in die Untere Wernerstraße 81, wo fünf Kastanienbäume daran erin-nern, dass hier bis 1993 das Wohnhaus der Familie Genҫ stand.

Dass unsere Migrationstour uns auch ins Rheinische Braunkohlerevier führte, lag vielleicht nicht unbedingt von vorne herein auf der Hand. Sollte es etwa darum gehen, dass Dorfbewohner*innen, unter deren Grundstücken abbaubare Braunkohle lagert, mit viel Geld gezwungen werden, sich in Neubausiedlungen eine neue Bleibe zu suchen und insofern zumindest ein paar Kilometer weit zu „migrieren“? Eher weniger. Wenngleich z.B. unser Vorort-Vergleich von Manheim-alt und Manheim-neu durchaus ergab, dass es nicht nur in aufgegebenen Geisterdörfern mit Brettern vor Fernstern und Türen, sondern auch in „arrival villages“ ziemlich gespenstisch zugehen kann. Ein sehr viel wichtigeres Verbindungsstück zwischen Braunkohle und Migration ist da schon der Klimawandel. CO2-Schleudern wie das Rheinische Revier tragen in weniger gut abgesicherten Weltgegenden durchaus dazu bei, dass Menschen ihrem angestammten Wohnort aufgrund von ansteigenden Meeresspie-geln, Wüstenbildung oder Extremwetterlagen den Rücken kehren müssen. Außerdem werden Kämpfe gegen fossilistischen Extraktivismus und Umweltzerstörung zuweilen so brutal unterdrückt, dass ihren Protagonist*innen nur das politische Exil bleibt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kölner Umweltaktivist Peter Donatus.

Mit Ken Saro-Wiwa und anderen hat er sich Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gegen die multinationalen Ölkonzerne und den in ihrer Hand befindlichen nigerianischen Staat zur Wehr gesetzt. Dieses Engagement gegen den von ihm so bezeichneten „Ökozid“ im Nigerdelta bezahlte Donatus mit Gefängnis, Folter und Exil. Wie wenig das Regime ihn kleinkriegen konnte, stellte er in seinem Vor-trag im Hambacher Forst erneut unter Beweis. Eindrucksvoll analysierte er nicht nur die Verheerungen im Nigerdelta als einen Push-Faktor für Migrationsbewegungen, sondern stellte auch den Zusammenhang zur Situation im Rheinland her: Auch hier profitieren wenige Großaktionäre auf Kosten von zahlreichen Betroffenen. Dennoch könne, so Donatus, die Situation in Europa keinesfalls mit der in Afrika gleichgesetzt werden. Koloniale und neokoloniale Aus-beutung afrikanischer Ressourcen durch europäische Großmächte externalisierten nicht nur einen Großteil der Kosten europäischen Wohlstands, sondern spielten auch noch in populäre Schlagwörter wie „Wirtschaftsflüchtlinge“ hinein, mit denen Migrationsmotive im globalen Süden mehr delegitimiert als erklärt würden.

Donatus versuchte seinen Zuhörer*innen darüberhinaus klarzumachen, dass es auch der europäischen Linken an einem konkreten Konzept für Afrika mangele und voreiliger politischer Konsens deshalb auch nach Lage der Dinge nicht angemessen sei. Es war nicht zuletzt diese Unnachgiebigkeit, mit der Donatus sein Publikum am heißesten Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nachhaltig beeindruckte und die mit der Baumhaus-Kulisse des Lluna-Barrios im Hambacher Forst sehr gut harmonierte: Die viel beschworene „Bekämpfung von Fluchtursachen“ hat, wenn sie nicht zu einem Krieg gegen Migrant*innen pervertieren soll, bei einheimischen Großkonzernen wie RWE, Shell, Ford, REWE und Bayer-Monsanto anzusetzen!

Am letzten Tag unserer Reise durchs postmigrantische Rheinland ließen wir uns durch Kölns Hipster-Hochburg Ehrenfeld führen – ein inzwischen stark gentrifiziertes Quartier mit einer gleichwohl bedeutsamen Migrationsgeschichte. Konzipiert wurde diese „Global Home Tour“ von Aktivist*innen der BUND-Jugend NRW sowie Geflüchteten, die gemeinsam für einen anderen, kritischen Blick auf urbane Lebenswelten werben wollen. Mit dem Einsatz vielfältiger Methoden gelingt es unseren beiden Guides tatsächlich sehr gut, den Stadtteil von einer dezidiert rassismuskritischen Position aus zu beleuchten.

Wir besuchen deshalb die DITIB-Moschee ebenso wie das Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg am Bahnhof Ehrenfeld öffentlich gehenkten Edelweißpiraten und Zwangsarbeiter, machen am Allerweltshaus in der Körnerstraße Station und vergegenwärtigen uns schließlich am Bürgerzentrum mithilfe eines interessanten Experiments, wie in der Bundesrepublik der Gegenwart gesellschaftliche Privilegien verteilt sind.

Den Abschluss (und weiteren Höhepunkt) unseres Bildungsurlaubs bildet aber der Besuch der DOMID-Räumlichkeiten im nahegelegenen Bezirksrathaus. Hier demonstriert uns die Wissenschaftlerin Sandra Vacca live am Beamer, welche Einsichten und Erkenntnisgewinne das von ihr mitkonzipierte und unlängst online gegangene Virtuelle Migrationsmuseum eröffnet. Wir alle sind begeistert und viele von uns nehmen sich vor, dieses überaus wertvolle und für alle frei zugängliche Tool in ihren jeweiligen Um- und Praxisfeldern einzusetzen. Der Seminarrückblick in einem Raum, in dem auch das Radio der Familie Genҫ aufgestellt ist, fällt übereinstimmend positiv aus: Wir alle haben trotz der teilweise erdrückenden Hitze schöne Fahrradtouren gemacht und darüber hinaus auch politisch eine ganze Reihe hochinteressanter Eindrücke sammeln können.     

Malte Meyer