Der Empfang in der Parteizentrale der SP in Amersfoort ist sehr herzlich: Nach einem kleinen Imbiss im lichtdurchfluteten Obergeschoss wird die zwanzigköpfige Delegation der nordrhein-westfälischen Rosa-Luxemburg-Stiftung durch die wichtigsten Räumlichkeiten des großzügigen Baus geleitet. Als das ehemalige Bankgebäude in sozialistische Hand überging, wurde medial kolportiert, die Socialistische Parteij (SP) – angeblich die reichste Partei der Niederlande – habe nun auch noch eine Bank übernommen. Immerhin die Tresore gibt es noch; dort lagert heute das Archiv – und manche munkeln, dass auch die in deutschen linken Kreisen zuweilen als Ballast empfundene Ideologie besser hinter dicke Stahltüren wandern sollte...
Im Vorraum sind einige Poster zu bestaunen, die plakativ zeigen, wie sich eine knallrote Tomate als Parteilogo vom statischen Beiwerk zu einer dynamisch durch die politische Landschaft fliegenden Frucht entwickeln kann. Das Flugobst symbolisiert zugleich die Leitidee der Partei, “van de straat naar de raad” zu gelangen und Aktivismus in Realpolitik zu transformieren. Wie dies gelingen kann, zeigt ein Beispiel aus Groningen, wo die wohnungspolitischen Positionen der Sozialisten auch von anderen Parteien aufgegriffen wurden, die inzwischen eine Rückkehr zum sozialen Wohnungsbau – auch volkshuisvesting genannt – fordern. Parteiübergreifend besteht nunmehr Einigkeit darüber, nach jahrzehntelangem Ausverkauf und Privatisierung den Anteil von Sozialwohnungen auf dem Wohnungsmarkt wieder deutlich über 40 Prozent steigen zu lassen – angesichts von Wartezeiten von bis zu 15 Jahren für die Anmietung einer bezahlbaren Wohnung etwa in Amsterdam eine längst überfällige Weichenstellung.
Doch was die Bewohnerinnen und Bewohner nicht selten in einer solchen Sozialwohnung erwartet, auf die sie im Extremfall eine halbe Generation lang gewartet haben, ist oft alles andere als das Traumziel einer langen Reise: Über 60 Prozent der Wohnungen sind schlecht unterhalten und häufig von Feuchtigkeit und Schimmel betroffen. Somit rennen die kommunalpolitisch Aktiven meist offene Türen ein, wenn sie direkt auf die Menschen vor Ort zugehen und öffentlichkeitswirksame Aktionen starten, um die Immobilienkonzerne in die Pflicht zu nehmen, für den Unterhalt der Wohnungen zu sorgen. Und dank der finanziellen und organisatorischen Unterstützung der im Anschluss vorgestellten Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihres u.a. für die Niederlande zuständigen Brüsseler Büros erfahren wir auf dieser von der RLS NRW organisierten Exkursion eine Menge darüber, wie es der SP gelingt, die Krise auf dem Wohnungsmarkt als Chance zu begreifen, um Menschen politisch zu aktivieren und die kollektiven Energien von der Straße in die Räte zu lenken.
Es ist ein bisschen wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel: Wo auch immer unsere Delegation aufschlägt – das Kernthema Wohnen manifestiert sich sogleich beim Eintreffen an der nächsten Station unserer dreitägigen Reise. So etwa auch bei der Ankunft an jenem "Student Hotel" im postmodernen Neubauviertel im wilden Westen von Amsterdam: Wie Pilze schießen hier gleichförmige Retortenbauten in die Höhe und mit ihnen die Mieten in solchen künstlichen Vierteln, die im Zeichen des Amsterdamer Tourismusbooms vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten verstärkt entstanden sind. Wenngleich die Zimmer und das Frühstück hervorragend sind, kann uns die auf ein junges Publikum ausgerichtete, gleichförmig heitere Musikbeschallung in der Hotel-Lounge nicht davon abhalten, die potemkinsche Fassade unseres kameraüberwachten ‚gläsernen Gefängnisses‘ zu reflektieren. Ohne gültiges Visum (sprich: Chipkarte) jedenfalls ist es nicht einmal möglich, eine Glastür in einem anderen Stockwerk außerhalb des eigenen Wohnbereichs zu öffnen.
Gleich am ersten Abend geht es dann noch zu einem Empfang der Amsterdamer SP-Fraktion ins sowohl kommunalpolitisch als auch kulturell genutzte Stadhuis. Auch hier geht es ums Schwerpunktthema Wohnen, das die sozialistische Partei seit 2014 zudem institutionell eng begleitet, indem sie den für diesen Bereich zuständigen Beigeordneten (wethouder) stellt, was in deutschen Kommunalverwaltungen etwa einem Dezernenten für Wohnungsbau gleichkäme. Auch in zwei der sieben Stadtteilparlamente (stadsdeelcommissies) ist die SP vertreten und tut ihr Bestes, um sich als ‚politischer Anwalt‘ der Sorgen und Nöte der Stadtteilbewohner im Norden und Südosten der Stadt anzunehmen.
Einer der beiden SP-Stadtteilvertreter im Norden von Amsterdam ist Rob, mit bürgerlichem Namen Robert Brand, der uns am nächsten Morgen durch das ehemalige Werftarbeiterviertel von Amsterdam Noord führt. Als Mitglied der – in kreisfreien Städten in NRW etwa mit einer Bezirksvertretung vergleichbaren – stadsdeelcommissie hat er sich darum verdient gemacht, seine bisherigen Aktivitäten als Stadtteilaktivist in das politische Gremium hineinzutragen. So ist es mit einer unter anderem von Rob mitgetragenen Kampagne gelungen, einen zwischenzeitlich geplanten großflächigen Abriss großer Teile des Viertels zu verhindern, wo im Zuge einer durchgreifenden Gentrifizierung auch von Geringverdienern bezahlbarer Wohnraum Luxusneubauten hätte weichen sollen.
Slopen? Bezopen! (‚Abreißen? Besoffen!‘) ist zur Begrüßung ein großflächiger Schriftzug zu lesen, der gut sichtbar an einer Sozialbaufassade unweit des Fährhafens angebracht ist, den wir Dank des in Amsterdams bestens vernetzten ÖPNVs mit einem der vielen Pendelboote vom Zentralbahnhof aus in wenigen Minuten erreicht haben. Dem von den SP-Aktivisten gebündelten, beharrlichen Anwohnerprotest ist es zu verdanken, dass die Kahlschlagsanierungspläne der Investoren bis heute nicht verwirklicht worden sind und die Chancen gut stehen, dass dies auch künftig so bleibt.
Unterstützt durch eine gute Medienarbeit ist es gelungen, die Proteste von der Straße in die politischen Gremien zu tragen, sodass inzwischen auch öffentliche Gelder in großem Stil die Hand genommen werden, um die Sozialwohnungen auf dem alten Werftgelände zu sanieren und auch die Bausubstanz im ältesten Teil des Viertels zu erhalten. Jene Gebäude entstanden zum Teil, während der Erste Weltkrieg in Europa tobte, von dessen Auswirkungen die damals neutralen Niederlande verschont blieben. Hiervon zeugen diverse Inschriften an den Türgiebeln der Häuser, wie zum Beispiel:
- "Es erhob sich Noahs Arche aus stürzenden Fluten, über denen der Blitz zuckt und heftiger Donner knallt. So stieg in Kriegszeiten, als Weltenstürme wüteten, dieses Bauwerk unverdrossen empor, von Gottes Schutz umhüllt."
- "Eisbär und Panther und gallischer Hahn nahmen den Kampf mit dem Adler auf. Wie die Kiefer und Klauen bluteten! Holland machte sich ruhig daran zu bauen. Was findet der Friede nach vier Jahren voller Leid? Der Adler sterbend, dies Bauwerk bereit."
- "Die Sonne des Friedens hatte sich verborgen. Hier beginnt friedliches Bauen. Der Zar ermordet, Wilhem verjagt. Man baut und arbeitet hier unverzagt. Der Friede kehrt zurück – vieles liegt am Boden. Dieses Bauwerk steht vollendet [da]."
Unsere nächste Station ist Amsterdam Zuidoost, wo die SP ebenfalls in der stadsdeelcommissie vertreten ist. Seit der Unabhängigkeit der ehemaligen niederländischen Kolonie Surinam ist dieser Stadtteil durch den wiederholten Zuzug einer Vielzahl von Migrantinnen und Migranten geprägt worden, was sich bis heute in einem migrantischen Bevölkerungsanteil von etwa zwei Dritteln widerspiegelt. Hier erfahren wir von der spezifischen Problemlage der Menschen im Südosten der Stadt, die insbesondere bei der Arbeitssuche oftmals Diskriminierungserfahrungen machen und durch einen Mangel an Lehrkräften sowie Schulschließung auch im Bildungsbereich benachteiligt werden. Unter anderem durch Beratungsangebote zur Unterstützung bei der Beantragung von Wohngeld oder Sozialhilfe sowie der Überwindung anderer bürokratischer Hürden leisten Aktive aus dem Umfeld der SP praktische Hilfe.
So wurde etwa erreicht, dass Menschen bei der Abwicklung bürokratischer Routinen begleitet und auch rechtlich beraten werden. Zudem steht die Umwandlung einer kürzlich geschlossenen Schule in ein Jugend- und Kulturzentrum sowie die Forderung nach der Sanierung von Wohnraum hoch auf der Agenda – hierbei konnten in den letzten Jahren bereits sichtbare Erfolge erzielt werden.
Abgerundet wird das Programm in Zuidoost mit der Teilnahme an einer Kranzniederlegung zum 27. Jahrestag des Absturzes einer Boeing 747, die am 4. Oktober 1992 nach zweifachem Triebwerkverlust eine Hochhauszeile im Herzen des Stadtteils rammte. 43 Menschen kamen bei der Havarie der mutmaßlich mit einer brisanten Waffenladung bestückten israelischen Transportmaschine ums Leben. In sehr berührenden Reden wurde dargelegt, wie sich nach der menschengemachten Katastrophe bei vielen Hinterbliebenen Trauer in Stärke verwandelte und diese wiederum den Opfern der Explosion einer Feuerwerkskörperfabrik in Enschede im Mai 2000 Beistand leisteten sowie 2003 auf Einladung Angehöriger der Toten des 11. September 2001 nach New York flogen, um ihre Erfahrungen der Trauerarbeit weiterzugeben. Zudem habe sich nach dem Flugzeugabsturz im Viertel Bijlmer das soziale Miteinander hin zu einem solidarischeren Umgang gewandelt, was bis heute spürbar sei.
Am letzten Tag der Exkursion führt uns der Rückweg in die einst reiche ehemalige Bergbaustadt Heerlen, die durch eine vollständige Abwicklung der Montanindustrie Mitte der 70er in den Sog einer Strukturkrise geriet, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Nachdem Heerlen einige Jahre lang die ärmste Gemeinde der Niederlande war, hat sie inzwischen die ‚Top 10‘ der Armutsstatistik verlassen und konnte u.a. unter Regie der SP, welche mit Abstand die stärkste Fraktion im Stadtrat stellt, zumindest das grassierende Drogenproblem lösen, unter dem Heerlen bis ins letzte Jahrzehnt spürbar litt.
Inzwischen hat auch der Bahnhof eine architektonisch ansprechende Aufwertung erfahren, die zudem mit der Schaffung neuen Wohnraums einherging. Doch die ‚schöne neue Welt‘ hat ihren Preis, wie auch der langjährige SP-Aktivist und Kommunalpolitiker Peter van Zutphen einräumen muss, als er unsere Gruppe abschließend zum Zug begleitet: Die Präsenz von Überwachungskameras in der Innenstadt ist fast flächendeckend und dürfte bei dem einen oder anderen Exkursionsteilnehmenden einen bedrückenden Eindruck hinterlassen haben. Denn (vermeintliche) Sicherheit darf niemals eine unverhältnismäßige dauerhafte Einschränkung von Freiheit bedeuten.
Dr. Ulrich Schröder (Dolmetscher der Exkursion)