Alle Diskussionen über Griechenland finden nicht im luftleeren und historischen Raum statt, sondern in einer immer noch nicht bewältigten Finanzkatastrophe – der größten der letzten 150 Jahre. Wie alle großen ökonomischen Katastrophen hat sie allerdings nicht alle Länder gleichmäßig schwer getroffen – aber sie ist bis heute teurer und gravierender als die Weltwirtschaftskrise der 1930 Jahre , welche die entwickelte Welt in eine historisch unerhörte Massenarbeitslosigkeit, Staatsbankrotte, den Zusammenbruch ganzer Industriezweige, zu Massenauswanderung und schließlich zum Zerfall von Demokratien und zum Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus führte.
Emigration und Massenauswanderung sind in der neueren griechischen Geschichte nichts Neues – allerdings zeigte sie in den letzten hundert Jahren für Griechenland ein dramatisches Ausmaß:
- die Vertreibung der Griechen aus Kleinasien und dem Schwarzen Meer war die ökonomisch und sozial härteste Migration, die Griechenland nur sehr teilweise meistern konnte
- die Flucht vieler Griechen durch die Besetzung durch deutsche, italienische und bulgarische Truppen
- der griechische Bürgerkrieg und die darauf folgende Flucht vieler Unterlegener in die Länder der Sowjetunion und ihrer Verbündeten.
Es gibt wenige Völker, die von sich sagen müssen, dass nur etwas mehr als die Hälfte ihrer Menschen im eigenen Land leben. In Griechenland ist das der Fall: 10 Millionen Griechen leben in Griechenland, 8 Millionen außerhalb. Sie sind verstreut über die ganze Welt mit Schwerpunkten in den USA, Kanada, Australien, Lateinamerika und - in Deutschland. Die Migration der Griechen nach Deutschland war vor dem ersten Weltkrieg eher gering – von größeren Gemeinden wie Leipzig, München und den Hafenstädten abgesehen. Danach änderte sich das dramatisch: nach dem zweiten Weltkrieg und dem Ende des Bürgerkrieges hatte sich Griechenland ökonomisch und sozial nicht erholt. Das politische System war nicht in der Lage, einen umfassenden Aufbau unter Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und Regionen zu organisieren. Arbeit gab es fast nur im Zentrum Europas –vor allem in Deutschland: Zwischen 1960 – 1974 wanderten aus Griechenland von seinen damals 9 Millionen Bürgern zwei Millionen Menschenaus, d.h. 22% seiner Bevölkerung. Etwa die Hälfte davon -1 Million - ging nach Deutschland. Die überwiegende Zahl der Auswanderer – rund 85 % - kamen aus Kleinstädten und Dörfern – meist aus dem Norden Griechenlands und dem Epirus.
Ihre Arbeitsplätze waren in aller Regel durch ein deutsch-griechisches Abkommen sozialversichert und durch Arbeits- und Tarifverträge abgesichert. In den Betrieben sorgten die Gewerkschaften für Schutz und Vertretung. Allerdings besetzten sie überwiegend niedrigqualifizierte Arbeitsplätze, sie bildeten mit den zugewanderten Italienern, Jugoslawen und Spaniern eine „soziale Unterschicht“. Viele von ihnen standen politisch linken Strömungen nahe und nicht zuletzt deswegen bauten sie auch in Deutschland rasch soziale Netzwerke auf, zunächst innerhalb der Griechen – Arbeiter wie Studenten – und dann mit der deutschen Gesellschaft. Vom ersten Augenblick an organisierten sich rasch untereinander - vor allem in den großen Industriezentren -und reagierten auf den Putsch der Obristen am 23. April 1967 nicht mit eingezogenem Kopf, sondern über die klassischen politischen und Parteigrenzen hinweg. Sie zeigten zusammen mit uns deutschen Sympathisanten in massiven Protesten gegen die Junta ihren Widerstand und ihren Willen, für die Demokratie und die Rechte der Arbeitnehmer zu kämpfen. Und das trotz Pressionen wie Passentzug, offene Drohungen und Polizeigewalt gegen die Familien zuhause. Die Schläger der griechischen Konsulate waren nicht Ausnahme, sondern Alltag, gegen den man sich zur Wehr setzen musste und dies auch tat. Den Mund aufzumachen erforderte Mut, manchmal viel Mut. Dabei half natürlich, dass sich vor allem auf der Linken und in der Mitte – also EDA (Enosis Dimokratikis Aristeras) und EK (Enosis Kentrou) bereits „Ableger“ der griechischen Parteien gebildet hatten.
Während der Zeit der Diktatur formierten sich zudem antidiktatorische Gruppen wie PAK(Panhellenische Befreiungsbewegung) und PAM(Patriotische Front). Und diese beiden - um nur die zwei größten zu nennen - waren äußerst wichtige Verbindungen zwischen den griechischen Arbeitern , Studenten und Intellektuellen und ihren deutschen Verbündeten. Ähnliche Organisationsformen und Ansätze gab es natürlich auch in anderen europäischen Staaten – aber die hilfreichen und auch einflussreichen Organisationen bestanden wesentlich aus Intellektuellen und Künstlern, wie z.B. in Frankreich.
In Deutschland war der Kampf gegen die Militärjunta umfassender, tiefer und hilfreicher für die Griechinnen und Griechen, die ihr Land verlassen mussten und das hatte m. E. im wesentlichen sechs Gründe:
- 1. Die große Zahl – stetig wachsender, dann etwa eine Million arbeitender Griechinnen und Griechen. Ob nun mit linkem Hintergrund oder nicht- sie waren ein verlässlicher und solidarischer Anlaufpunkt für alle geflüchteten und häufig mittellosen Neuankömmlinge
- 2. Eine nicht geringe Zahl in Deutschland studierender und hochqualifizierter Akademiker. Seit den Zeiten der Bayern-Könige war es Tradition, junge Leute zum Studium nach Deutschland zu schicken: ob Archäologie oder Jurisprudenz, Geschichte, Philosophie, Medizin oder Ökonomie die Zahl der exzellenten Absolventen ist beeindruckend und ergänzt um die Naturwissenschaften und den Maschinenbau, bildeten diese jungen Griechen ein solides und festes Band zwischen beiden Ländern zum wechselseitigen wissenschaftlichen und ökonomischen Gewinn. Einige davon blieben in Deutschland und nahmen Leitungs-Positionen an deutschen Institutionen ein: wie Spiros Simitis, Dennis Tsichritzis und Konstantin Skarpelis um nur drei Beispiele zu nennen. Von denen, die zuhause Bedeutung erlangten kann ich hier nur ganz wenige nennen: Karolos Papoulias, Konstantin Simitis, Giorgios Mangakis, Anna Psarouda-Benaki, Philippos Petsalnikos, Pavlos Bakoyannis, Tassos Gannitsis .... die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
- 3. Die deutsche Politik. Viele von uns aufbegehrenden jungen Leute und vor allem Studenten sahen mit Erstaunen, dann Freude, ein wie große Zahl von deutschen – vorwiegend sozialdemokratischen aber auch liberalen Politikern und Ministern nicht nur gegen die Junta Stellung bezogen, sondern auch konkret halfen. Denn eines ist deutliche, öffentlich wirksame Resolution und das andere ist konkrete Unterstützung, wenn man sie dringend braucht. An der Spitze war es ohne Zweifel Willy Brandt – zunächst als Außenminister, dann Bundeskanzler - er hielt gegen die Junta und unterstützte uns. Das war nicht nur seinen Sozialdemokratischen Überzeugungen geschuldet, sondern auch seinem Lebenslauf. Er selbst war in einer abenteuerlichen Flucht im Ruderboot über die Ostsee den Schergen der Nazis entkommen hatte die Härten der Emigration und des häufig illegalen politischen Widerstandes gegen Hitlerdeutschland durchgestanden. Es gab Kritik an ihm, weil Deutschland in dieser Zeit keine offensive Haltung in der NATO vertrat – aber viele von uns jungen hatten nicht im Kopf, wie viele Handlungsmöglichkeiten ein nicht souveränes Deutschland hatte, wenn zwei seiner Besatzungsmächte – die USA und das Vereinigte Königreich – sehr wohl über den Putsch informiert waren. Ich selbst habe noch von Willy Brandt als junge Abgeordnete anlässlich der Raketenstationierung eine persönliche Einführung im kleinen Kreis über die Souveränität Deutschlands und die Handlungsmöglichkeiten deutscher Regierungen im geteilten Deutschland erhalten: da hatte ich ihn besser verstanden, wenn auch zähneknirschend. Volkmar Gabert, der Landesvorsitzende der bayrischen SPD gab jede Unterstützung – auch im Rundfunkrat dem Leiter der griechischen Sendung Pavlos Bakoyannis. Gabert hatte als Sudetendeutscher zuerst von 1933 – 1939 den Exilvorstand der SPD in Prag organisatorisch unterstützt und ging dann ins Exil nach London. Wir haben jede Unterstützung für PAM und PAK in München bekommen – und das war wegen München als wichtigem ersten Anlauf- und Schmuggelort für die Verfolgten bedeutsam. Die Bundesregierung, die SPD und Liberale (Hildegard Hamm-Brücher) im Landtag und die Vertreter der Stadt München halfen, wo Hilfe erbeten und notwendig war. Namen aus dieser Zeit, die in der Politik dann überregional sichtbar wurden: Christian Ude, Rudi Schöfberger, Jannis Sakellariou und Sigrid Skarpelis-Sperk. Bayern nehme ich natürlich nur als Beispiel, weil ich weiß, dass auf diesem Symposium noch viele andere, vor allem aus Nordrhein-Westphalen; Hessen und Niedersachsen sprechen werden.
- 4. Die deutschen Gewerkschaften. Bei den deutschen Gewerkschaften lief die Unterstützung für die griechischen Demokraten schnell und effektiv. Vor allem die IG Metall war ohne Zweifel einer der wichtigsten Unterstützer. Dabei lief es dort nicht so, wie ich es sonst erlebte: zuerst entscheidet der Vorstand und dann läuft es. Natürlich war mit Max Diamant einer der wichtigsten Unterstützer für die griechischen Demokraten hilfreich und mehr als aktiv. Das sicher auch seinem Schicksal als Emigranten und aktivem Demokraten geschuldet. Aber die Betriebsräte bei BMW, Knorr-Bremse u.a. haben nicht erst mal nachgefragt, ob ein Vorstandsbeschluss schon gefasst war, sondern haben dem bayrischen Verfassungsschutz und den Schlägern der Junta sofort und energisch Paroli geboten. Und das, war wohl überall im Bundesgebiet und nicht nur bei den Metallern.
- 5. Die 68 er - deutsche rebellische Jugend. Uns Junge bewegte damals sicher auch die Erinnerung an Griechenland als dem Geburtsland der Demokratie. Aber Parthenon und Perikles waren den meisten „rebellischen“ Studenten weniger wichtig, als der Abscheu vor der Diktatur Nazideutschlands und ihren Konsequenzen für unser Land. Wir fanden es unerträglich, dass viele ihrer Repräsentanten noch immer in wichtigen Positionen saßen und nichts erklärten und nichts entschuldigten. Und ein Franz Josef Strauß offen die Junta in Schutz nahm und die Diktaturen in Spanien und Portugal. Wir hatten den Weg von Europa nach dem Krieg zu Demokratie und Frieden für rundum vernünftig gehalten und „mehr Demokratie wagen“ nicht als erfreuliches Experiment, sondern als notwendigen Schritt in unserer deutschen Geschichte – und dann eine Militärdiktatur in unserem Europa mit Unterstützung der NATO. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg und dann das !! Als stellvertretende AStA-Vorsitzende der Universität München, im Studentenrat der Münchner Hochschulen – traf ich nie auf den geringsten Widerstand,nur auf Unterstützung. Die Kunstakademie malte die Plakate mit den Slogans, die sich die Philosophische Fakultät ausgedacht hatten. Die Technische Hochschule – die Architekten und Maschinenbauer – schauten, dass das auch zusammengefügt und „zusammengebastelt“ wurde und die Ökonomen und Sozialwissenschaftler redeten mit unserer Gewerkschaftsjugend und den politischen Studentenorganisationen, dass das nicht allzu üppige Geld für die Demo und die Musik organisiert war.
- 6. Die deutschen Intellektuellen und die deutschen Journalisten. Die meisten bedeutenden Zeitungen und Zeitschriften – von der SZ bis zur FR, vom Spiegel bis zum Stern - und nahezu alle Literaturzeitschriften unterstützten die Demokraten und bezogen deutliche Stellung gegen die Obristen. Auch die öffentlich rechtlichen Sender: an ihrer Spitze die DW und der BR mit Pavlos Bakoyannis. Wenn, man die doch eher distanziert-neutrale Berichterstattung des BBC bedenkt, kann man verstehen, wie wichtig die Berichterstattung der DW für Griechenland und des BR für die „griechischen Gastarbeiter“ war. Künstler und Intellektuelle bedeutenden Ranges bezogen für die Griechen Partei und begaben sich sogar wie Wallraff in Gefahr für Leib und Leben. Zwei spätere Nobelpreisträger, Heinrich Böll und Günter Grass, Maler, Musiker und jede Menge deutscher Professoren standen auf unserer Seite – wir waren nicht allein.
Von alle dem ist nur wenig in Büchern oder Artikeln zu finden. Die einzigartige Geschichte der vielen „kleinen Leute“, der Griechinnen und Griechen und ihrer deutschen Unterstüzer und Unterstützerinnen: Ihr Mut, ihr Organisationsvermögen und Durchhalten, ihre Fähigkeit zur gegenseitigen Hilfe in schwierigen Zeiten soll und darf nicht vergessen sein. Wir als kleine VDGG haben nicht die Kapazitäten und das Geld eine umfassende Geschichte dieser Zeit zu schreiben und unser Beitrag im antidikatorischen Kampf beschränkte sich auf einige Gesellschaften, aber wir versuchen, mit diesem Symposium mit zu helfen, dass dieser Kampf für die Wiederherstellung für die Demokratie in Griechenland, die breite Unterstützung für die mutigen Menschen, ja auch Helden, die gegen die Diktatur gekämpft haben, nicht vergessen wird. Solange Zeitzeugen noch leben und der jungen Generation ihre Erfahrungen mitgeben können, ist es unserer Meinung nach wichtig, daran zu erinnern, dass wir
- Gemeinsam stark gegen Diktaturen und soziales Unrecht kämpfen können und müssen –
- Dass es nicht nur die großen Namen sind - Die HELDEN – die das Schicksal der Völker wenden , sondern die Zusammenarbeit und Hilfe der Vielen für sich und ihre Kinder.
Sigrid Skarpelis-Sperk, 2017