
Ottilie Baader gilt neben Clara Zetkin als eine der wichtigsten sozialdemokratischen Kämpferinnen für die Rechte der Arbeiterinnen und für das allgemeine freie und geheime Wahlrecht für Frauen und Männer. Als «Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands» war sie führend am Aufbau der internationalen sozialistischen Frauenbewegung beteiligt.
Kindheit, Jugend, Fabrikarbeit und erster Widerstand
Ottilie Baader wurde am 30. Mai 1847 in Raake, Oberschlesien geboren. Sie wuchs in einer Arbeiterfamilie in Frankfurt /Oder auf. Durch den frühen Tod ihrer Mutter konnte sie nur drei Jahre lang eine Mittelschule besuchen, weil sie den Haushalt für die jüngeren Geschwister und den Vater führen musste. Im Alter von 13 Jahren zog sie mit der Familie nach Berlin und begann ihre Arbeit als Näherin in einer Fabrik, um für den Familienunterhalt Geld herbeizuschaffen. Sie arbeitete 12 Stunden täglich und bekam einen Monatslohn von drei Talern. Als der Fabrikherr 1870 Lohnkürzungen vornehmen wollte, drohte sie damit, einen Arbeiterinnen-Streik zu organisieren und wurde entlassen.
Politisierung und Arbeit für Gewerkschaften und SPD
Sie verdiente ihren Lebensunterhalt nun als Näherin in Heimarbeit. Daneben besuchte sie während der Zeit des Sozialistengesetzes Veranstaltungen des von der bürgerlichen Frauenrechtlerin und «Erfinderin» der Berliner Volksküchen Lina Morgenstern (1830–1909), bekannt als «Suppenlina», gegründeten Arbeiterinnen-Vereins und sozialdemokratische Versammlungen. Sie las Schriften von Karl Marx und August Bebel und kritisierte die Klassenunterschiede und die geschlechtshierarchische Rollenverteilung. 1866 beteiligte sie sich am erfolgreichen Kampf der Berliner Mantelnäherinnen gegen die drohende Erhöhung der Nähgarnzölle und fand Kontakt zu den Gewerkschaften, zunächst dem Schneiderinnenverband und dann auch zur SPD. 1870/71 erreichte sie und 50 zum Streik bereite Näherinnen, dass die angedrohte Halbierung der Löhne in der Berliner Kragen- und Manschettenfabrik zurückgenommen wurde. Bald stand sie in der Berliner Arbeiterinnenbewegung an führender Stelle.
1894 wurde Ottilie Baader «Erste Vertrauensperson» der sozialdemokratischen Frauen in Berlin. Ca. 400 «Vertrauenspersonen» waren auf der örtlichen Ebene überall für die SPD-Parteiarbeit verantwortlich. Die Sozialdemokratinnen wählten dieses Konstrukt, weil nach der preußischen Vereinsgesetzgebung von 1850 Frauen politischen Parteien und Organisationen nicht angehören, Versammlungen und Sitzungen nicht besuchen durften und ihre eigenen politischen Zusammenschlüsse verfolgt und aufgelöst wurden. Der § 9 dieses Gesetzes lautete: «Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, dürfen keine Frauenspersonen, Schüler oder Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen». Was «politische Gegenstände» waren, bestimmte «die Obrigkeit», meistens ein örtlicher Gendarm. Keine der führenden Frauen der proletarischen Frauenbewegung blieb von Verfolgung verschont, während viele «Bürgerliche» ungehindert ihre Politik machen konnten. Die «Vertrauensperson» konnte man nicht auflösen. Ottilie Baader sah ihre Aufgabe vor allem in der Vernetzung mit Vertrauenspersonen aus anderen Städten und in der Ausbildung von «Agitatorinnen». Die Genossinnen würdigten diese Arbeit, indem sie am 15. September 1900 auf der ersten Sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Mainz zur «zentralen Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands» gewählt wurde. 1904 wurde die Stelle besoldet, so dass sie hauptamtlich für die Bewegung arbeiten konnte. 1906 wurde ihr sogar ein Büro mit Sekretärin zur Verfügung gestellt.
Der Kampf ums Frauenwahlrecht
Seit dem Parteitag in Erfurt 1891 war es den Frauen um Ottilie Baader und Clara Zetkin (1857 – 1933) gelungen, dass die Partei die Forderung nach dem Frauenstimmrecht in ihr Programm aufnahm. 1895 legte die SPD unter Ignaz Auer (1846–1907) und August Bebel (1840–1913) dem Deutschen Reichstag einen Gesetzentwurf vor, der die Einführung des Frauenstimmrechts zum Inhalt hatte. Alle Parteien, außer der SPD, lehnten den Antrag ab. Ottilie Baader sprach mit August Bebel und anderen auf einer Protestkundgebung. 1906 wurde derselbe Antrag durch Eduard Bernstein (1850–1932) im Reichstag begründet – und wieder abgelehnt. Die Frauenfrage wurde nun zum Teil der Klassenfrage. Sozialistinnen wählten eine neue Strategie. Unter Berufung auf § 21 des preußischen Vereinsrechts, der Wahlvereine von den Beschränkungen des Vereinsgesetzes ausnahm, gründeten sie sozialdemokratische Frauenwahlvereine, die sich nach den Wahlen wieder auflösen mussten. Die Wahlkampfarbeit verbanden sie mit Forderungen zum Frauenwahlrecht. Ottilie Baader bezeichnete die Wahlrechtsbewegung von 1905/06 als die «umfassendste und kräftigste Aktion für das Frauenstimmrecht […], die wir in Deutschland bis jetzt gehabt haben».
Die internationale sozialistische Frauenbewegung
1907 fand in Stuttgart vom 17. bis 19. August die «Erste internationale sozialistische Frauenkonferenz» statt, die durch Ottilie Baader einberufen wurde. Durch den Druck des internationalen Zusammenschlusses erhofften sich die Sozialdemokratinnen eine Stärkung ihrer Position für den Kampf um das Frauenwahlrecht, für bessere Arbeitsbedingungen, vor allem für Heimarbeiterinnen und Dienstbotinnen, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und gegen die Bedrohung des Weltfriedens. Alle Frauen- und Arbeiterinnenorganisationen der Welt waren dazu aufgerufen, Vertreterinnen zu entsenden und Anträge zur Tagesordnung sowie Berichte über die sozialistische Frauenbewegung in den verschiedenen Ländern einzureichen. Am 24. Juni 1907 kündigte Ottilie Baader in der Zeitschrift «Die Gleichheit» an, dass es den Frauen um nichts weniger ging, als die «volle Emanzipation des weiblichen Geschlechts zu erobern». Sie eröffnete die Sitzung am 17. August 1907, am Vortag des Internationalen Sozialistenkongresses, in der Stuttgarter Liederhalle mit den Worten: «Ich begrüße alle Mitkämpferinnen, die gekommen sind, um die unentbehrlichste Waffe für uns, das Frauenstimmrecht, mit erobern zu helfen».
Damit stellte sie der Konferenz eine deutliche Aufgabe. Unter dem Vorsitz von Clara Zetkin gründeten 58 weibliche Delegierte aus 15 Ländern Europas und aus Übersee die Socialist International Women (SIW). Den Bericht der Frauen der SPD trug Ottilie Baader vor. Sie sprach über Mitgliederentwicklung, Frauenarbeitsschutz und Kinderarbeit, über die sozialdemokratischen Bildungsvereine und die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Frauen, die nicht wählen und gewählt werden durften, sich im Deutschen Reich politisch überhaupt nicht organisieren durften und deren Zusammenschlüsse verfolgt, verboten und aufgelöst wurden. Interessiert lauschten die Frauen ihrem Bericht über das Konzept der Vertrauenspersonen, das die Sozialdemokratinnen «erfunden» hatten. In ihrer Rede nahm Baader eine klare Abgrenzung zu den bürgerlichen Frauenbewegungen vor, die die weibliche «Andersartigkeit» betonten, neue Gegensätze zwischen den Geschlechtern schürten und nicht bereit waren, den Kampf der Arbeiterinnen für volle soziale und menschliche Emanzipation zu unterstützen. «Die sozialistische Frauenbewegung Deutschlands», so Ottilie Baader auf dem Kongress, sei «von der Überzeugung durchdrungen, dass die Frauenfrage ein Teil der sozialen Frage ist und nur zusammen mit ihr gelöst werden kann». Ihr ging es um den «Kampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeutenden, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts». Deshalb war es ihr Anliegen, «mit dem Mann ihrer Klasse gegen die kapitalistische Klasse Seite an Seite zu kämpfen».
Leiterin des Zentralfrauenbüros der SPD
Nachdem am 15. Mai 1908 ein Reichsvereinsgesetz in Kraft trat und sich auch Frauen politisch organisieren durften, leitete Ottilie Baader bis 1917 das «Zentralfrauenbüro» beim Parteivorstand der SPD. Viele Sozialistinnen ergriffen die Möglichkeit und schlossen sich noch 1908 der Sozialdemokratischen Partei an. Bei der zweiten Internationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen vertrat Baader den Bezirk Groß-Berlin und half den Internationalen Frauentag, den wir heute noch feiern, auf den Weg zu bringen. Nach der Auslösung des Ersten Weltkrieges trat sie wenig in Erscheinen. 1921 verfasste sie ihre Lebenserinnerungen, die viele Informationen über die Anfänge der sozialistischen Frauenbewegung enthält. Sie starb am 23. Juli 1925 in Berlin. Die Trauerfeier fand im Krematorium Wedding statt.
Zum Weiterlesen
Ottilie Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin, Bonn 1979.
Gisela Notz: «Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!» Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf ums Frauenwahlrecht, Bonn 2008.
Gisela Notz: Ottilie Baader (1847 – 1925): in: diess.: Wegbereiterinnen. Berühmte, bekannte und zu Unrecht vergessene Frauen aus der Geschichte, Neu-Ulm 2020, S.54 -55.
