Nur ein gestärkter Jeremy Corbyn kann Boris Johnson herausfordern
«For those who want to stop no deal Jeremy Corbyn is the only hope»- «Für diejenigen die einen no deal stoppen wollen, ist Jeremy Corbyn die einzige Hoffnung», betitelt der Guardian Kolumnist Gary Young seinen Beitrag vom 4. Oktober. Viele Labourabgeordnete würden die Legitimität von Corbyns Führungsanspruch immer noch in Frage stellen. Die Labour Partei unter einer Führung Corbyns ist die einzige Möglichkeit das Land vor dem Chaos eines «No Deal Brexit» und Boris Johnson zu retten, so Young weiter.
Recht hat er. Trotzdem ist das Verhältnis der Labour Partei zu ihrem Vorsitzenden und auch zum alles bestimmenden Thema Brexit kompliziert. Dies könnte sich auch bei Neuwahlen bitter in den Ergebnissen für Labour niederschlagen.
Stichwort Neuwahlen. Sie sind das nächste schwierige Thema für die Labour-Partei, da sie diese aktuell gleichermaßen abwehren wie langfristig vorbereiten muss, um Boris Johnson nicht zur Legitimation eines No Deal Brexit zu verhelfen und trotzdem den Wahlkampf z.B. nach einer Amtsenthebung vorzubereiten. Denn in Großbritannien weiß inzwischen niemand mehr, was als nächstes passiert. Dieser Zustand ist gleichermaßen irritierend wie dauerhaft spannend.
Corbyn siegt abermals mit Gratwanderung
Spannend war es am 24. September im Konferenzzentrum des britischen Seebades Brighton beim Labour-Parteitag während einer wirklich guten Rede von Rebecca Long-Bailey. Long-Bailey ist Mitglied im Corbynschen Schattenkabinett und ihr ist maßgeblich zu verdanken, dass das Konzept des «Green New Deal» zum zentralen Bestandteil des ohnehin sehr progressiven Labour-Programms geworden ist. «Green New Deal» ist dabei nicht ein Kapitalismus im grünen Gewand, sondern ein radikales Konzept für eine umwelt- und sozialfreundliche Ökonomie, das z.B. auch eine 4-Tage Woche mit einschließt. Noch während Long-Baileys Rede kam Unruhe im Saal auf. Kaum hatte sie zu Ende gesprochen betrat Jeremy Corbyn die Bühne und verkündete die Entscheidungen des britischen Supreme Court, dass die Beurlaubung des Parlamentes durch Boris Johnson unrechtmäßig gewesen sei. Ein sichtlich erleichterter Corbyn war zu erleben. Kämpferisch kündigte er an, mit der Labour-Fraktion am morgigen Tag nach Westminster zurückzukehren und Johnson herauszufordern.
Corbyn war bereits am Vortag in der Debatte um den Brexit-Kurs der Partei gestärkt aus den Debatten hervorgegangen. Mit dem an diesem Tag weit verbreiteten Slogan «Back our Leader» – in Deutschland undenkbar – schlossen viele Delegierte ihre Beiträge. Diese Entwicklung war so nicht abzusehen. Noch zu Beginn des Parteitages sah es so aus, als könnten die Flügel der Partei, die eine deutliche «Remain»-Position (Verbleib in der EU) vertreten, die entscheidende Abstimmung gewinnen. Stattdessen setzte sich Corbyns Kurs, erst Neuwahlen anzustreben und dann ein zweites Referendum über den Verbleib abzuhalten, knapp durch. Damit ist Corbyn die dauerhafte Gratwanderung gelungen, die beiden widerstrebenden Flügel der Partei, die Anhänger eines Verbleibs in der EU und diejenigen, die das Referendum vor allem aufgrund der Ergebnisse in ihren jeweiligen Wahlkreisen umsetzen wollen, noch einmal aneinander zu binden. Diese Gratwanderung ist für die Labourpartei gleichermaßen lebenswichtig wie kreuzgefährlich. Denn sie ist kaum in der Öffentlichkeit vermittelbar und kann das potentielle schlechte Abschneiden der Labourpartei bei Neuwahlen besiegeln. Kritisch wird nach wie vor beäugt, dass bei der entscheidenden Abstimmung keine Abstimmung mit Wahlkarten stattfand, sondern die sichtlich überforderte Sitzungsleitung des Parteitags die gehobenen Hände nur grob schätzte. Böse Stimmen behaupten, von der Labour-Führung sei Druck auf Delegierte ausgeübt worden.
Dem widerspricht, dass am folgenden Tag – Corbyns Parteitags-Abschlussrede wurde wegen der Rückkehr der Parlamentarier vorverlegt – Corbyn beinah frenetische Zustimmung bei den Delegierten und Gästen genoss. Und das obwohl seine Rede so manche Länge hatte und rhetorische Kniffe gänzlich vermissen ließ. Es zeigte sich eher ein nüchterner Jeremy Corbyn, der gleichmütig das Programm der Labourpartei herunterbetete, zwar kurz Johnson angriff, um dann aber gleich wieder zu den Kernthemen des Parteiprogramms zurückzukehren. Und dieses Programm ist stark. Jede linke Partei der Welt sollte und könnte sich eine Scheibe davon abschneiden.
Starkes Labour-Programm in Brighton verabschiedet
Neben dem bereits erwähnten «Green New Deal», der auch bei den Gewerkschaften auf breite Zustimmung stößt, macht das Programm weitreichende und sehr konkrete Vorschläge zum Ende der Austeritätspolitik in Großbritannien, zur Rettung des NHS (Staatliche Gesundheitsversorgung), zur Abrüstung und zur Renationalisierung der Infrastruktur. Es enthält keine Kompromisse. Einige Maßnahmen wie z.B. die Errichtung zusätzlicher Windparks werden gleich mit Ort und Anzahl der Windräder benannt. Mit einigen Forderungen wird sich die Partei nicht beliebt machen. Die Abschaffung der in England fast heiligen Privatschulen wird bis weit ins linksliberale Spektrum hinein auf Kritik stoßen.
Ob dieses Programm bei Neuwahlen eher dazu führt, dass die Labourpartei weiter an die Liberaldemokraten (LibDems) verliert oder ob seine Radikalität Durchsetzungskraft haben wird ist noch ungewiss. Sicher ist, dass der Umbau der Labourpartei von einer neoliberalen Partei hin zu einem eindeutig sozialistischen Programm spätestens mit diesem Parteitag in Brighton besiegelt ist. Wichtig ist auch, dass sich die Gewerkschaften – anders als in Deutschland – klar zur Labourpartei und ihrem Programm bekennen.
Würden andere Themen die Debatten im United Kingdom bestimmen als nur der Brexit, könnte eventuell an die erfolgreichen Wahlergebnisse von 2017 angeknüpft werden. Als am Ende von Corbyns Rede das Schattenkabinett vereint auf der Bühne steht, meint man, dass der tiefe Graben, den der Brexit auch durch dieses zieht, für einen Moment vergessen ist.
Parteitag durch Festival der Bewegungen flankiert
Der Parteitag in Brighton ist auch deshalb toll, weil er von einem Festival begleitet wird, dass dem neuen Charakter der Labourpartei ein Gesicht verleiht. Unter dem Titel «The World Transformed - Die veränderte Welt », wird es zum vierten Mal parallel zum Labourparteitag veranstaltet. Eine riesige «Socialism»-Installation prangt auf einer Grünfläche mitten im Stadtzentrum des Seebades. Aufgestellte Zelte, Stadthallen, Kirchen und Clubs werden als Austragungsorte des Festivals genutzt. Die Parteispitze pendelt zwischen Festival und Parteitag. Wir erleben den Schattenkanzler John McDonnel bei einer Show von Novara Media, wo er das Glücksrad der Nationalisierung von Firmen und Institutionen drehen muss. Diane Abbot mixt Cocktails und der ehemalige Parteivorsitzende Ed Miliband lädt zum legendären Kneipen-Quiz. Dazwischen zahlreiche Panels mit internationalen Gästen. Katja Kipping und Kevin Kühnert treten gemeinsam mit MP Clive Lewis auf einem Panel zu Europa auf. Corbyn zeigt sich, spricht an verschiedenen Orten öffentlich in Brighton. «The Word Transformed» nimmt dem Parteitag das Klinische der hiesigen. Es symbolisiert Durchlässigkeit und Verbindung zwischen Partei und Bewegung.
Großbritannien vor dem Brexit-Termin –
mögliche Szenarien
Doch weder die dann doch irgendwie hergestellte Einheit der Labourpartei noch das fröhliche Treiben in Brighton können das über allem hängende Damoklesschwert vertreiben. Es heißt «No Deal Brexit» und wird verkörpert von Boris Johnson. Dieser schimpft in Brighton wild aus den Bildschirmen in den Hotellobbys als er in New York von der Entscheidung des Supreme Court erfährt.
Der Ton in Westminster ist seitdem noch rauer, die Ausweglosigkeit noch sichtbarer geworden. Auch wenn es aktuell danach aussieht, dass Johnson gerichtlich dazu gezwungen wird die Verschiebung des EU-Austritts zu beantragen, wenn er zum 19. Oktober 2019 keine Mehrheit für einen Brexit-Deal erhält, sind damit die Probleme abermals nur verschoben und nicht gelöst. Besser wäre schon ein rasches Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson, das nach dem Ausschluss von 22 Tories aus der Fraktion wahrscheinlich erfolgreich wäre. In diesem Fall könnte Corbyn zur Queen gehen und um die Genehmigung einer Regierungsbildung bitten. Diese käme nicht zustande, weil die Liberaldemokraten sich nicht auf eine Koalition oder Duldung einer von Corbyn geführten Regierung einlassen würden. Damit würden Neuwahlen wahrscheinlicher. Umfragen zu Folge darf man sich hier jedoch nicht darauf verlassen, dass Brexit-Partei und Tories diese nicht doch gewinnen könnten. Eine andere Möglichkeit wäre eine Art technokratische Regierung, die versucht erneut mit der EU zu verhandeln.
Für Labour und Jeremy Corbyn wäre es unter Umständen einfacher gewesen, wenn sich im Frühling das sogenannte «Norwegische Modell» eines Soft-Brexit mit einer Zollunion durchgesetzt hätte. Nun muss die Labour-Partei versuchen, ihren Slogan «You decide about Brexit» (Du entscheidest über den Brexit) möglichst gut zu kommunizieren. Schlecht ist er nicht.