
Spritztechnik, Gemäldemaß: H: 95,00 cm , B: 76,50 cm
Inv.Nr.: VII 60/876 x
© S. Nerlinger
Reproduktion: Michael Setzpfandt, Berlin
Alice Lex-Nerlinger gehörte zur künstlerisch-politischen Avantgarde proletarisch-revolutionärer Orientierung der Weimarer Republik. In ihrem Werk setzte sie sich mit Themen der politischen Linken und der proletarischen Frauenbewegung auseinander. Einem breiteren Publikum bekannt wurde sie durch ihr Bild «Paragraph 218» von 1931, mit dem sie das Abtreibungsverbot provokativ kommentierte: Eine Gruppe von Frauen tritt aus der Silhouette einer Schwangeren und stürzt ein riesiges schwarzes Kreuz mit der Aufschrift «Paragraph 218» um. Die feministische Frauenbewegung der 1970er Jahre griff dieses politische Kunstwerk wieder auf.
Kindheit, Ausbildung und erste politische Arbeit
Alice wurde am 29. Oktober 1893 als Alice Erna Hildegard Pfeffer geboren. Sie war das jüngste von sechs Kindern des Gaslampenfabrikanten Heinrich Pfeffer und von Natalia Pfeffer, geb. Draeger. Die Familie lebte in der Luisenstadt in Berlin-Kreuzberg am Moritzplatz. Die Fabrik befand sich in der Brandenburgstrasse (heute Lobeckstraße), ebenfalls in Kreuzberg. Von 1911 bis 1916 studierte sie gemeinsam mit Hannah Höch, Georg Grosz und anderen später berühmten KünstlerInnen an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums in Berlin unter anderem bei Emil Orlik Malerei und Grafik. Während des Ersten Weltkrieges fertigte sie die ersten politischen Grafiken, in denen sie die sozialen und politischen Missstände dieser Zeit anprangerte. Weitere sollten folgen.
Politisches Engagement und Parteilichkeit mit den proletarischen Frauen
Bereits während ihres Studiums hatte sie den Maler, Zeichner und Grafiker Oskar Nerlinger kennengelernt, den sie 1919 heiratete. Nach der Heirat arbeitete sie an dessen Fotogrammen und Filmen mit. In den 1920er Jahren nahm sie zusätzlich den Künstlernamen Lex an. Sie arbeitete ab 1927 mit Methoden der modernen Fotografie, Fotomontagen und Spritzbildtechnik, um einen möglichst breiten Personenkreis auch außerhalb der Kunstszene zu erreichen. Mit ihren Motiven prangerte sie Not und Elend der Arbeiterklasse, besonders der Arbeiterinnen an.
1928 wurde Alice Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und fertigte zahlreiche Plakate an. 1929 nahm sie an der bedeutenden Internationalen Ausstellung «Film und Foto» in Stuttgart und Berlin teil. Im gleichen Jahr wurde sie auch Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO), die Expressionismus, Kubismus und Dadaismus als bourgeois ablehnte. Vor allem schuf sie Arbeiten, die ihre eigene politische Einstellung widerspiegelten, darunter die Fotomontagen «Arbeiten, arbeiten, arbeiten!» und «Gaskrieg». Aus den Erfahrungen während des ersten Weltkrieges, der experimentellen Atmosphäre der 1920er Jahre sowie aus den durch Automatisierung, Heimarbeit und Streiks verschärften sozialen Gegensätzen schöpfte Lex-Nerlinger ihre Themen: «Snob und Kriegskrüppel», «Dame und Proletarierin», «Kapital und Arbeit», «Helden- contra Soldatentod», «Mensch und Maschine», «Staat und Zensur». Außerdem beschäftigte sie sich mit dem frauenverachtenden § 218, der Abtreibung unter Gefängnisstrafe stellt.
Sie fühlte sich den modernen KünstlerInnen um Herwarth Walden, dem Lebensgefährten von Else Lasker-Schüler und dessen Galerie «Der Sturm» in Berlin verbunden. Bei den gleichgesinnten linken KünstlerInnen, den «Abstrakten», die sich 1931 in «Zeitgemäße» umbenannt haben, fand sie Anregung und Bestätigung.
In ihren Arbeiten zeigte sie Parteilichkeit mit der Arbeiterklasse und besonders mit den proletarischen Frauen, deren solidarische Stärke sie hervorhob. Damit bekam sie jedoch bald Schwierigkeiten: 1931 wurde das Kunstwerk «Paragraph 218» auf der «Großen Berliner Kunstausstellung» ausgestellt. Mit diesem Kunstwerk wollte sie auch gegen die Kriminalisierung der wegen illegaler Abtreibung angezeigten, verhafteten und inhaftierten Ärzte Else Kienle und Friedrich Wolf protestieren, deren Prozess damals großes Aufsehen erregte. Damit rief sie allerdings nicht nur den Protest von christlichen Kirchenvertretern, sondern auch des SA-Führers August Wilhelm von Preußen hervor, die dafür sorgten, dass das Bild nach kurzer Zeit von der Polizei beschlagnahmt und abgehängt wurde. 1932 stellte sie mit «Feldgrau schafft Dividende» ein Bild aus, das ebenfalls bis heute nichts an gesellschaftskritischer Aktualität einbüßt. Es zeigt einen toten Soldaten im Stacheldrahtverhau hängend, während im Hintergrund beladene Waggons ein Rüstungsunternehmen verlassen. Mit diesem Werk zog sie den Zorn der völkischen Presse auf sich.
Untergrundarbeit im Hitlerfaschismus
Nach der Machtübertragung an die Hitlerfaschisten wurde Alice Lex-Nerlinger kurzzeitig wegen des Verdachts des Hochverrats verhaftet. Ebenso wie Hannah Höch, Käthe Hoch und Elfriede Lohse-Wächtler wurde sie aus dem «Reichsverband Bildender Künstler» ausgeschlossen und mit einem Berufs- und Ausstellungsverbot belegt. Zensur und Arbeitsverbot trieben Alice künstlerisch in die «innere Emigration». Sie stellte ihre öffentlichen Tätigkeiten ein, auch wenn sie sich nicht davon abhalten ließ, im Untergrund heimlich mit ihrer Kunst politisch gegen das Regime zu arbeiten.
Gewalt, Verfolgung und existentielle Not prägten den Ausdruck ihrer Arbeit während dieser Zeit. Teile ihres Werks wurden von ihr selbst aus Angst vor Verfolgung und Hausdurchsuchungen vernichtet. 1939, nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, ging sie für längere Zeit nach Italien.
Weiterarbeit in Berlin (DDR)
Nach dem Ende der Naziherrschaft wurde Alice Lex-Nerlinger in Berlin wieder freischaffend tätig. Zunächst unterrichtete sie Aktzeichnen und Landschaftsmalerei an der Volkshochschule in Berlin-Steglitz. Bereits 1945 gehörte sie mit Oskar Nerlinger und anderen vormaligen ASSO-Mitgliedern zu den Begründern der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Künstler, der später im Schutzverband bildender Künstler aufging.
1946 nahmen Alice und Oskar Nerlinger mit anderen Künstlern aus der Tradition der proletarisch-revolutionären Kunst an der ersten Deutschen Kunstausstellung in Ostberlin teil. Alice gehörte von 1947 bis 1949 dem Redaktionsbeirat der Zeitschrift «Bildende Kunst» an und publizierte darin Artikel und Illustrationen. Gemeinsam mit Oskar Nerlinger konnte sie eine neue Existenz aufbauen. Nach der Gründung der DDR wurde sie Mitglied des Verbands Bildender Künstler der DDR und der SED. Im Rahmen des Konzepts «Bitterfelder Weg» ging Alice Lex-Nerlinger in Industriebetriebe und porträtierte Lehrlinge und Arbeiter.
Alice Lex-Nerlinger hatte in der SBZ und ab 1949 in der DDR viele Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Sie arbeitete nun überwiegend an offiziellen Porträtaufträgen und erhielt zahlreiche Aufträge vom Ministerium für Kultur.
1960 wurde sie für ihr Werk mit einer Ehrenpension ausgezeichnet, die sie mit Unterstützung der Deutschen Akademie der Künste von der Regierung der DDR erhielt, obwohl sie selbst nicht Mitglied der Akademie war, und 1974 erhielt sie den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Silber.
In einer großen Retrospektive zeigte die Akademie der Künste der DDR 1975, kurz nach ihrem Tod am 21. Juli 1975, die Werke von Alice Lex-Nerlinger und Oskar Nerlinger mit ihren frühesten Arbeiten der proletarisch-revolutionären Phase der 1920er und denen der 1930er Jahre sowie den sozialistisch-realistischen Werken aus den Jahren der DDR. Die Ausstellung wurde von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst anschließend auch in Westberlin gezeigt.
Das verborgene Museum in Berlin präsentierte auf Initiative der US-amerikanischen Kunsthistorikerin Rachel Epp Buller 2016 eine retrospektive Ausstellung. Viele ihrer gesellschaftskritischen Themen wie z.B. das Antikriegsbild «Feldgrau schafft Dividende» oder «Paragraf 218» haben bis heute nichts an Aktualität verloren.
Zum Weiterlesen
Antje Asmus: Alice Lex-Nerlinger (1893 – 1975), in: Gisela Notz (Hrsg.): Wegbereiterinnen. Berühmte, bekannte und zu Unrecht vergessene Frauen aus der Geschichte, Neu-Ulm 2020, S. 235-236.
Marion Beckers (Hrsg.): Alice Lex-Nerlinger 1893–1975. Fotomonteurin und Malerin; Berlin 2016.


