Der Digitale Kapitalismus ist schon seit einiger Zeit ein buzzword in den Sozialwissenschaften: Neue digitale Technologien verändern bisher stark industriell geprägte Wirtschafts- und Arbeitsmodelle. Firmen wie Foodora, Uber oder AirBnB ersetzen innerhalb kürzester Zeit klassische Wirtschaftszweige. Was auf der einen Seite nach neuen Freiräumen und Flexibilität klingt, sorgt auf der andere Seite für unsichere Arbeits- und damit auch oft Lebensverhältnisse. Und das sorgt bei den Betroffenen für Widerstand. Der digitale Kapitalismus und die Frage nach seinen Auswirkungen treibt die Sozialwissenschaften seit einiger Zeit um, wie die große Zahl an Publikationen, Konferenzen und (Fach-)Tagungen zeigt.
Das studentische Tutorium Arbeitskämpfe im digitalen Kapitalismus | Widerständigkeit und Organisation im Postfordismus am Institut für Sozialwissenschaften (ISW) der Humboldt- Universität zu Berlin (HU) widmete sich diesem Thema mit besonderem Fokus auf die Arbeitnehmer_innen-Perspektive und der Frage, was der digitale Kapitalismus für Arbeitsbedingungen und damit einhergehende Ausbeutungsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse und Arbeiter_innenmacht bedeutet. Die offene Tagung, welche im Anschluss des Tutoriums vom 21. bis zum 23. Juli 2017 stattfand, hatte zum Ziel, universitäre, aktivistische, gewerkschaftliche und betroffene, arbeitende und mehrwertgenerierende Personen zu vernetzen und einen Ort zu schaffen, an dem diese über Kämpfe im, mit und gegen den digitalen Kapitalismus miteinander ins Gespräch kommen. Erste empirische Forschungen sollten präsentiert und diskutiert werden. Gelungen ist dies dank der engagierten Arbeit der Kursteilnehmenden und der Unterstützung des Asta TU Berlin, des RefRat der HU, der Fachschaftsinitative des ISW, des Laika Neukölln, der Initiative FreiFunk, dem PRstudB der HU, dem Buchladen zur schwankenden Weltkugel, dem ISW, dem BolognaLab der HU, der HU Technikabteilung und nicht zuletzt der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Der autonome und interdisziplinäre Charakter, welcher schon das Projekttutorium prägte, trat im Programm der Tagung deutlich zu Tage. Die Besetzung der Panels zeichnete sich durch eine fruchtbare Mischung aus einer aufstrebend wissenschaftlichen, journalistischen und (gewerkschaftlich)-aktivistischen Perspektive aus.
Den Auftakt der Tagung bildete das Panel Digital, prekär, vereinzelt? Neue Arbeit in der Plattformökonomie welches außerhalb der universitären Räume im Laika Neukölln stattfand. Nach einer kurzen Vorstellung der Idee der Tagung durch Valentin Niebler führte Susanne Lang ins Thema ein, indem sie am Beispiel Uber über Netzwerkeffekte sprach. Anschließend präsentierten die Studierenden Sophie Emrich, Manon Le Bon und Yannick Ecker (HU Berlin) Zwischenergebnisse ihres Forschungsprojekts zu Foodora, Deliveroo und Deliverunion. Sie zeigten, wie der Blick auf die Arbeit im digitalen Kapitalismus durch (post)operaistische Konzepte geschärft werden kann. Abgerundet wurde der Einstieg durch den Beitrag des FAU-Aktivisten Holger Marcks, der einen Prozess der Fortsetzung der Rationalisierung mit Mitteln der Digitalisierung beschrieb, welcher als Aushöhlung von Arbeiter*innenmacht verstanden werden kann. Er ging jedoch auch auf die Möglichkeiten des Aufbaus von Gegenmacht ein, indem er Möglichkeiten einer «virtuellen» Organisierung aufzeigte. Die anschließende Diskussion profitierte von sehr unterschiedlichen Perspektiven und der Tatsache, dass sich viele Interessierte, Journalist_innen und (kommende) Vortragende in den Austausch einbrachten.
Während die Diskussion am Freitag als Einstieg ins Thema und damit eher breit und allgemein angelegt war, trugen die Vorträge und Diskussionen des Samstags zu einer differenzierten und dezidierten Auseinandersetzung mit den konkreten Manifestationen bei. Das zweite Panel widmete sich dem Thema Digital Labor: Click- und Crowdwork als neue Formen der Arbeit?Der Autor Matthias Becker las zum Einstieg einen kleinen Auszug aus seinem Buch Automatisierung und Ausbeutung und gab so einen Einblick in seine eigene Arbeitserfahrung im Digitalen. Becker kritisiert die Technikzentriertheit der breiten Debatte um die Digitalisierung. Hierbei werden die alten Widersprüche, welche in der neuen Arbeit fortleben, häufig unterschlagen. Neue Momente sieht Becker im (teil-)automatisierten (algorithmischen) Management, der Modularisierung, Vereinfachung und Standardisierung, sowie in neuen Kontrollformen des Managements (etwa durch Programme). Im zweiten Beitrag des Panels verwies Hannah Ulbrich (TU Berlin) auf die Potentiale der Digitalisierung und stellte dar, wie internes Crowdsourcing als Partizipationswerkzeug breite Beteiligung und realen Hierarchieabbau ermöglichen kann. Sarah Bormann (ver.di) erklärte zu Beginn ihres Beitrags den Begriff «Crowdwork» und stellte im Anschluss die Ergebnisse einer von ver.di durchgeführten Umfrage zu Crowdwork und Selbstständigkeit vor.
In der zweiten Veranstaltung des Tages thematisierte Christian Meyer in seinem Vortrag die Ambivalenzen von Digitalisierung in der Produktion, indem er das Verhältnis von technologischem Fortschritt und Veränderungen im Bereich der Arbeit im Kontext der sogenannten «Industrie 4.0» in den Blick nahm. Ambivalenzen bestünden demnach vor allem hinsichtlich möglicher Arbeitsersparnisse und Kontrollmöglichkeiten. Meyer betonte hierbei, dass Technologien prinzipiell nur eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verstehen sind. Jedoch seien digitale Technologien auch unter günstigen Kräfteverhältnissen nicht beliebig einsetzbar, was er an Beispielen von zentralen und dezentralen Steuerungskonzepten veranschaulichte. Kommentiert wurde dies im Anschluss von Aljoscha Jacobi, der sozialpolitische Stellschrauben betonte.
Eines der Highlights der Konferenz bildete das Panel International Perspectives: Labor Struggles in the Gig-Economy, welches die Widerstände von Arbeitenden bei Foodora und Deliveroo thematisierte. Moderiert von Stefania Animento berichteten «Rider» aus Turin, Barcelona, London und Berlin von ihren Herausforderungen im Arbeitsalltag, Organisierungsversuchen und Arbeitskampferfahrungen. Besonders die rechtliche Grauzone in vielen Ländern, welche Tätigkeiten in der Gig-Economy nicht als abhängige Beschäftigung anerkennen, erschwerte an vielen Orten den Zugang zu Arbeiter_innenrechten und die Organisierung. Animento betonte zu Beginn, dass die Unternehmen der sogenannten Gig-Economy ein «You can be your own boss»-Image der Arbeit propagieren. Die Folge ist, dass viele klassische Aufgaben der Kapitalseite, wie bspw. Kompensation für den Verschleiß von Arbeitsmaterial, Zuschläge für Wochenend- oder Spätschichten, Gefahren und Schlechtwetterzulagen nicht mehr übernommen werden und diese erneut erkämpft werden müssen. Das Panel zeigte auch, dass die Internationalisierung des Kapitals, auch durch staatliche Unterstützung und Gesetzeslücken, schneller voranschreitet, als die internationale Vernetzung einer widerständigen Perspektive gelingt. Mit dem Panel ist jedoch ein Austausch entstanden, der ein Schritt in diese Richtung ist, da «Rider» aus verschiedenen europäischen Ländern miteinander vernetzt wurden.
Das letzte Panel am Samstag Prekarisierung und Digitalisierung behandelte die Frage, ob eine neue Prekarisierung durch Digitalisierung oder Verschärfung alter Logiken erfolgt. Auch hier ergaben sich wesentliche Impulse aus studentischer Perspektive, indem Christian Hörner erste Ergebnisse einer Befragung vorstellte: Prekär, aber happy erscheinen die Digital Natives, die in einer Befragung prekäre Arbeitsformen vielmehr mit Freiheit als mit Einschränkungen verknüpfen. Inwiefern dies auf eine Normalisierung eines neoliberalen Lebensstils zurückzuführen ist, blieb offen. Heiner Heiland ging in seinem Beitrag auf das Phänomen Cloudwork ein, welches auch als Outsourcing beschrieben werden kann. Digitalisierung ermöglicht so eine Risikoabgabe nach unten. Das «neue» Element im Prozess der Digitalisierung ist nach Heiland in der Organisation von Arbeit zu suchen. Anders geht es Arbeiter_innen in etablierten Betrieben, wie Walid Ibrahim von der Universität Jena anhand von aktuellen Forschungsergebnissen darstellt. Hier erweisen sich Digitales und Prekarisierung als Amalgam.
Als hilfreich für ein besseres Verständnis des digitalen Kapitalismus und der damit verbundenen Widerstände und Kämpfe erwiesen sich während der Tagung die vorgetragenen Konzepte der studentischen und auch gewerkschaftsnahen Forschungen: Die Trennung des Phänomens in erstens plattformbasierte Disposition mit Hilfe von Apps und Softwarefirmen, die körperliche Arbeit intransparent und mit einem hohen Maß an sozialer Kontrolle und Disziplinierung verteilt und organisiert und somit die Arbeitger_innenposition und Manager zwar wandelt, aber nicht auflöst. In Zweitens hochgradig digitale Tätigkeiten und die digitale Vermittlung von Arbeit (Clickwork, Crowdwork) mit dem Wegfall des Managements, Arbeitgeber_innenposition und sozialer Verantwortung bei gleichzeitiger Fragmentierung und Vervielfältigung der Arbeit bzw. Tätigkeiten (Mezzadra/Neilson 2008), ohne dass hier Konzepte oder Ideen für eine Absicherung dieser Arbeit bisher tragen. Und Drittens in die Arbeit, die erbracht wird, um digitalen Kapitalismus zu ermöglichen, beispielsweise eine koloniale Struktur der Ausbeutung von Arbeiter_innen im globalen Süden, aber auch Sicherheitsfirmen und Serverfarmen etc.
Alle Formen haben gemein, dass sie (im deutschen, europäischen Kontext) Zuverdienst-Potentiale für einige Personengruppen versprechen, gleichzeitig aber Arbeitnehmer_innen-Rechte und Ressourcen aushöhlen, Prekarisierung im Sinne von unsicherer Beschäftigung und fehlenden Zukunftsperspektiven für die einzelnen Arbeitenden fest- und fortschreiben und keine soziale Absicherung für diese Arbeit zu greifen scheint. Als besonders verletzlich und damit als Opfer von Ausbeutung gelten typischerweise diejenigen in subalternen Positionen. Die Logik des Kapitals, Technologie zur Minimierung der Arbeit einzusetzen und diese zu minimieren, geht daher zur Zeit in erheblichem Maße auf: Kampf und Widerstand sichtbar zu machen, Strategien und dahinterliegende Ideologien (#Technikglaube, Es geht auch ohne Menschen) offen zu legen. Denn, so ließ sich in vielen der Vorträge und Diskussionen erkennen, bleibt der digital vermittelte Kapitalismus sozial strukturiert und ganz wesentlich von menschlicher, manueller Arbeit abhängig.
In der Abschlussdebatte am Sonntag wurde diese Trennung wieder eingeholt und wiederum breiter mit dem Journalisten und Publizisten Stephan Kaufmann und Valentin Domann von der FAU Berlin sowie der Präsentation von Forschungsergebnissen von Benjamin Herr aus Wien zur erfolgreichen Betriebsratsgründung bei Foodora über Möglichkeiten und Ressourcen des Widerstands und Organisierung diskutiert. An der Frage inwiefern bestehende Strukturen (Betriebsräte, Versammlungen, fester Arbeitsort) oder neue Ansätze (Bedingungsloses Grundeinkommen, regionale, syndikalistische und weniger fordistisch geprägte Gewerkschaftsstrukturen) Lösungen der aufkommenden Herausforderungen bieten, entspann sich eine bis in den Nachmittag gut besuchte und rege Debatte.
Geschlecht als strukturierende und ordnende Kategorie, die sich auch in den sich verändernden Strukturen und Manifestationen eines digital vermittelten Kapitalismus niederschlägt, wurde selten systematisch bedacht. Insbesondere mit Bezug auf prekäre Arbeitsbedingungen und emanzipative Potentiale gilt es hier, das Brennglas schärfer zu stellen, ohne dabei nur platitüdenhaft Chancen für Sorgetragende zu proklamieren. Gleichzeitig gilt es, für rassistische Strukturen und Interdependenzen die (Über-)Ausbeutung migrantischer Arbeit und den Zugang zu abgesicherten Beschäftigungsbedingungen und Staatsbürgerschaft als systematische und notwendige Bedingungen für die «neue» Arbeit genauer herauszuarbeiten. Wer leistet die manuelle Arbeit des Digitalen? Für wen ergeben sich Chancen? Wer ist verletzlicher und was sind zusätzliche Risiken? Der Anspruch jene Fragen quer zu den Panel-Themen mit zu diskutieren wurde nicht immer erfüllt. Auch die Beiträge der Konferenz fokussierten oft sichtbare, junge, männlich und weiße digital (vermittelte) Arbeit, wie durch die vielen Beiträge am Beispiel Foodora/Deliveroo deutlich wurde. Dies verweist auf empirische Leerstellen des Forschungsgebiets. Wir hoffen auf einen zukünftigen Austausch und (studentische) Forschungsarbeiten, die diesen blinden Fleck beleuchten.
Die Frage nach Geschlecht und Intersektionalität geht auch mit der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Digitalisierung und Reproduktionsarbeit einher. Damit ist nicht nur das Übergreifen, die (digitale) Ökonomisierung von Reproduktion(sfragen) (Essenslieferung, Helpling etc.) gemeint, sondern auch was die zunehmende Digitalisierung von Erwerbsarbeit, Produktion und der gesamten Lebenswelt (#SmartEverything) für die Reproduktionsarbeit bedeutet? Nicht nur Erwerbsarbeit wandelt sich, sondern mit ihr auch die Gestalt und Erfordernisse an Reproduktionsarbeit und das darin verwobene Geschlechterverhältnis. Dieses Dreieck befindet sich in einer Wechselbeziehung. Um dieser Leerstelle zumindest teilweise Rechnung zu tragen, gab es eine Posterausstellung in der die Manifeste von Wages for Housework und Wages for Facebook nebeneinander und miteinander sprachen. Denn «Wer die Sklaverei des Staubsaugers nicht versteht, wird auch die Sklaverei von Fließband und Bildschirm nicht verstehen!» (Lotta Feminista).
Eine Kooperationsveranstaltung vom studentischen Projektutorium «Arbeitskämpfe im digitalen Kapitalismus» an der HU Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.