Dokumentation Mit Unsicherheiten leben: Corona und Statistiken

Kurzbericht zur Online-Veranstaltung mit Gerd Bosbach, Statistik- und Mathematikprofessor an der Hochschule Koblenz-Remagen, am 23. Juni 2020.

Information

Zeit

23.06.2020

Themenbereiche

Wirtschafts- / Sozialpolitik

Wie können plötzlich über eine Million Einwohnerinnen aus der Meldestatistik verschwinden? Wie groß wird der Bevölkerungsrückgang bis 2060 sein? Jährlich fast 0,8 Prozent oder nur 0,28 Prozent? Das sind wichtige Fragen, wenn es darum geht, wie unser Rentensystem künftig funktioniert und ob wir eine Ärztelücke haben. Die Botschaft von Gerd Bosbach, Statistik- und Mathematikprofessor an der Hochschule Koblenz-Remagen: Zahlen geben Eindeutigkeit vor, sind aber erstens gar nicht so exakt, wie sie vorgeben, und sind zweitens immer sehr unterschiedlich interpretierbar.

Das machte Gerd Bosbach bei seinem Online-Seminar am 23. Juni 2020 auch an den Corona-Zahlen deutlich: Sprechen wir über positiv Getestete, über Infizierte oder über Kranke? Woher wissen wir die Zahlen der Genesenen? Wie wird die Sterberate gezählt – auf welche Grundgesamtheit? Wie und wer wird auf den Virus getestet? Wie werden die „Länderrankings“ berechnet? Entlang dieser Fragen versuchte Gerd Bosbach, für den Umgang mit den Zahlen zu sensibilisieren. Aber Vorsicht: Falsche Datenbegründung heißt nicht zwangsläufig schlechte Maßnahmen. Gerd Bosbach wirbt mit kritischem Blick auf die Welt der Zahlen für Sorgfalt und Offenheit bei der Abwägung von Argumenten.

Heftige Diskussionen gab es um Zitate aus einem internen Papier des Bundesinnenministeriums, das den Eindruck erweckt, man müsse die Bevölkerung schockieren, um sie vor der Pandemie zu warnen. Nein, er wolle nicht einer „Verschwörungstheorie“ das Wort reden, beteuert Gerd Bosbach. Aber es sei schon ärgerlich, wenn da eine Formel „Pandemie = 1918+1929“ propagiert werde – also Spanische Grippe plus Weltwirtschaftskrise. Für Interessierte ist das interne Papier des BMI hier abrufbar.

Diskussionsbeitrag von Dirk Jacobs

Schließlich noch der Diskussionsbeitrag von Dirk Jacobs, ZDF-Redakteur, der an der Online-Debatte teilnahm, aus technischen Gründen aber während seines Beitrags unterbrochen wurde:

«Aus meiner eigenen Erfahrung aus den Sendern und Redaktionen, nicht nur jetzt in der Corona-Zeit, weiß ich, wie immerzu die „Negativ-Blicke“ gewinnen gegenüber den „Positiv-Blicken“ oder den „Ausgewogen-Blicken“. Den kritischen Ansatz haben Journalisten ja sozusagen im Blut – hinzu kommen die fast schon systemimmanenten vermeintlichen Gewissheiten, dass der Skandal oder Streit oder die Sorge oder Angst die emotional stärksten „Geschichten“ liefern, die den Zuschauer oder Leser binden oder gar fesseln. Das ist sogar begründet, denn Angst ist ja tatsächlich unsere stärkste Emotion. Und seit es nicht mehr nur um Information geht, sondern auch um Quoten, also schon seit gut 30 Jahren, geht es immer stärker neben Fakten auch um „Emotionales“. Ich bedaure das und argumentiere oft dagegen an – aber so ist der Mechanismus. An den auch quasi alle glauben.

Angst vor Corona ist medienpsychologisch die „stärkere“ Geschichte als Beruhigung oder Zweifel gewesen.

Also wurde Corona als eher dramatisch und bedrohlich geschildert, und die Politiker wurden überwiegend gefragt, ob das denn alles ausreiche, was getan werde, und nur ganz selten, ob das vielleicht zu viel sei. Dem RKI wurde erstmal grundsätzlich geglaubt. Das wurde als weise Instanz und Institution von den meisten Journalisten akzeptiert, die ihrerseits ein paar Orientierungspunkte suchten. Mathematisch oder statistische Bildung ist wenig verbreitet. Ich habe mehrfach auf die Schwäche der Zahlen hingewiesen, entsprechende Beiträge gemacht, auch andere Kollegen taten das vereinzelt – es hat sich nicht verfestigt. Schon gestern hörte man Herrn Wieler wieder gutgläubig zu und gab ihn 1:1 wieder.

Ich denke, in der Verzahnung von Medien und Politik haben dann auch viele Politiker entsprechend gehandelt. Es galt, die Gefahr ernst zu nehmen, um auch medial „besser wegzukommen“. Am Beispiel Söder-Laschet zeigt sich, dass die Rechnung auch aufging. Auch Drosten findet mehr Gehör und Glauben als Streeck. Der „Hotspot“ kriegt mehr Aufmerksamkeit als die 140 Landkreise, die seit vielen Tagen ohne Corona-Fälle sind.

Das alles ist systemimmanent. Ich weiß nicht, was wir gegen die „Emotionalität“ der Öffentlichkeit ausrichten können, wenn Emotionen sehr stark sind. Es wird immer schwierig bleiben für die Stimme der Vernunft. Aber insofern wird die Angst auch „automatisch“ bedient und nicht unbedingt gezielt!»

Klaus Dörre: Nicht jede Krise ist eine Chance

Und schließlich noch eine Einschätzung von Klaus Dörre „Nicht jede Krise ist eine Chance“, die er für die Zeitschrift „Jacobin“ geschrieben hat.


Eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW in Kooperation mit dem Rosa-Luxemburg Gesprächskreis Sülz-Klettenberg in Köln.