Kerem Schamberger ist ein deutsch-türkischer Aktivist aus der Kurdistan-Solidarität. Für die knapp 20.000 Follower seines Facebook-Kanals betreibt er eine Art «Ein-Mann-Nachrichtenagentur» über die Ereignisse im Nahen Osten. Er ist Autor des Türkei-Dossiers der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Bundesweit bekannt wurde er durch sein — schließlich aufgehobenes — Berufsverbot an einer bayrischen Universität und durch die Flut von Anzeigen durch die Münchener Polizei wegen des Teilens von Symbolen der — in Deutschland nicht verbotenen — kurdischen YPG in den sozialen Medien, die bereits in einer Hausdurchsuchung mündeten. Schamberger als Autor ist ein Garant für gut recherchierte und politisch spannende Inhalte. Und trotzdem war es die richtige Entscheidung, das Buch nicht allein, sondern gemeinsam mit Michael Meyen zu schreiben, seinem Professor, an dessen Fachbereich Schamberger Kommunikationswissenschaften studiert. Als gelernter Journalist ist Meyen ein Garant für eine flotte, gut lesbare und leicht zugängliche Texte.
Ein gut lesbares Polit-Buch
Herausgekommen ist ein Buch, das nicht nur politisch hochinteressant ist sondern sich auch noch sehr gut liest und gänzlich ohne den typischen linken oder kurdischen Polit-Sprech auskommt. Gleichzeitig beziehen die Autoren klar linke Positionen, etwa wenn sie die militärische Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Türkei oder die Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland kritisieren. Aber auch der kurdischen Bewegung gegenüber sind sie durchaus kritisch, etwa wenn sie das Narrativ einer sich vom mythischen Schmied Kawa über die Aufstände der 1920er Jahre bis in die Gegenwart reichenden nationalen Widerstandsgeschichte hinterfragen und auch das zeitweilig brutale Vorgehen der PKK gegen Abweichler*innen benennen. Kritisch diskutiert wird auch die Mitverantwortung der PKK am Wiederaufflammen des Krieges in Nordkurdistan 2015.
Dazu zitieren die Autoren die Journalistin Ezgi Basaran: Die PKK habe «die Zeichen falsch verstanden. Die Stimmen für die HDP nicht als Stimmen für den Frieden gedeutet, sondern als Rückenwind für die eigene Partei, genau wie die militärische Hilfe für YPG und YPJ aus dem Westen, und deshalb viel zu früh begonnen, die kurdischen Gebiete der Türkei nach dem Vorbild von Rojava umzubauen — in der Hoffnung, dass der Staat schon nicht so zuschlagen werde.» Ercan Ayboga, kurdischer Öko-Aktivist aus Diyarbakır, meldet hingegen Zweifel an dieser Deutung an: Hat der Staat nicht immer schon Gründe gefunden, um zuzuschlagen? Sind die Bestrebungen nach einer demokratischen Selbstverwaltung in Nordkurdistan selbst nicht viel älter, als das Experiment in Rojava?
Komplizierte Themen bekommen Farbe
Die Zugänglichkeit des Buches rührt auch daher, dass die Autoren sich ihrem Gegenstand immer wieder durch die Brille von konkreten Protagonist*innen nähern, deren Geschichte erzählt und deren Perspektiven geschildert werden. Die komplizierten Themen bekommen so Farbe und erschließen sich leichter.
Einer von ihnen ist Ismail Küpeli. Er wurde in der Türkei geboren und wuchs in Duisburg auf. Anfang der 90er traf er in der Antifa auf linke Kurden, und begann bald, sich auch wissenschaftlich mit der Kurdenfrage zu befassen. Heute untersucht er die Aufstände der 1920er Jahre - die Küpeli gar nicht mehr Aufstände nennen mag, weil es zwar brutalste Unterdrückung, aber kaum organisierten Widerstand gab. Über die Auseinandersetzung mit Küpeli und seinem Thema erfährt der/die Leser*in viel über die blutige Entstehung der Türkei.
Oder Rosa Hêlîn Burç, deren linkskurdische Familiengeschichte geschildert wird: Eltern, die vor der Repression nach Deutschland gingen. Deren Lebenshoffnung eine Revolution in Kurdistan war, die ihnen immer um die Ecke schien. «Mit dem Komplott gegen Öcalan war das vorbei. Ich glaube, das hat viele Menschen traumatisiert. Viele aus der Generation meiner Eltern. Nicht wenige haben sich umgebracht.»
Ismail Küpeli und Rosa Hêlîn Burç sind beide auch Autor*innen des Türkei-Dossiers der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Buch erfährt man nun viel über ihre Familiengeschichte, und über ihr heutiges politisches und wissenschaftliches Engagement.
Etwa Peter Schaber aus Österreich, der in Rojava war, und in der Befreiung von Raqqa an der Front kämpfte: Durch ihn erhält man viel über die Realität des Aufbaus einer neuen Gesellschaft im Nahen Osten — und über die PKK. Auch kritisches. Innerparteiliche Demokratie musste die Organisation «erst lernen. In den 1990er war das wie in jeder anderen ML-Partei. Vielleicht noch eine Ecke schlimmer, weil innerparteiliche Konflikte mit harter Repression ausgetragen wurden.» Schaber ist fasziniert vom Wechselspiel zwischen einer basisdemokratisch organisierten Bewegung und einer Kaderpartei. «Ich war bei ganz vielen Platzbesetzungen in halb Europa. Spontane Aufstände. (…) Da geht die Wut raus, aber es gibt keine Strategie und keine Kraft, die sagt, wir haben eine gemeinsame Linie. Das war in Kurdistan immer anders. Die PKK hatte von Anfang an einen Plan.» Deutlich widerspricht er dem häufig gezeichneten Bild von Rojava als einer faktischen Partei-Diktatur: «Die PYD wird massiv überschätzt. (…) Die Macht liegt bei den Räten. (…) Die PYD-Leute sitzen auch in den Räten. Aber da sitzen die anderen [Parteien] auch.»
Oder der Türke Erkin Erdoğan, heute Sprecher der linkspluralen Partei HDP in Berlin. Als 18-Jähriger wurde er zum Trotzkisten, als er im Gefängnis von Izmir die Lenin-Biographie des britischen Marxisten Tony Cliff in die Hände bekam. Seine Polit-Gruppe löste in den 2000er-Jahren große Irritationen in der türkischen Linken aus, als sie lauthals «Freiheit für Öcalan» auf türkischen 1.Mai-Demos forderte. Heute ist sie Teil der HDP, in der progressive Kurden und Türken zusammenarbeiten, und die schon zum zweiten Mal den Sprung ins Parlament schaffte. Ein echtes Novum für die Türkei.
Oder die in Bremen aufgewachsene und zur Friseurin ausgebildete Leyla Imret, die in ihre Geburtsstadt Cizre zurückkehrt und dort 2014 mit 26 Jahren zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt wird. Imret erlebt den demokratischen Aufbruch während des Friedensprozesses in Kurdistan, die Wahlerfolge der linken HDP und die Wiederaufnahme des Krieges durch Erdoğan. In Cizre wird dieser Krieg besonders brutal gegen die Zivilbevölkerung geführt: Dutzende Menschen werden in Kellern verbrannt. Imret versucht, zu helfen, und kann doch gegen die Repression nichts ausrichten. Sie wird per Dekret als Bürgermeisterin abgesetzt, vier mal verhaftet, und muss schließlich 2016 wieder aus der Türkei fliehen.
Schicht um Schicht erschließt sich durch die Blickwinkel der Protagonist*innen Geschichte und Gegenwart der Kurd*innen als einem «Volk im Widerstand — von der Welt im Stich gelassen.» Ihre sich kreuzenden Lebensgeschichten sind immer auch Leben zwischen Kurdistan, Deutschland und der Türkei. In ihnen spiegelt sich der transnationale Charakter der kurdischen Freiheitsbewegung, die heute in vielen Ländern aktiv ist: Im Westen ebenso wie in allen Ländern des Nahen Ostens, in denen Kurd*innen leben: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Thema des Buches sind die vielen Facetten der kurdischen Befreiungsbewegung: Der bewaffnete Kampf gegen die Assimilierungspolitik in der Türkei, die Revolution und der Aufbau einer basisdemokratischen und geschlechtergerechten Gesellschaft im nordsyrischen Rojava, die komplizierten Verhältnisse in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die politische Arbeit unter den Bedingungen einer scharfen antikurdischen Repression in der BRD. Verwoben mit den vielen Protagonisten des Buches bekommen die Organisationen hinter den Kürzeln PKK, KCK, YPG, PYD, PUK, KDP, etc. eine lebendige Gestalt.
Bedauerlich ist nur, dass die kurdische Freiheitsbewegung im Iran — dem zweitgrößten kurdischen Siedlungsgebiet — im Buch quasi nicht vorkommt. Sie ist auch sonst eine Leerstelle der Kurdistan-Solidarität in Deutschland. Dabei gibt es gerade hier eine lange linke Widerstandsgeschichte, und auch hier hat sich mit der PJAK eine starke Organisation gegründet, die sich auf die Ideen Öcalans bezieht und mit der PKK ideologisch verbunden ist.
Fazit
Das Buch ist hervorragend für Einsteiger*innen geeignet, bietet aber auch Kenner*innen der politischen Geographie Kurdistans neue Einblicke und Perspektiven. Ihnen allen wird es nicht nur wichtiges Wissen vermitteln, sondern auch ein echtes Lesevergnügen bereiten.
Kerem Schamberger, Michael Meyen:
«Die Kurden»
Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion
Verlag Westend, September 2018
240 Seiten