Kommentar | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie Nach Halle: Über Schreibtischtäter und Attentäter

Um Haaresbreite ist die jüdische Gemeinde in Halle einem Blutbad durch einen deutschen Nazi-Egoshooter entgangen.

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Halle, 10. Oktober 2019: Tür der Synagoge
Es war nicht die Polizei, die ein Eindringen des Täters in die Synagoge verhinderte: Die Tür des Gebetshauses, die den Schüssen und Sprengsätzen standgehalten hatte, wurde von Gemeindemitgliedern verbarrikadiert. REUTERS/Fabrizio Bensch

Dass der Anschlag in der Synagoge scheiterte, war nicht das Verdienst der Polizei: Die Türen des Gebetshauses, die den Schüssen und Sprengsätzen des 27-jährigen Täters standgehalten haben, waren von Gemeindemitgliedern verbarrikadiert worden. Dort waren über 60 Gemeindemitglieder zum Versöhnungsfest Jom Kippur versammelt. Eine Passantin, die den Mann vor der Synagoge ansprach, erschoss er kaltblütig und ohne Zögern mit vier Schüssen aus seinen selbstgebauten Waffen.

Danach wandte sich der Attentäter dem nächsten Ziel seines Hasses zu: einem Döner-Imbiss in unmittelbarer Nähe. Dort stellte er einen Mann, der sich hinter einem Kühlschrank zu verstecken suchte. Er erschoss ihn ebenfalls kaltblütig, kehrte etwas später sogar noch einmal zurück und gab weitere drei Schüsse auf den Toten ab.

All das wissen wir so genau, weil der Täter eine Helmkamera trug, mit der er sein Attentat aufnahm und live im Internet streamte, wo sich das Video eine kurze Zeitlang viral verbreitete. Gleich zu Beginn der Aufnahme hört man ihn sagen: «Feminism is the cause of declining birth rates in the West, which acts as a scapegoat for mass immigration, and the root of all these problems is the Jew», was übersetzt etwa heißt: «Der Feminismus ist der Grund für die fallenden Geburtenraten, die als Ausrede für die Masseneinwanderung herhalten müssen, die Wurzel aber all dieser Probleme ist der Jude.»

In einem in Englisch abgefassten Manifest aus drei Teilen, die im Internet auf einschlägigen Seiten abrufbar sind, fasst er seine mörderischen Beweggründe zusammen. Unter der bebilderten Zurschaustellung seiner sechs selbstgebauten Waffen (und eines Langschwerts) erklärt er etwa: «I originally planned to storm a mosque or an antifa ‹culture› center, which are way less defended, but even killing 100 golems won’t make a difference, when on a single day more than that are shipped to Europe. The only way to win is to cut of [sic!] the head of ZOG [Zionist Occupied Government] … If I fail and die but kill a single jew, it was worth it. After all, if every White Man kills just one, we win» – «Eigentlich hatte ich geplant, eine Moschee oder ein Antifa-‹Kultur›-Zentrum zu stürmen, weil sie viel weniger bewacht sind, aber selbst das Töten von 100 solcher ‹Golems› macht keinen Unterschied, wenn an einem einzigen Tag mehr als so viele nach Europa geschickt werden. Der einzige Weg zu siegen ist es, der Zionistisch besetzten Regierung den Kopf abzuschneiden ... Wenn ich versage und sterbe, aber nur einen einzigen Juden töte, wird es das wert gewesen sein. Denn wenn letztlich jeder Weiße Mann nur einen tötet, gewinnen wir.»

Was wie der entfesselte Irrsinn klingt, korrespondiert aber mit der fanatischen Weltsicht einer faschistischen Internationale, die den Tag der Abrechnung, des Aufstandes, des Losbrechens des Rassenkrieges, den ominösen Tag X nahen sieht. Von dem Täter Stephan B. aus der Nähe von Eisleben lassen sich Verbindungslinien zum Massenmörder Anders Breivik in Norwegen und seinem mörderischen Hass auf den «Kulturmarxismus» (Juli 2011) ebenso ziehen wie zum Massenmörder im neuseeländischen Christchurch, der im März 2019 mit Kopfkamera sein Massaker an 51 Muslim*innen im Internet streamte und dessen Manifest mit «The Great Replacement» überschrieben ist, oder zu den Killern von El Paso (August 2019), wo dessen anti-hispanischer Rassismus 22 Menschen das Leben kostete, und Dayton, wo ein brutaler Frauenhass einen der Hintergründe der Tat bildet, und nicht zuletzt zum NSU in Deutschland.

In ihrer Analyse der Tat in Halle hat die freie Autorin Veronika Kracher schon Stunden nach dem Morden das Internet als Ort der Verknüpfung dieser Massenmorde und ein rechtes, menschenverachtendes Online-Gamer-Milieu als Brutstätte dieser «Gamification of Terror», einer Verwandlung des realen Terrors in ein Spiel, benannt. Kracher schaut sich das Manifest des Täters genauer an: «Es folgt eine Aufzählung, wie Achievements in einem Videospiel. Es ist genau die gleiche Art, mit der in Videospielen Achievements benannt werden: Der Titel der Errungenschaft und was dafür getan werden muss, in diesem Fall: wie und wen er ermordet haben möchte. Gamification of Terror. Es endet in der Aufforderung, zu einem ‹Techno-Barbar› zu werden, sich der Entzivilisierung hinzugeben (‹Dedomesticate yourself›) und alle Juden zu töten.»

Die ideologischen Versatzstücke Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass und eine diffuse Anti-Links-Ideologie, die hier zu einem paranoiden Bedrohungsszenario zusammenkommen, ergeben eine toxische Verschwörungsideologie, die seit einiger Zeit auch eines der gängigen Leitmotive der Alternative für Deutschland (AfD) und anderer völkischer Nationalist*innen in Deutschland, Europa und weltweit ist, nämlich der «Bevölkerungsaustausch». Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die alltägliche Hetze gegen Migrant*innen, Frauen, Jüd*innen und Linke hat das Klima im Land enorm verschlechtert und wird sich in nächster Zeit immer wieder in tödliche Angriffe übersetzen.

Es sind nicht zuletzt führende Politiker*innen der AfD, die wie der Attentäter von Halle in diese «Volkstod»- oder «Bevölkerungsaustausch»-Kerbe schlagen. In seiner Rede beim Kyffhäuser-Treffen im vergangenen Jahr erklärte Partei- und Fraktionschef im Bundestag Alexander Gauland etwa: «Die Bundesregierung will, dass wir für die Einwanderer arbeiten, damit die in Ruhe Kinder in die Welt setzen und den Bevölkerungsaustausch vollenden können.» Und vom «bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch» spricht auch der thüringische Fraktionschef und Rechtsaußen der AfD, Höcke in seinem Interviewbuch «Nie zweimal in denselben Fluss».

Höcke belässt es aber nicht dabei, in diesem Band in offen faschistischem Ton für den Kampf gegen den vermeintlichen Volkstod zu agitieren. Er macht deutlich, dass der von ihm angestrebte Ausschluss von Teilen der Bevölkerung aus dem «Volk» nicht allein Migrant*innen betrifft. Er plädiert vielmehr auch in Bezug auf Menschen mit reindeutscher Abstammung für einschneidende Maßnahmen. Angeblich Hegel zitierend heißt es, «brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser kuriert werden», im Falle eines Systemwechsels würden «wir leider ein paar Volksteile verlieren (...), die zu schwach oder nicht willens sind gegen die Afrikanisierung und Islamisierung» mitzumachen.

Bei Höcke, das wird nicht nur in dem genannten Buch deutlich, ist die Volkstod-Rhetorik noch das harmloseste Raunen. Hier träumt einer von Machtergreifung und Massenverhaftungen und was man aus seinen Worten noch Schlimmeres herauslesen kann. Höcke verschleiert seine Absichten keineswegs, jede Person kann das nachlesen: «Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.»

Oder die AfD-Politiker André Wendt, Vize-Präsident des Sächsischen Landtags, und der Landesvorsitzende Jörg Urban besuchen eine Pegida-Demo wie am 7. Oktober 2019 und lauschen angeregt der Hetze von Pegida-Erfinder und -Dauerredner Lutz Bachmann, die in einer offenen Massenmord-Phantasie mündet: «Und all die Unterstützer dieser Volksfeinde und die, welche die schlechte Seite des Grabens mit ihrer Indoktrination weiter vergiften, die sollen rein in den Graben. Damit können wir den Graben füllen. Wir werfen sie in den Graben. Dann schütten wir diesen Graben zu.»

Hier genau liegt der Anknüpfungspunkt für die Gewalt, wie sie Killer wie Stephan B. dann in die Tat umsetzen. Durch die beständige Wiederholung dieser Wahnvorstellungen durch rechte Populist*innen und autoritäre Politiker*innen fühlen sich weltweit militante Nazis dazu berufen – um den NSU zu zitieren – den «Worten Taten» folgen zu lassen und den angeblichen Bevölkerungsaustausch durch rassistische Morde zu stoppen und Menschen durch terroristische Angriffe von der Einwanderung in die «weißen» Länder des Westens abzuschrecken.

Man kennt sich, man vernetzt sich, weiß voneinander und bezieht sich aufeinander. Der Christchurch-Attentäter etwa hat sich wenige Tage vor seiner Tat im Netz auf Seiten getummelt, auf denen es um bewaffnete rechte Kreise bei der Polizei in Deutschland und der Bundeswehr, auf denen es um das Uniter-Netzwerk ging, in dem sich deutsche Beamt*innen auf den ominösen Tag X vorbereiten, an dem der Bürgerkrieg losbrechen soll.

Und sie meinen es ernst. Und zwar von Schreibtischtäter Alexander Gauland bis hin zu fanatischen Attentätern wie dem NSU, dem Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (2. Juni 2019) und den Tätern von Christchurch, Pittsburgh (Oktober 2018), Charleston (Juni 2015), Utøya (Juli 2011), El Paso (2019) und nun eben Halle. Sie alle schwafeln vom «Großen Austausch», ob im Manifest des Christchurch-Killers oder beim Täter in El Paso, der faschistische französische «Philosoph» Renaud Camus hat beim neurechten Antaios-Verlag des völkischen Vordenkers Götz Kubitscheck das Buch «Revolte gegen den Großen Austausch» (Franz. Originaltitel: «Le Grande Remplacement») vorgelegt. Und auch der Täter von Halle ist so zu verstehen. Das ist kein Zufall, sondern faschistischer Zeitgeist.

Es ist endgültig an der Zeit, nicht länger von Einzeltätern zu sprechen, nicht länger leere Versprechungen am Grab der Opfer zu machen und überrascht zu tun, wenn wieder ein Attentat geschieht oder Angehörige der bewaffneten Organe dieses Landes den Tag X vorbereiten. Keinem Innenminister sollte man mehr durchgehen lassen, wenn er behauptet, alles im Griff zu haben. Was sich Zivilgesellschaft nennt in diesem Land muss einfordern, dass Menschen aus verletzlichen Gruppen sicher und ohne Angst leben können und sich des Schutzes ihrer Mitbürger*innen gewiss sein dürfen. Und sie muss einfordern, dass gegen die verharmloste rechte Formierung und den rechten Terror alle Hebel der Repression in Bewegung gesetzt werden. Und auch die lange überfällige grundsätzliche gesellschaftliche Debatte über eine offene und demokratische Gesellschaft der Vielen kann nicht länger aufgeschoben werden.

Worauf wird noch gewartet? Was muss noch geschehen?