Analyse | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Antisemitismus Zwischen Überreaktion, innerparteilichem Misstrauen und kluger Doppelstrategie?

Labour und der Antisemitismus-Streit

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Florian Weis,

Opposition in Zeiten von Corona: Der neue Labour-Vorsitzende Keir Starmer bestreitet die Fragestunde im weitgehend leeren Parlament CC BY-NC 2.0, ©UK Parliament / Jessica Taylor

Das Vereinigte Königreich ist bekanntlich schwer von der Corona-Krise getroffen worden. Je nach Statistik sind zwischen 44.000 und über 60.000 Menschen an Covid-19 gestorben, gegenüber rund 9.000 in der bevölkerungsgrößeren Bundesrepublik Deutschland. Dies hat nicht nur, aber in erheblichem Maße, mit einem Jahrzehnt konservativer Austeritätspolitik und einem unsteten, bisweilen chaotischen Regierungshandeln in den letzten Monaten zu tun. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dürften in Großbritannien ebenfalls noch heftiger als in Deutschland ausfallen. Corona und die sozialen Folgen bestimmen folglich die politische Debatte in Großbritannien, daneben spielt eine eigene Ausprägung von Black Lives Matter vor dem Hintergrund der britischen Kolonialgeschichte eine wichtige Rolle.

Die Labour Party unter ihrer neuen Führung aus Keir Starmer und Angela Rayner, die nun fast 100 Tage im Amt ist, fängt an, von den gravierenden Schwächen der Regierung zu profitieren und konnte den Rückstand gegenüber der konservativen Partei (fast 12% bei den Wahlen im Dezember 2019 und zwischen 12 und 26% in den Umfragen danach) seit Ende Mai deutlich verringern, jedoch noch nicht überwinden. Starmers Strategie zeichnet sich dabei durch Vorsicht und Langfristigkeit aus, was angesichts des großen Tory-Sieges und der strukturellen Gründe der Labour-Niederlage sowie der Unsicherheit über die weitere politische Entwicklung unter Corona-Bedingungen sinnvoll erscheint. Innerparteilich wird diese anfängliche Zurückhaltung jedoch von dem Teil der Parteilinken, die Corbyn unbedingt unterstützt haben und Rebecca Long-Bailey als Vorsitzende wollten, deutlich kritisiert. Dabei bricht nun auch wieder die Antisemitismus-Kontroverse in der Partei auf.  

Ein Tweet und eine Entlassung: Labours jüngste Kontroverse

Auslöser der Entlassung von Rebecca Long-Bailey, unterlegener Kandidatin für den Parteivorsitz und zuletzt «Schatten»-Erziehungsministerin, durch Keir Starmer war ein Tweet, in dem Long-Bailey ein Interview im «Independent» mit der bekannten Schauspielerin und Corbyn-Unterstützerin Maxine Peake lobte: «Maxine Peake is an absolute diamond.»
Über die nachfolgende Debatte berichtete der Guardian in mehreren Artikeln, vom 25. und 26. Juni 2020.


Heftige Kritik entzündete sich dabei an der Aussage von Peake, dass israelische Sicherheitskräfte die US-amerikanische Polizei in ihren Methoden ausbilde, was sie als Beispiel dafür anführte, dass Rassismus ein globales Problem sei:   «Systemic racism is a global issue,» she adds. «The tactics used by the police in America, kneeling on George Floyd’s neck, that was learnt from seminars with Israeli secret services.» Diese Aussage aus besagtem Interview im Independent musste sie später zurückziehen. Ob der unbedachte Tweet von Long-Bailey ein zwingender Grund für ihre Entfernung aus dem Schattenkabinett war, kann bezweifelt werden. Ernsthaft dürfte ihr kaum jemand in der Labour Party vorwerfen, antisemitisch zu sein. Ed Miliband, Labour-Vorsitzender bis 2015, der selbst aus einer jüdischen Familie stammt und unter Starmer und Rayner ein Comeback erlebt, nannte Long-Bailey eine ehrenwerte Person, die sicherlich keine Antisemitin sei. Sie sei jedoch einem gravierenden Beurteilungsfehler unterlegen, der ihre Entlassung aus dem Schattenkabinett erforderlich gemacht habe.

Die (Un)Kultur des (vor)schnellen Reagierens in den «sozialen Medien» auch im linken politischen Raum dürfte hier das zentrale Problem gewesen sein. Angesichts der vergifteten Vorgeschichte der Auseinandersetzungen in der Labour Party ist allerdings auch nachvollziehbar, warum Starmer so rasch und hart intervenierte, hat er sich doch eine konsequente Bekämpfung antisemitischer Tendenzen als ein wichtiges Anliegen seines Parteivorsitzes vorgenommen. Auch Long-Bailey hat dies im innerparteilichen Wahlkampf Anfang 2020 vertreten. Es wäre also von ihr durchaus zu erwarten gewesen, sensibler zu sein. Dabei ist nicht einmal entscheidend, ob israelische Sicherheitskräfte, staatliche und private, auch außerhalb des eigenen Landes und der besetzten Gebiete repressive Methoden lehren; die konkrete Aussage von Maxine Peake erwies sich im Übrigen als so nicht zutreffend.

Florian Weis ist Historiker und hat zur britischen Labour Party während des Zweiten Weltkriegs promoviert. Er arbeitet als Referent für Migration und Demokratie im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Entscheidend ist vielmehr, warum Menschen wie Maxine Peake, warum immer wieder auch Linke, die überzeugt gegen Rassismus eintreten, direkt oder nach ganz wenigen Argumentationsschritten bei einer vermeintlichen Verantwortung Israels landen. Für eine lange und traurige Geschichte von Polizeigewalt und staatlichem Rassismus in den USA, die bekanntlich weit vor die Gründung Israels 1948 zurückreicht, brauchte es jedenfalls noch nie israelischer Unterstützung. Auch für die lange Geschichte des britischen Kolonialismus und ihre Nachwirkungen bis heute ist Israel und sind die britischen Jüd*innen genauso wenig verantwortlich wie für einen fortbestehenden Rassismus in Großbritannien. Warum also landen bestimmte Linke so schnell und eindimensional bei Israel, wenn es um ein internationales Problem von Ungerechtigkeit und Unterdrückung geht? Solidarisch mit Palästinenser*innen zu sein, die nun in der Tat unter israelischen Repressionen leiden, ist eine Sache, doch begründet dies in keiner Weise, überall die Hand Israels zu vermuten oder indifferent gegenüber Jüd*innen in Großbritannien oder anderen Ländern zu sein, die unter einem keineswegs nur latenten Antisemitismus leiden. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung Starmers nachvollziehbar, auch wenn sie mir als eine – verständliche - Überreaktion erscheint.  

Reale Probleme, schwierige Vermengungen und falsche Beschuldigungen: Labours  Antisemitismus-Kontroverse

2019 erklärte das Simon Wiesenthal Center Jeremy Corbyn zum größten antisemitischen Problem des Jahres 2019. Erst danach wurde der Terroranschlag von Halle aufgelistet, unter den weiteren Namen und Entwicklungen tauchte auch der deutsche UN-Botschafter auf. In Deutschland machte unter anderem der Spiegel auf diese bemerkenswerte Rangfolge aufmerksam. Angesichts eines verbreitet latenten und zunehmend auch aggressiver und tödlicher werdenden Antisemitismus in vielen Ländern ist diese Bewertung des Wiesenthal Centers einfach nur grotesk. Die Labour Party war und ist nicht antisemitisch geprägt, auch nicht in der Person und unter Jeremy Corbyn. Gleichzeitig gab es aber gravierende Defizite im Umgang mit antisemitischen Untertönen und vor allem ein nicht zu entschuldigendes Versäumnis, Jüd*innen in der Labour Party gegen problematische innerparteiliche Angriffe und die jüdische Community insgesamt gegen Antisemitismus zu verteidigen, auch dann, wenn deren politische Haltungen ansonsten legitimerweise kritisiert werden können. Luciana Berger etwa, frühere Labour-Abgeordnete und nun bei den Liberaldemokraten, wurde nicht angemessen verteidigt, als in normalen strömungspolitischen Auseinandersetzungen auch andere, hässliche Untertöne zu vernehmen waren. Die Bitterkeit der innerparteilichen Auseinandersetzungen, die keineswegs nur Corbyn und seinen Unterstützer*innen zugerechnet werden kann, hat generell das erträgliche Maß für eine linke Partei überschritten und war wesentlich mitverantwortlich für die Niederlage im Dezember 2019.

Dies ist der Hintergrund, vor dem es an Entschlossenheit in der Zurückweisung von inakzeptablen Angriffen, nicht nur, aber auch mit antisemitischem Anklang, mangelte. Es fehlte an der Bereitschaft, antisemitische Äußerungen oder Klischees mit der gleichen Entschlossenheit zu bekämpfen, wie dies selbstverständlich der Anspruch in Bezug auf andere rassistische oder sexistische Verhaltensweisen zu sein schien. Es fehlte darüber hinaus bei Corbyn und vielen seiner Unterstützer*innen schlicht an der Empathie und Sensibilität gegenüber den von Antisemitismus betroffenen eigenen Genoss*innen und anderen Mitgliedern der jüdischen Community. Dies verband sich mit einer Überfixierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und die israelische Besatzungspolitik und einer nicht selten allzu simplen und dadurch problematischen antiimperialistischen Weltsicht. Nun gab es auch in der Corbyn-Zeit Vertreter*innen der Parteilinken, die ein stärkeres Problembewusstsein und eine differenzierte Sicht hatten. Jon Lansman, Mitgründer und eine zentrale Figur von «Momentum», selbst aus einer jüdischen Familie stammend, ist hier positiv hervorzuheben. Emily Thornberry, unter Corbyn «Schatten»-Außenministerin und auch jetzt im Schattenkabinett vertreten, hielt auf dem Liverpooler Parteitag 2018 eine kämpferische internationalistische Rede, in der sie scharfe Kritik an der Netanyahu-Regierung mit einer deutlichen Kampfansage an antisemitische Tendenzen an den Rändern der eigenen Partei verband.

Erschwert wurde ein unmissverständlicher Umgang mit jeder Form von Antisemitismus freilich auch dadurch, dass ein Teil derjenigen Labour-Politiker*innen, die Corbyn trotz seiner beiden deutlichen innerparteilichen Wahlsiege 2015 und 2016 nie als legitimen Parteivorsitzenden anerkennen wollten, sehr instrumentell mit den realen Antisemitismus-Problemen in der Partei umgingen und diese gleichzeitig in Ausmaß und Systematik überzeichneten. Das wiederum verschärfte die innerparteiliche Spaltung und Tonlage.

Labour hat aktuell zu untersuchen, inwieweit Vorwürfe zutreffen, der frühere Parteiapparat aus der Zeit vor Corbyn, der diesem feindlich gegenüberstand, habe gezielt ein entschlosseneres Vorgehen gegen antisemitische Erscheinungsformen verschleppt, um Corbyn zu schaden. Es darf dabei für eine linke Partei auch kein entlastendes Argument sein, dass die Konservativen ebenfalls Gegenstand von Untersuchungen sind, in diesem Falle auf einen antimuslimischen Rassismus bezogen. Antisemitismus und anderen Formen von Rassismus lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen, sie verlangen in jeder Form eine entschlossene Bekämpfung. Das bedeutet natürlich nicht, jede Position der von Antisemitismus und Rassismus bedrohten Personen, Gruppen und Organisationen zu akzeptieren, wohl aber, sie in ihren elementaren Rechten zu verteidigen.     

Keir Starmer und Angela Rayner haben sich in den ersten drei Monaten ihrer Parteiführung beharrlich, konsequent und mit ersten Erfolgen darum bemüht, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, sowohl innerparteilich bei denjenigen, die den unzureichenden Umgang mit Antisemitismus sowohl als Problem an sich als auch als eine der wesentlichen Ursachen der Labour-Niederlage betrachten, als auch gegenüber jüdischen Organisationen. Zu diesen zählt das Jewish Labour Movement (JLM), Nachfolgerin der Poale Zion, einer sozialistisch-zionistischen Organisation mit einer langen Tradition innerhalb der britischen Labour Party. Im Unterschied zum traditionsreichen JLM stehen die 2017 gegründeten Jewish Voices for Labour (JVL) hinter Jeremy Corbyn und der Parteilinken. Vor Starmer liegt nun die mehrfache Herausforderung, konsequent gegen antisemitische Erscheinungsformen vorzugehen, Empathie aufzubringen und Vertrauen zurückzugewinnen, gleichzeitig seinerseits damit nun aber auch nicht innerparteilich instrumentell gegen die Corbyn-Linke vorzugehen. Deshalb kommt der aktuellen Untersuchung, welche Rolle der Parteiapparat gespielt hat, eine wichtige Rolle zu. Die Labour Party hatte sich noch unter Corbyn auf großen Druck hin die «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der  International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu eigen gemacht. Diese Definition hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung in einer Studie von Peter Ullrich ausführlich und kritisch analysiert.

Antisemitismus entschlossener als in der Vergangenheit zu bekämpfen, bedeutet für die Labour Party freilich nicht, in der Kritik an israelischem Regierungshandeln leiser zu werden. So war es sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet Lisa Nandy, unterlegene Bewerberin für den Parteivorsitz (unterstützt vom JLM) und jetzt «Schatten»-Außenministerin, die Annexionsabsicht der Netanyahu-Regierung heftig kritisierte, eine entschiedenere britische Reaktion forderte und dazu auch ein Importverbot für Waren aus illegalen israelischen Siedlungen zählte (der Guardian berichtete über diese Forderungen am 27. Juni 2020). Eine unmissverständliche Klarheit in der Bekämpfung jeder Form von Antisemitismus ist eine Notwendigkeit an sich, ohne jede weitere Überlegung. Erst auf dieser Basis entsteht eine Glaubwürdigkeit, die eine deutliche Kritik israelischer Regierungspolitik dann auch weniger angreifbar macht. In diesem Sinne können Starmers – für sich betrachtet eher übertriebener - personeller Schritt und Nandys deutliche Äußerungen zu den israelischen Annexionsplänen als Doppelstrategie gelesen werden.