Nachricht | International / Transnational - Europa Nach dem Brexit: «Demokratische Teilhabe» - aber wie?

Die Entscheidung Großbritanniens ist ein Albtraum für die EU-Eliten

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Ingar Solty,

Der Albtraum der ökonomischen und politischen Eliten in Europa ist nun also Realität geworden: Eine Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – eigentlich ja bloß ein taktisches Manöver des (noch) amtierenden Premierministers David Cameron, seine Wahlchancen innerhalb seiner Partei der britischen Konservativen zu erhöhen – hat diesen «Brexit» gebracht.

Die Hoffnung auf den zuletzt vielbeschworenen, britischen Pragmatismus angesichts der massiven Warnungen der Eliten an die Massen – vor tiefer Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, sogar Krieg – haben sich zerschlagen. Auch der Mord eines Rechtsextremen an der proeuropäischen Labour-Politikerin Jo Cox, der kurzzeitig einen Umschwung in den Umfragen andeutete, hat dieses Ergebnis offenbar nicht mehr beeinflussen können.

Und auch wenn es eine linke Kampagne für den EU-Austritt gab («Lexit»), scheint die Abstimmung europaweit Wasser auf die Mühlen der rechten EU-Gegner zu sein. Schon jetzt frohlockt der Führer der niederländischen Rechtspopulisten, Geert Wilders, es werde zu weiteren Volksabstimmungen kommen (müssen) und die Niederlande würde als nächstes Land die EU verlassen. Und tatsächlich wäre das nicht unrealistisch, insofern auch in Deutschland und Spanien die Hälfte der Bevölkerung eine negative Haltung zur EU hat – und in Frankreich sogar 61 Prozent und in Griechenland 71 Prozent.

Die entscheidende Frage ist: Wie reagieren die bürgerlichen Eliten auf die für sie so ungewöhnliche Defensivsituation? Welche politischen Schlussfolgerungen ziehen sie aus ihrem Super-GAU, aus diesem «Einschnitt für Europa» (Angela Merkel)? Wie wollen sie die Volksmassen wiedergewinnen? Denn, dass sich hinter der regionalen Spaltung im Abstimmungsverhalten vor allem eine Klassenspaltung zwischen «Brexit»-orientierten (Arbeiter-)Massen einerseits und «Remain»-orientierten, kosmopolitischen Eliten (v.a. im Londoner Speckgürtel) verbirgt, zeichnet sich schon jetzt ab. Und auch bei den französischen und niederländischen Volksabstimmungen über die EU-Verfassung vor elf Jahren war diese Spaltungslinie entscheidend. Denn die EU war und ist ein Elitenprojekt.

Ein Teil der Eliten, gerade auf dem bürgerlich-liberalen Flügel, knüpft nun offenbar an das antidemokratische Erbe des Liberalismus an. So kehrte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im großen FAZ-Interview vom 22. Juni nochmal sein spezialgelagertes Demokratieverständnis heraus, indem er sich nach der Vergangenheit sehnte, als die EU weitgehend ein von den Massen unhinterfragtes Elitenprojekt war. Er habe immer jene Politiker wie Helmut Kohl bewundert, die gesagt hätten: «Was jetzt zur Entscheidung ansteht, wird in der öffentlichen Meinung oder im Parlament meines Landes auf massive Ablehnung stoßen, aber ich billige es trotzdem, weil es hier um das Europa von morgen geht.»

Gegen dieses «Weiter-wie-bisher» richten sich im bürgerlichen Lager jetzt aber auch andere Stimmen. Der FAZ-Redakteur Klaus-Dieter Frankenberger hat Recht, wenn er in die Richtung dieser liberalen «Supereuropäer» kritisch anmerkt, die Antwort auf den «Brexit» müsse eine Demokratisierung der EU sein. «Der Verlust von Wählerakzeptanz» könne «nicht länger einfach ignoriert oder verdrängt werden. Wen jetzt», so Frankenberger mit Bezug auf eine Initiative des liberalen EU-Politikers Guy Verhofstadt, «der integrationspolitische Furor» packe und «wer nun die Chance zu ‹Mehr Europa gekommen›» sehe, der habe «die Tragweite des Brexit nicht verstanden.» Die «Leute» wendeten «sich ab», weshalb es «in Zukunft vielmehr als bisher um demokratische Teilhabe gehen» müsse.

Interessanterweise schweigt sich Frankenberger jedoch darüber aus, wie diese denn konkret auszusehen hätte. Dabei zeigt die Geschichte der europäischen Integration, dass die Zustimmung der Massen zum Elitenprojekt EU - gemessen etwa im Eurobarometer – immer von materiellen Zugeständnissen an die Bevölkerungen abhing. Das heißt, die Legitimität der EU – eines Staatsprojektes (bislang) ohne Staatsnation – war und ist in erster Linie eine Frage dessen, was Politikwissenschaftler Output-Legitimität nennen. Mit Sicherheit nicht getan wäre es deshalb durch Maßnahmen der formellen Verfahrensdemokratisierung, wie zum Beispiel die Direktwahl des EU-Präsidenten oder Referenden über Kleinteiliges – so wie dies EU-Technokraten und abstrakte EU-Enthusiasten häufig als Allheilmittel gegen das von ihnen in Sonntagsreden immer mal wieder kritisierte «Demokratiedefizit» der EU anpreisen.

Anstatt solcher Maßnahmen, die bloß auf das abzielen, was Politikwissenschaftler als prozedurale und Input-Legitimität bezeichnen, muss jede Diskussion über «demokratische Teilhabe» grundlegende Fragen über die neoliberale Integrationsweise und den bislang von den EU-Eliten eingeschlagenen Weg im Management der Eurokrise beginnen.

Die im Zuge der Krise beschlossene, neue europäische Wirtschaftsregierung versucht bislang vergeblich, die strukturellen Ungleichgewichte innerhalb der EU auf dem Weg der – mit dem Kredithebel erzwungenen – «inneren Abwertung» zu beheben, d.h. auf dem Weg von Rentenkürzungen, Mindestlohnsenkungen, dem Rückbau öffentlicher Beschäftigung, dem Abbau von sozialstaatlichen Leistungen von der Arbeitslosen- bis zur Krankenversicherung, der auf Lohndumping abzielenden Ersetzung von Flächen- durch Haustarifverträge und der Privatisierung öffentlichen Eigentums.

Die neue europäische Wirtschaftsregierung baut aber nicht nur Soziales ab, sondern ist auch in ihrer Umsetzung durch und durch undemokratisch. Denn nichts anderes bedeutet die wirtschafts- und sozialpolitische Entmachtung der nationalen Parlamente durch Maßnahmen wie das EU-»Sixpack«, das automatische EU-Sanktionen bei der Neuverschuldung zur Folge hat, oder die neuen nationalen Wettbewerbsräte, mit denen den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten faktisch die Lohnpolitik diktiert wird.

Dabei betreffen diese Maßnahmen ja auch nicht nur die EU-Randstaaten von Griechenland bis Irland, sondern auch EU-Kernstaaten wie Deutschland oder Frankreich, weshalb der österreichische Rechtswissenschaftler Lukas Oberndorfer auch von einer Politik der «Troika für alle» spricht.

Bei alledem wird die EU in gleichem Maße autoritärer, wie sie unsozialer wird. Nichts Anderes zeigen etwa die drastischen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheitsrechte von Spanien bis Frankreich.
Im Übrigen ist auch die Forderung nach einer haushaltspolitischen und legislativen Stärkung des Europaparlaments als Mittel zur Behebung des «Demokratiedefizits» der EU ein Papiertiger, wenn sie nicht mit einer grundsätzlichen Neuverhandlung der EU-Primärverträge einhergeht. Denn diese machen eine soziale und ökologische Highroad-Exit-Strategie aus der Eurokrise, die den Lebensstandard der Volksmassen erhöhen anstatt absenken würde, grundsätzlich unmöglich. So wäre etwa der vom Europäischen Gewerkschaftsbund geforderte europäische Marshall-Plan – mit einer sozialen und ökologischen Industrie- und Strukturpolitik – heute ein Verstoß gegen geltendes EU-Recht, wie etwa gegen den Artikel 126 des «Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union».

Faktisch aber war dies seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987, die mit dem Einstimmigkeitsprinzip in Fragen der Fiskalpolitik, Finanzmarktregulierung etc. die Einzelstaaten gezielt in Standortkonkurrenz zueinander brachte, und dem Maastricht-Vertrag von 1992 ja der eigentliche politische Zweck der europäischen Integration: Die Unmöglichmachung jedweder sozialen Alternative zur neoliberalen EU und die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik über diese Formen der transnationalen Staatlichkeit.

Das heißt aber, wer von größerer «demokratischer Teilhabe» der Massen am Elitenprojekt EU spricht, der muss erstens kurzfristig ein Ende des Austeritätskurses fordern und langfristig über eine grundlegende Alternative zum bisherigen europäischen Einigungsprozess nachdenken, bei dem der Lebensstandard der EU-pragmatischen Volksmassen gehoben und nicht systematisch gesenkt wird.

Denn wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch konstatiert hat: Demokratie ohne soziale und materielle Unterfütterung ist keine Demokratie, sondern nur noch eine Hülle: «Postdemokratie». Da die EU-Primärverträge die EU aber grundsätzlich postdemokratisch machen, kann «demokratische Teilhabe» zweitens nur bedeuten, dass die europäische Einigung grundsätzlich neu zu konzipieren, Europa neu zu (be-)gründen wäre. Denn im Rahmen der realexistierenden Europäischen Union, die als Herrschaftsprojekt und Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses der Klassen entschlüsselt werden muss, war und ist eine solche Teilhabe bislang nicht vorgesehen – und zwar prinzipiell nicht.

Erstveröffentlichung in der Tageszeitung neues deutschland, 26.6.2016