
Die aktuellen Ereignisse in Israel / Palästina lassen jegliche Vorstellung von einem friedlichen Nebeneinander noch weniger realistisch erscheinen, als wie vor dem 7. Oktober. Dennoch gibt es auch eine lange Tradition von Überlegungen zu einem friedlichen Nebeneinander. Daran erinnert jetzt ein neues Buch des lange Jahre an der Universität Tel Aviv lehrenden, heute emeritierten Historikers Shlomo Sand.
Sand hatte als Spezialist für die intellektuelle Geschichte Frankreichs, insbesondere für den Theoretiker des revolutionären Syndikalismus Georges Sorel, im Wesentlichen ein Echo im Kreis der Fachhistoriker gefunden. Das änderte sich schlagartig im Jahre 2008 mit einem Buch, mit dem er die Fragestellungen moderner Nationalismusforschung zur «Erfindung von Nationen» auf die jüdische Geschichte von der Antike bis zum Mittelalter anwandte, wie sie seit dem Auftreten des Zionismus als dessen «nationale Erzählung» verkündet wurde. Dem folgte ein Band über die Entwicklung der Grundlagen des politischen Programms des Zionismus.[1]
Reiner Tosstorff ist apl. Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. U. a. verfasste er eine Reihe von Beiträgen für die fünfbändige Reihe «Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken» der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Ohne hier weitere seiner Werke aufführen zu können, ist eine andere wichtige Voraussetzung für das hier zu besprechende Buch sein politischer Werdegang, wie er im Vorwort der neuesten Publikation betont.[2] Sand, geboren 1946 in einem Flüchtlingslager in Linz, kommt aus einer polnisch-jüdischen kommunistischen Familie, die als Überlebende des Holocaust nach Israel kam. Zunächst im Umkreis der Kommunistischen Partei (KP) Israels aktiv, radikalisierten ihn die Erfahrungen als Soldat im Krieg von 1967 und führten ihn in die erklärt antizionistische Organisation Matzpen, die, beeinflusst von der internationalen Neuen Linken, aus dem Zusammenschluss mehrerer antistalinistischer Gruppierungen links von der KP Anfang der 1960er Jahre entstanden war. Doch war auch ihr das weltweite Schicksal der 1968er Bewegung beschieden, in einem Spaltungs- und Zersplitterungsprozess zu enden, zumal sich auch die große Hoffnung zu Beginn der siebziger Jahre auf die Herausbildung einer starken und eigenständigen palästinensischen und arabischen Linken bald zerschlagen sollte. Diese wäre nicht zuletzt auch ein wichtiger Beitrag zur Realisierung einer «Zwei-Staaten-Lösung» gewesen. Heute definiert er seinen eigenen Standpunkt als weder zionistisch noch antizionistisch, sondern als postzionistisch.
Die Geschichte einer Minderheitströmung
Während sich in der Realität der letzten Jahrzehnte immer stärker eine faktische «Ein-Staaten-Lösung» durchsetzt, da das Gebiet der «palästinensischen Autonomie» immer stärker durch die Ausdehnung jüdischer Siedlungen eingeschränkt wird und damit immer weiter von der Möglichkeit zur Keimzelle eines palästinensischen Staates entfernt ist, will Sand mit dem hier vorliegenden Buch auf die Geschichte einer Minderheitsströmung im Zionismus hinweisen. Diese, zwar immer an den Rand gedrängt, hatte ein klares Bewusstsein davon, dass jüdische Siedlung in dem vom osmanischen Reich übernommenen Palästina nur eine deutliche Minderheit der Gesamtbevölkerung darstellen würde. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer wie konkret auch immer ausgestalteten binationalen Lösung.
Sand verfolgt nun die Überlegungen dieser Minderheit in ihren verschiedensten Ausprägungen von den allerersten Anfängen gegen Ende des 19. Jahrhundert bis heute. Das artikulierte sich zunächst in einem eher kulturell geprägten Verständnis des Zionismus, für das deshalb auch genauso selbstverständlich eine Partnerschaft mit den arabischen Bewohnern notwendig sein müsste, in deren Gebiet man ja erst immigriert war. Die bekanntesten Vertreter dieser Position fanden sich in der 1925 gegründeten Intellektuellen-Gruppierung Brit Schalom um Martin Buber, Hans Kohn und Gershom Scholem. Stärker politisch begründete Herangehensweisen wurden dagegen auf der Linken artikuliert. In diesem breiten Spektrum verfolgten zahlreiche weitere Individuen oder kleine Zirkel die verschiedensten Ansätze zu einem irgendwie ausgestalteten bi-nationalen Nebeneinander.
Doch solche Überlegungen, die zunächst noch auf einen wie auch immer überwölbenden staatlichen Zusammenhang abzielten, hatten natürlich mit der Gründung des Staates Israel und bei gleichzeitiger Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems, aber ohne eigene Staatsgründung, praktisch den Boden unter den Füßen verloren. Damit war das Problem zweifellos nicht aus der Welt geschafft, sondern sollte nun, vorangetrieben durch die verschiedenen Kriege und vor allem seit der Besetzung der Westbank, der Golanhöhen und Gazas im Jahre 1967 mit dem Beginn der jüdischen Siedlungspolitik ständig neue, die Möglichkeiten zu einem binationalen Nebeneinander ohne Asymmetrien dabei immer stärker erschwerende Formen annehmen. Auch hier gibt Sand einen detaillierten Überblick, wobei ebenso nur die wenigsten Protagonisten über Israel hinaus bekannt sind. Sie hier im Einzelnen aufzuführen, würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, zumal es auch sehr verschiedene Ausgangspunkte waren, die sie bewegten. Sie reichten von realpolitischen Nützlichkeitserwägungen bis hin zu Überlegungen zu einer durch den gemeinschaftlichen Raum des Nahen Ostens bedingten unvermeidlicherweise zusammenwachsenden Identität.
Im Wesentlichen folgt der Autor der zeitlichen Abfolge. Doch es handelte sich nicht immer nur um lineare, klar ineinander übergehenden Entwicklungen bei den einzelnen Akteuren. Manche zogen sich zurück, wandten sich anderen Überlegungen zu und so weiter. Ein Personenregister wäre dabei zur besseren Orientierung sehr nützlich.
Sands Buch wurde unter dem Eindruck der Ereignisse seit dem 7. Oktober abgeschlossen, die wie eine Klammer die Darstellung in seinem Vor- und Schlusswort zusammenfassen. Der Überfall der Hamas wie das, was die Regierung Netanyahu seitdem als Antwort darauf gibt, zeigen die Möglichkeit auf, dass alles in einer apokalyptischen Katastrophe endet. Zumal realistisch gesehen das Wachstum der jüdischen Siedlungen faktisch einer Zwei-Staaten-Lösung den Boden entzogen hat. Umso drängender bleibt die Findung eines binationalen Nebeneinanders auf der Basis eines Ausgleichs von individuellen wie Gruppen- (oder nationalen) Rechten in wie auch immer gearteten Überlegungen zu einem föderalen oder konföderalen Modell, wie er sie diskutiert, auch wenn das der perfekten Quadratur des Kreises gleichkommt. Vielleicht liefert das Eintauchen in entsprechende historische Debatten, so wenig erfolgreich sie auch blieben, doch wenigstens einen Hoffnungsschimmer, dass hieraus einmal ein Anknüpfungspunkt zur Entwicklung einer politischen Lösung entstehen könnte. So liefert dieser detaillierte Überblick über die "nicht genommenen Wege" einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Komplexität der Situation, für die es keine einfache Lösung geben wird. Mag man daraus auch einen Schimmer Hoffnung erkennen wollen, so wird das leider erst einmal nicht verhindern können, dass das menschliche Leid noch ungeahntere Ausmaße annehmen wird.
Shlomo Sand: Ein Staat für zwei Völker? Die Idee des Binationalismus in der zionistischen Bewegung und die Zukunft Israels in Palästina; Unrast Verlag, Münster 2025, 225 S., 18 Euro
[1] Deutsche Ausgaben: Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010; Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit, Berlin 2012/2014.
[2] Sehr viel ausführlicher als hier ist er auf seinen politischen und beruflichen Werdegang allerdings in der Einleitung zu seinem Buch The Words and the Land. Israeli Intellectuals and the Nationalist Myth, Los Angeles 2011, S. 7 - 23 eingegangen.