Die Selbstbezeichnung «Nationalsozialistischer Untergrund», für den sich im Diskurs das ebenfalls selbst gewählte Akronym NSU durchgesetzt hat, bezieht sich auf ein Netzwerk deutscher Neonazis, in dessen Mittelpunkt eine terroristische Vereinigung, das so genannte Kerntrio aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, stand. Der Jenaer Neonaziszene der Postwendezeit entstammend, waren die drei mit der Hilfe eines umfangreichen Unterstützungsumfelds 1998 als «Zelle» untergetaucht. Von Bedeutung bei dem Entschluss «in den Untergrund» zu gehen waren als Blaupause rechtsterroristische Konzepte vor allem aus den USA: Insbesondere die «Turner Diaries» des US-Nazis William L. Pierce gelten als Inspiration auch der deutschen Nazi-Szene, die mit Zellenbildung und «leaderless resistance» in einen «Rassenkrieg» («Racial Holy War») zu ziehen meint, um der weißen «arischen Rasse» zum Sieg zu verhelfen (Sanders/Stützel/Tymanova 2013). Exemplare der «Turner Tagebücher» fanden sich bei dem Angeklagten Ralf Wohlleben, der Jenaer Szene- Größe André Kapke, dem «Trio» und zahlreichen weiteren Personen des NSU-Umfeldes auf den Computern.
Dem NSU werden neun rassistische Morde an den türkisch- und kurdisch-stämmigen Kleinunternehmern Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und dem griechischstämmigen Theodoros Boulgarides zwischen 2000 und 2006 zur Last gelegt. Alle hinrichtungsartigen Tötungen erfolgten mit der Tatwaffe Česká CZ 83, Kaliber 7,65 mm Browning. In einigen Fällen kamen auch andere Tatwaffen zum Einsatz. Beim Mordanschlag auf eine Streifenbesatzung, bei dem andere Schusswaffen zum Einsatz kamen, starb am 25. April 2007 die Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter, ihr Kollege Martin Arnold überlebte den Kopfdurchschuss wie durch ein Wunder.
Der gegen das «Trio» ermittelnde und Anklage erhebende Generalbundesanwalt (GBA) in Karlsruhe blieb bis zum Schluss des NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München bei der Version, es habe sich um eine «bestmöglich nach außen abgeschottet[e]» und von «ihren bisherigen Freunden weitgehend abgekapselt[e]» Vereinigung gehandelt, die dem erklärten Ziel folgte, «Menschen mit Migrationshintergrund in der ganzen Bundesrepublik durch die Begehung brutaler und entsprechend öffentlichkeitswirksamer Gewaltdelikte einzuschüchtern» (GBA 2013). Im Untergrund, so heißt es in der umfangreichen Anklageschrift, «ersannen [sie] ein Konzept, wie sie ihr gemeinsames ideologisches Ziel des ‹Erhalt(s) der deutschen Nation› und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne ihrer Ideologie nunmehr [...] planvoll umsetzen und verwirklichen konnten» (ebd.).
Der Sichtweise der Bundesanwaltschaft (BAW) widersprechen nicht nur die meisten der Angehörigen der zehn Mordopfer und einige Opfer der mindestens drei Sprengstoffanschläge. Ihr widersprechen auch der Verlauf der umfangreichen Vernehmungen im Rahmen des NSU-Prozesses in München, der (Stand Mitte 2017: 13) Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene (PUA) und unabhängige journalistische sowie Recherchen von antifaschistischen Initiativen. Sie weisen immer wieder auch auf die Selbstzeugnisse des NSU, nämlich den so genannten NSU-Brief und die NSU-Bekennervideos, hin. Im Bekennervideo etwa heißt es «Der Nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz – Taten statt Worte» (apabiz 2011). Schon hier ist der Bezug zu einem Netzwerk festzustellen. Es gibt ebenfalls Nachweise, dass sich die Untergetauchten im Jahr 2002 mit dem so genannten NSU-Brief an die bundesdeutsche Neonazi-Szene und insbesondere potentielle Unterstützer_ innen im ganzen Land wandten. In einigen Fällen lagen dem Brief auch nicht unbedeutende Geldbeträge bei (vgl. Weiss 2015). In dem NSU-Brief heißt es: «Der Nationalsozialistische Untergrund verkörpert die neue Kraft im Ringen um die Freiheit der deutschen Nation». Dieser Rekrutierungsbrief kann als Aufforderung an Gleichgesinnte – «Jeder Kamerad ist gefragt! Auch du!!!» – verstanden werden, sich «der neuen Bewegung» unter dem «Zeichen des NSU» und «Getreu dem Motto: Sieg oder Tod!» anzuschließen (ebd.). Der Sitzungsvertreter des GBA im Verfahren, Herbert Diemer, ließ dem gegenüber noch am 365. Prozesstag am 24. Mai 2017 verlauten: «Um eine Entdeckung zu vermeiden, beschränkten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ihren Kontakt in ihr früheres Umfeld auf das Nötigste» (NSU-Watch 2017).
Aufgrund der Blockade der Aufklärung des so genannten NSU-Komplexes vor allem durch die «Verfassungsschutz» genannten Inlandsgeheimdienste, aber auch durch andere Behörden und die Bundesanwaltschaft, ließ sich das Netzwerk des NSU bisher nur ungenügend oder gar nicht ausleuchten. Und doch lassen die Vernehmungen von rund 60 Angehörigen der bundesdeutschen, insbesondere der sächsischen Nazi-Szene, und hier vor allem von (einstigen) Mitgliedern des im Jahr 2000 verbotenen, deutschen «Blood & Honour»-Netzwerkes, kaum einen Zweifel an der Existenz eines Netzwerkes von Unterstützer_innen des NSU im Untergrund sowie konkret von Helfer_innen an den jeweiligen 13 Anschlagsorten aufkommen.
Die Rolle des GBA bzw. der Bundesanwaltschaft als Anklagebehörde, gleichzeitig aber auch als Hüterin der Staatsräson im NSU-Prozess wirft Fragen nach den Grenzen jener «lückenlosen Aufklärung» auf, die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Betroffenen des NSU-Terrors anlässlich der staatsoffiziellen Gedenkveranstaltung am 23. Februar 2012 versprach. «Indem V-Personen und die Rolle der Verfassungsschutzbehörden unter Leitung der jeweiligen Innenministerien zum Schutze des Regierungshandelns der Strafverfolgung entzogen werden können, wird die Staatsräson über die Aufklärung von Straftaten gestellt. In diesem Sinne schränkt die BAW informationspolitisch nicht nur die Transparenz über ihre eigenen Ermittlungen und die Erkenntnisse anderer Behörden ein, sondern auch eine mediale, prozessuale und politische Öffentlichkeit» (Greif/Schmidt 2016, vgl. auch Gengnagel/Kallert 2017).
Am 4. November 2011 kam es zur «Selbstenttarnung» oder dem «Auffliegen» des NSU nach einem Banküberfall in Eisenach. Nachdem ihr Fluchtfahrzeug von Polizeibeamten entdeckt wurde, fielen in dem Wohnmobil Schüsse. Am Ende der Löscharbeiten wurden in dem Fahrzeug die Körper zweier Männer gefunden, bei denen es sich um Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt handelte, die sich Behördenangaben zufolge im Innern des Wohnwagens mit einer «Pumpgun» (einem Selbstlade-Repetiergewehr) das Leben genommen haben sollen (Aust/Laabs 2014, 9ff.).
Wenige Tage später, am 11. November 2011 beginnt im Bundesamt für Verfassungsschutz die Vernichtung von Akten zum NSU-Komplex: Der Mitarbeiter Lothar Lingen (Dienstname) ordnet die Vernichtung von Akten an. Im Laufe eines Jahres werden von nun an im Bundesamt und diversen Landesämtern Hunderte von Aktenordnern mit mehr oder weniger eindeutigem NSU-Bezug vernichtet. Die Verfassungsschutzbehörden versuchen bundesweit ihre Arbeit zum Thema NSU der zurückliegenden 15 Jahre zu vertuschen, ihre Quellen, also Informanten, Spitzel oder V-Leute (Verbindungs- oder Vertrauensleute), vor Aufdeckung zu schützen, die eigene Verstrickung beim Aufbau von Nazi-Strukturen in Deutschland, deren Infiltration eben mit eigenen V-Leuten und deren gezieltes «Hochspielen» zu verschleiern (ebd.).
Selbst handfeste Skandale vermochten es nicht, einen öffentlichen Aufschrei gegen diese Art von Geheimdienstarbeit hervorzurufen: Auch der zumindest merkwürdige Tod eines wichtigen Zeugen, der etwa zum Einfluss des Ku-Klux-Klans auf das Geschehen hätte aussagen können, blieb ohne Folgen für den Verfassungsschutz. V-Mann Thomas Richter, in seiner Heimatstadt Halle/Saale «HJ-Tommy» genannt und beim Geheimdienst als «Corelli» geführt, wird am 7. April 2014 tot in seiner Zeugenschutz- Wohnung bei Paderborn aufgefunden. Zwei Jahre später werden in einem Tresor im Bundesamt des Verfassungsschutzes ein Handy und mehrere bisher nicht ausgewertete Sim-Karten Corellis gefunden (vgl. Aust/Laabs/Büchel 2016). Auch ein weiterer Zeuge verstarb auf ungeklärte Weise in Stuttgart, wo er in seinem Auto verbrannte (vgl. Feyder/Ullenbruch/Weißenborn 2016).
Ebenfalls im Frühjahr 2016 wurde bekannt durch Recherchen des Journalisten Dirk Laabs, dass es in Zwickau einen weiteren V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz gab, der «Manole» Marschner, der amtlich «Primus» hieß, soll in den Jahren 2000 bis 2002 Uwe Mundlos unter falschem Namen beschäftigt haben (vgl. Aust/Laabs 2016). Möglicherweise arbeitete auch Beate Zschäpe bei ihm in einem seiner neonazistischen Szeneläden. Die zahlreichen Enthüllungen dieser Art – zu nennen sind noch der ungeklärte Tat-Komplex von Heilbronn, die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme beim Mord in Kassel, die Rolle des V-Mannes «Piatto» in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und etliche weitere «Ungereimtheiten» – blieben ohne nennenswerte Folgen für die Ämter und wurden auch vor Gericht als «tatsächlich ohne Bedeutung» zurückgewiesen. Eine gesellschaftliche Reaktion auf den offensichtlichen Alltags- und manifesten institutionellen Rassismus in den involvierten Behörden hält sich bis heute ebenfalls in Grenzen. Die Konsequenzen des wohl größten Polizei- und Geheimdienstskandals in der deutschen Nachkriegsgeschichte bleiben für die Behörden unbedeutend. Ein Großteil der Empfehlungen des ersten NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses blieben bis dato unberücksichtigt, vor allem der «Verfassungsschutz» geht ohne Blessuren aus dem Skandal hervor (Busch 2016). Die Betroffenen des NSU versuchten, ihre Perspektive und ihr Wissen u.a. mithilfe eines informellen Tribunals Mitte Mai 2017 in Köln hörbar, ihre Forderungen nach Konsequenzen aus dem NSU-Komplex stark zu machen (Tribunal NSU-Komplex auflösen 2017).
Friedrich Burschel
Erschienen in:
Burschel, Friedrich: Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), in: Handlexikon Rechter Radikalismus. Herausgegeben von Klaus Ahlheim und Christoph Kopke, Münster 2017, S. 96-99.
Literatur:
- Antifaschistisches Presse- und Bildungszentrum (apabiz): Transkript Bekennervideo NSU [17.05.2017];
- Aust, S./Laabs, D.: Der NSU-Komplex – Die Jagd auf die Terroristen, ARD-Dokumentation vom 06.04.2016;
- Aust, S./Laabs, D.: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. München 2014;
- Aust, S./Laabs, D./Büchel, H.: Starb V-Mann Corelli durch Rattengift. In: Die Welt vom 08.06.2016, [17.05.2017];
- Busch, H.: Niederlage über wird belohnt. In: CILIP. Bürgerrechte & Polizei, H. 110, 2016, S. 3-7;
- Feyder, F./Ullenbruch, S./ Weißenborn, M.: Der Fall Florian Heilig. In: Stuttgarter Nachrichten vom 17.02.2016 [17.05.2017];
- Generalbundesanwalt: Verlesung der Anklage im NSU-Verfahren vor dem OLG München am 14. Mai 2013 (eigene Mitschrift), vgl. zusammenfassend [17.05.2017];
- Gengnagel, V./Kallert, A.: Staatsraison statt Aufklärung. Zur Notwendigkeit einer staatskritischen Perspektive auf den NSU-Komplex. Rosa-Luxemburg-Stiftung Analysen. Berlin 2017;
- Greif, I./Schmidt, F.: Staatsanwaltschaftlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt. Eine Untersuchung struktureller Defizite und Kontinuitäten am Beispiel der Ermittlungen zum NSU-Komplex und dem Oktoberfestattentat. Unveröffentlichte Masterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2016;
- NSU-Watch: Protokolle der Verhandlungstage [17.05.2017]; Quent, M.: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät.
- Weinheim/Basel 2016; Ramelow, B. (Hg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen. Hamburg 2013;
- Sanders, E./Stützel, K./Tymanova, K.: Taten und Worte. Neonazistische «Blaupausen» des NSU, In: Ramelow, B. (Hg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen. Hamburg 2013, 114-125; Tribunal NSU-Komplex auflösen [17.05.2017];
- Weiss, M.: Der NSU im Netz von Blood & Honour und Combat 18, vom 08.06.2015 [17.05.2017];
- Zimmerman, J./Wamper, R./ Friedrich, S. (Hg.): Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Münster 2015.