
Zehn Jahre ist es her, dass der «Sommer der Migration» Deutschland und Europa veränderte. 2015 zeigten Tausende Menschen in Deutschland Solidarität mit Geflüchteten, die hier Schutz suchten. Für viele von ihnen war diese Solidarität – in privaten Unterkünften, in Notunterkünften oder durch zivilgesellschaftliche Hilfe – nicht nur ein humanitärer Akt, sondern lebensrettend (vgl. Massimo Perinelli).
Die Zahl der Menschen, die in Deutschland Asyl beantragten, war bereits 2014 gegenüber den Vorjahren stark angestiegen und wuchs im Jahr 2015 auf über eine Million (vgl. Statista). Zu den Fluchtursachen gehörten der 2011 ausgebrochene Bürgerkrieg in Syrien, die Herrschaft der Taliban und des Islamischen Staats (IS) in Afghanistan und Irak sowie die humanitären Versorgungskrisen in Irak, Jordanien, Libanon und Subsahara-Afrika.
Doch die Reaktionen auf die Ankunft der Geflüchteten in Deutschland waren nicht nur positiv; ab 2015 kippte die Stimmung in Teilen der Bevölkerung nach rechts. Gewalttaten gegen Geflüchtetenunterkünfte und gegen sich solidarisch zeigende Menschen nahmen massiv zu. Eine oftmals dramatisierende Berichterstattung in den Medien befeuerte rechte Narrative, die Ängste schürten und staatliches Handeln delegitimierten. Zeitgleich beschloss die Regierungskoalition massive Einschränkungen des Asylrechts.
Diese FAQ stellt Fragen und gibt Antworten dazu, wie auf diesem Nährboden rechte Kräfte wie Pegida massiv an Zustimmung gewannen und wie die (2013 gegründete) AfD zur parlamentarischen Stimme der extremen Rechten wurde.
Was geschah am 4. September 2015 – hat Angela Merkel die Grenzen geöffnet?
In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 traf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Absprache mit Österreichs Kanzler Werner Faymann (SPÖ) die Entscheidung, 4.000 bis 6.000 Geflüchtete, die zuvor in Ungarn festsaßen, in Deutschland einreisen zu lassen. Sie handelte auf Basis des Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention, also rechtlich gedeckt. Die Behauptung einer «Grenzöffnung» ist falsch – Deutschland war 2015 Teil des Schengen-Raums. Eine Grenzschließung gab es nicht – und damit auch keine Öffnung.
Innerhalb der EU galt 2015 die Dublin-III-Verordnung. Diese bestimmt, dass Geflüchtete ihren Asylantrag grundsätzlich in dem EU-Staat stellen müssen, den sie als Erstes betreten haben. Viele Schutzsuchende flohen 2015 über die sogenannte Balkanroute – durch Länder wie Mazedonien, Serbien, Ungarn – in Richtung Schengen-Raum. In Ungarn, dem ersten Schengen-Staat auf der Route, wären nach Dublin III eigentlich Asylverfahren einzuleiten gewesen.
Doch der ungarische Premierminister Viktor Orbán reagierte mit massiven Restriktionen: Er ließ den Budapester Keleti-Bahnhof zeitweise schließen, verweigerte Menschen die Weiterreise und ließ später sogar einen Grenzzaun zu Serbien errichten. Die Maßnahmen waren auch politisch motiviert: Orbán wollte Druck auf andere EU-Staaten ausüben, insbesondere auf Deutschland, um sie zur Aufnahme der Geflüchteten zu bewegen.
Im Bundeskanzleramt wurde zu dieser Zeit tatsächlich intensiv diskutiert, ob und wie man das Dublin-System für syrische Geflüchtete aussetzen könne. Im August 2015 traf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dann die Entscheidung, Dublin-Verfahren für syrische Staatsangehörige in der Praxis auszusetzen – eine faktische Erleichterung der Einreise und ein humanitärer Akt im Rahmen bestehender Spielräume.
Warum wurde Angela Merkel zum Feindbild der Rechten?
Bundeskanzlerin Merkel wurde aufgrund ihrer Entscheidung, die Schutzsuchenden aufzunehmen, zu einem zentralen Hassobjekt des rechten Protests. Ihr Satz «Wir schaffen das», geäußert am 31. August 2015, wurde zur Projektionsfläche von Hass und Hetze. Auf rechten Demonstrationen wurden Plakate mit Slogans wie «Merkel muss weg» hochgehalten, die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit sprach von «Grenzöffnung» als «Staatsstreich», AfD-Politiker*innen bezeichneten Angela Merkel als «Kanzlerin der Illegalen». Auch unionsinterne Kritiker*innen wie Horst Seehofer (CSU) griffen die Formulierung auf und sprachen von einer «Herrschaft des Unrechts».
Wie waren die Reaktionen in der Gesellschaft?
Im Sommer 2015 entfaltete sich in Deutschland eine breite Welle solidarischen Engagements zur Aufnahme und Versorgung der vielen Geflüchteten: Ehrenamtliche organisierten Kleidersammlungen, Kochkurse und Nachbarschaftshilfe. Andere nahmen Geflüchtete bei sich zu Hause auf. «Seebrücken» gründeten sich und versuchten, die kommunale Aufnahme von Geflüchteten zu erwirken – vorbei an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Gleichzeitig nahmen Hass und Hetze gegen Asylbewerber*innen zu. Rechte Stimmungen und «Nein zum Heim»-Kampagnen machten sich breit und mobilisierten vielfach Menschen gegen Geflüchtete vor Ort. Neben rassistischen Demonstrationen stieg auch die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete, Unterkünfte, aber auch auf Menschen, die sich solidarisch zeigten.
Dabei traten die Fakten schnell in den Hintergrund. Verunsichert durch das Tempo der Entwicklungen und rechte Empörungswellen griffen Medien Bilder wie «Flüchtlingskrise», «Grenzöffnung» und «Kontrollverlust» auf und verstärkten sie damit (vgl. Frage 5). Die Debatte war geprägt von Dramatisierung; juristische oder gesellschaftliche Aufklärung fand kaum statt.
Wie reagierte die Regierungskoalition?
Statt eine entschlossene Gegenreaktion zu organisieren, passte sich die «politische Mitte» an. Die CDU/CSU verabschiedete gemeinsam mit der SPD im Eiltempo das Asylpaket I (Oktober 2015) und das Asylpaket II (März 2016). Diese brachten massive Verschärfungen für Geflüchtete mit sich: Leistungskürzungen, mehr Abschiebungen, Einschränkungen beim Familiennachzug. Auch der Begriff «sichere Herkunftsstaaten» wurde ausgedehnt – ein juristisches Konstrukt, um Abschiebungen zu erleichtern.
Die öffentliche Kommunikation drehte sich: Nicht mehr Aufnahme, Integration oder Solidarität standen im Fokus, sondern Kontrolle, Abschreckung und «Rückführung». Die einstige Erzählung von gesellschaftlicher Verantwortung («Wir schaffen das») wich dem Bild der Überforderung. Die politische Sprache rückte nach rechts.
Wie berichteten die Medien?
Die mediale Berichterstattung im Herbst 2015 spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung rechter Narrative. Während einige Redaktionen versuchten, faktenbasiert und vorbehaltlos zu informieren, übernahmen viele Formulierungen wie «Flüchtlingswelle», «Flüchtlingskrise», «Grenzöffnung» und «Kontrollverlust» – Begriffe, die durch rechte Akteure gezielt gesetzt wurden, um Ängste zu schüren und politische Entscheidungen zu delegitimieren.
Eine Analyse der Universität Mainz stellte fest, dass viele Medien unbeabsichtigt zur Normalisierung von Fremdenfeindlichkeit beitrugen, indem sie überproportional oft über Konflikte und Probleme berichteten. Schlagzeilen wie «Das wächst uns über den Kopf» (Bild, 1.6.2016) etablierten ein Bedrohungsnarrativ.
Der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl konstatierte bereits 2016:
«Die Medien haben es versäumt, die historischen und rechtlichen Dimensionen von Flucht angemessen zu erklären – und stattdessen auf emotionale Bilder und dramatische Begriffe gesetzt.» (Russ-Mohl: Medien und Migration, 2016) Auch das medienkritische Projekt Neue deutsche Medienmacher*innen e. V. kritisierte die unausgewogene Sprache in journalistischen Beiträgen dieser Zeit regelmäßig und gibt einen Leitfaden für kritische Berichterstattung heraus. Besonders problematisch war, dass rechte Begriffe wie «Asyltourismus» oder «Illegale» zwar oft verwendet, aber selten kontextualisiert oder zurückgewiesen wurden.
In der Folge entstanden sogenannte Echokammern: Während rechte Onlineportale wie PI-News, Compact oder Junge Freiheit gezielt Falschinformationen und rassistische Deutungen verbreiteten, reagierten große Medien zu langsam oder unentschlossen. So konnten sich rechte Erzählmuster tief in den gesellschaftlichen Diskurs einschreiben. Aber auch rechte Chats, Telegram-Nachrichten oder Memes verbreiteten sich in den sozialen Medien schnell weiter – auch außerhalb rechter Filterblasen.
Warum stieg rechte Gewalt ab 2015 stark an?
Aufgrund der medialen Verbreitung rechter Narrative (vgl. Frage 5) – etwa, dass an der «Integrationsbereitschaft» der Schutzsuchenden gezweifelt wird, oder «Deutschland der Katastrophenmodus» drohe, entstand ein Klima der Angst und Verunsicherung. Rechte Gewalttaten nahmen massiv zu: Laut Bundeskriminalamt wurden allein 2015 fast tausend Straftaten gegen Geflüchtetenunterkünfte registriert – darunter Drohungen, Körperverletzungen und Brandanschläge. In den sächsischen Orten Freital, Heidenau und Clausnitz kam es zu Angriffen auf Geflüchtete, die von johlenden Menschenmengen begleitet wurden. Der ehrenamtliche Bürgermeister von Tröglitz (Sachsen-Anhalt) trat zurück, nachdem er persönlich bedroht worden war, weil er nach einem Brandanschlag auf die Unterkunft vor Ort Menschen aufnehmen wollte. Mehr als 200 Mal wurden 2015 Geflüchtetenunterkünfte angegriffen.
Die rechten Gewalttaten nahmen nicht zufällig dermaßen zu – sie waren Teil einer strategisch geschürten Eskalation (vgl. Frage 7 und 8).
Welche Rolle spielte Pegida?
Bereits Anfang 2015 liefen in Dresden jeden Montag Tausende Menschen bei «Pegida» mit – einer rechten Protestbewegung, die den Begriff «Islamisierung» ins Zentrum rückte. Pegida steht für «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes». Die Bewegung entstand Ende 2014 und begann als angeblich «bürgerlicher Protest», war jedoch von Anfang an von Rassismus, Verschwörungsideologien und antimuslimischem Hass durchzogen. Führende Köpfe wie Lutz Bachmann fielen mit Hitler-Fotos, antisemitischen Kommentaren und Verbindungen ins rechtsextreme Milieu auf.
Pegida war keine Randerscheinung: Ihre Demonstrationen prägten über Monate das Bild vieler deutscher Innenstädte und gaben rechten Parolen eine neue Sichtbarkeit. Besonders in den sozialen Medien sorgte Pegida für eine Radikalisierung des Tons – und schuf eine Stimmung, in der die Alternative für Deutschland (AfD) leicht Anschluss fand (vgl. Frage 8).
Wie wurde die AfD zur parlamentarischen Stimme der extremen Rechten?
Parallel zu Pegida (vgl. Frage 7) radikalisierte sich die AfD. Im Jahr 2013 ursprünglich als Anti-Euro-Partei gegründet, durchlief sie 2015 unter Frauke Petry und später Alexander Gauland eine nationalistische Wendung. Die AfD inszenierte sich als einzige politische Kraft, die dem vermeintlichen «Staatsversagen» entgegenstehe. Ihre Wahlergebnisse stiegen rapide: Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 2016 erreichte sie 24,3 Prozent, in Baden-Württemberg 15,1 Prozent. In den Bundestag zog sie 2017 erstmals mit 12,6 Prozent ein – ein massiver Erfolg für die rechte Partei.
Mitten in den Debatten um Flucht, Grenzen und Identität verschob sich ihr inneres Machtverhältnis zugunsten des völkisch-nationalistischen Flügels. Die Flüchtlingspolitik wurde zum Katalysator dieser Transformation. Die Partei erkannte früh das Mobilisierungspotenzial von Angst. Auf Flyern, in Reden und Social-Media-Kampagnen zeichnete sie ein Bild der «Überfremdung», des «Kulturkampfs» und «Untergangs des Abendlandes». Flüchtlinge wurden pauschal als Sicherheitsrisiko dargestellt, ihre Präsenz als Angriff auf das «deutsche Volk». Der Begriff «Remigration», ursprünglich von rechtsextremen Netzwerken wie dem Institut für Staatspolitik geprägt, fand zunehmend Eingang in AfD-Rhetorik.
In dieser Phase wurde die AfD zur parlamentarischen Stimme der extremen Rechten. Sie organisierte sogenannte «Spaziergänge» (wie ehemals Pegida), agitierte gegen Willkommensinitiativen und diffamierte Geflüchtete wie Unterstützer*innen gleichermaßen. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern konnte sie mit dieser Strategie massiv zulegen – teilweise auch, weil andere Parteien ihr thematisch hinterherliefen, anstatt ihr entschieden zu widersprechen.
Besonders deutlich wurde dieser Rechtsruck durch den Einfluss des «Flügels», einer vom Verfassungsschutz später als rechtsextrem eingestuften Strömung rund um Björn Höcke (der offiziell 2020 aufgelöst wurde). Höckes Aussagen, das Holocaust-Mahnmal sei ein «Denkmal der Schande» oder man werde «in hundert Jahren die gesamte Flüchtlingspolitik als einen großen Fehler sehen», stießen zwar auf öffentliche Empörung, festigten aber seine innerparteiliche Stellung.
Bis heute nutzt die AfD das Jahr 2015 als ideologisches Gründungsmoment ihrer Bewegung. Der sogenannte «Widerstand gegen die Grenzöffnung» wurde zum zentralen Narrativ, mit dem sie sich als «letzte Oppositionskraft» inszeniert. Dabei verfolgt sie längst ein autoritäres, nationalistisches und demokratiefeindliches Projekt, das nicht bei Migrationspolitik stehen bleibt – sondern Pressefreiheit, Justiz und Zivilgesellschaft angreift.
Der Aufstieg der AfD ist deshalb nicht nur das Ergebnis einer sozialen oder kulturellen Krise, sondern auch die Folge einer Erzählung, die nie klar und konsequent zurückgewiesen wurde.
Welche Bedeutung hat der «Sommer der Migration» heute, zehn Jahre später?
2025 ist nicht einfach ein Jubiläum – es ist ein Prüfstein. Die politischen Verschiebungen der vergangenen Jahre zeigen, dass sich die Kämpfe um Erinnerung, Sprache und politische Handlungsspielräume erneut zuspitzen. Rechte Narrative haben sich nicht nur in der AfD radikalisiert, sondern sind bis weit in die gesellschaftliche Mitte vorgedrungen – medial, sprachlich, parlamentarisch.
Begriffe wie «Remigration» oder «illegale Einwanderung» prägen weiterhin die Schlagzeilen, während gleichzeitig rechtswidrige Praktiken wie Pushbacks an den EU-Grenzen oder Sammelabschiebungen medial begleitet, aber ihre Unrechtmäßigkeit kaum hinterfragt wird. Der öffentliche Raum für Menschenrechte, Asyl und Solidarität schrumpft – politisch wie diskursiv.
In dieser Situation geht es nicht nur darum, die Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen im Sommer 2015 zu verteidigen, sondern auch darum, neue Perspektiven auf Migration sichtbar zu machen und der Normalisierung rechter Politik konsequent zu widersprechen.
Mit Blick auf 2015 gilt es aber auch, Fehler nicht zu wiederholen. Den rechten Narrativen andere Erzählungen entgegenzusetzen, in journalistischen Beiträgen auf die eigene Sprache zu achten – aber insbesondere auch, rechte Gewalt ernst zu nehmen und Opfer – sowohl Migrant*innen als auch Geflüchtete, solidarische Organisationen und das Ehrenamt – zu schützen. Der sich bereits vollziehende Rückzug vieler Hilfsorganisationen und kleinerer Bündnisse, insbesondere im ländlichen Raum im Osten Deutschlands, darf nicht kommentarlos hingenommen werden. Hier braucht es solidarische Unterstützung und staatliches Hinschauen.


