Kommentar | Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - Migration / Flucht Hanau ist die Stadt der Migration

«Der Rassismus soll keine andere Familie mehr zerstören»

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Hanau: #SayTheirNames
«Solidarität ist ein gegenseitiges Projekt und es sind die Angehörigen der Opfer, die im Moment mit uns allen solidarisch sind.» Hauswand in Hanau mit den Namen der Opfer des rassistischen Massakers am 19.Februar 2020

Am Abend des 19. Februars 2020 kam es in Hanau zu einem rassistischen Massaker an überwiegend jugendlichen Menschen, die sich mit ihren Freunden und Freundinnen in zwei Sisha-Bars trafen, dort miteinander aßen, sich unterhielten, abhingen. Als die Polizei später in der Nacht eine Turnhalle zur zentralen Anlaufstelle öffnete, kamen viele Angehörige und Bekannte der Vermissten und warteten auf Informationen. Um 3 Uhr nachts wurden dann die Namen der Toten verlesen, «als ob einer eine Speisekarte vorliest», wie Abdullah Unvar es ausdrückte, der Cousin eines der Opfer, Ferhat Unvar. Danach wurden die Eltern kommentarlos in die Nacht entlassen, ohne Betreuung, ohne Seelsorge, ohne Begleitung, ohne Orientierung. Die eigenen migrantischen Communites waren es, die ihre Vereinshäuser öffneten und allen, die nicht allein bleiben wollten, zur Verfügung stellten. Vertreter*innen der Stadt ließen sich auch in den Folgetagen dort nicht blicken.

Als am Donnerstagabend der Hanauer Bürgermeister, der hessische Ministerpräsident und der Bundespräsident die Bühne auf dem zentralen Platz betraten, wollte auch der Vater von Ferhat sprechen. Ihm wurde der Zugang verwehrt, «die Bühne ist voll» wurde ihm gesagt. In der Erinnerungspolitik in diesem Land bleibt alles beim Alten: «Das Boot ist voll». Das erinnert an den Ausschluss der Angehörigen und Betroffenen der Opfer des NSU, die bei den zentralen Feierlichkeiten, wie etwa dem Kölner Birlikte-Festival auf der Keupstraße, nicht auf den zentralen Bühnen sprechen durften, ihr Platz war der Katzentisch, ihre Rolle die der Opfer, über deren unbegreifliches Schicksal medienwirksame Krokodilstränen vergossen wurden. Das erinnert auch an die Familie Arslan, die sich seit 20 Jahren eine Sprechposition in dem Gedenken an die Morde an ihrer eigenen Familie erkämpfen musste und bis heute muss. Und so musste auch der Vater von Ferhat unten in der Menge stehenbleiben und zuhören wie Steinmeier davon sprach, wie unerklärlich und unbegreiflich die Tat von Hanau doch sei.

Massimo Perinelli ist Referent für Migration in der Akademie für Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiv beim Tribunal NSU-Komplex auflösen. Seiner Meinung nach setzt Hanau neue Maßstäbe in der politischen Bildungsarbeit, für einen Perspektivwechsel ist jetzt der Augenblick gekommen.

Für Serpil Temiz, die Mutter von Ferhat, war der Anschlag indes nicht unerklärlich: «Mein Kind soll nicht für nichts gestorben sein. Der Rassismus soll keine andere Familie mehr zerstören

Das Problem heißt Rassismus

Die Kraft der Familien und Angehörigen, unmittelbar nach dem Anschlag Worte zu finden, verpflichtet die Zivilgesellschaft, diesen erneuten Nazi-Anschlag nicht von der Täterseite zu sprechen, sondern von der Seite der Betroffenen. «Hanau macht nicht fassungslos. Es ist keine neue Stufe der Gewalt. Es ist kein Alarmzeichen. Es ist keine Überraschung. Es ist die logische Folge der rechtsextremen Gesamtstrategie der letzten Jahre» schrieb nicht nur der Journalist Michel Abdollahi. Wer sich zu der Gesellschaft der Vielen zählt, spürt die Gefahr schon seit langen, seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Konjunkturen. Seit 2015 dringlicher als je, seit 2018 in ihrem massenmörderischen Umschlag. Dass es ist nicht um Fremdenfeindlichkeit ging bei den Morden wissen alle, die sich nicht als Fremde fühlen und auch nicht als solche behandelt werden wollen. Aber der NSU-Komplex hat uns gelehrt, dass diese Taten neben dem Terror, den sie verbreiten, auch das Ziel verfolgen, die Opfer nachhaltig als fremd zu markieren. Die ausgesonderten und angegriffenen Menschen sollen im Nachgang politisch und medial als «die Anderen» markiert werden, als Muslime, als Migrant*innen, als «Mitbürger».

Alle die hier sind, sind von hier

Der Freundeskreis um Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Păun scherte sich aber nicht um Communities, Religionsgemeinschaften oder nationale Zuschreibungen. Sie waren junge Hanauer*innen, die sich mochten. Sie machten vor, wie eine Gesellschaft der Vielen auszusehen hat: mit dem Vermögen vieler biographischer Geschichten, die sich an einem Ort auf konkrete Weise zu sozialen Beziehungsweisen verdichten. Alle die hier sind, sind von hier. Alle mit Migrationsbiographien und Rassismuserfahrungen wissen jedoch, dass sie mehr dafür tun müssen als die meisten anderen hierzulande. Candan Özer, die Witwe von Atilla Özer, eines der Opfer der Nagelbombe des NSU auf der Kölner Keupstraße, sagt, dass «wir» mehr Deutschland sind als die sogenannten Deutschen, weil wir mehr Geschichten kennen müssen, mehr leisten müssen, mehr diese Gesellschaft bauen müssen. Sie dreht die Logik um indem sie fordert:

Lernt ihr erstmal unsere Namen und Geschichten, wenn ihr Deutsche sein wollt.

Candan Özer

Das beschreibt die Qualität der (post)migrantischen Gesellschaft: Einwanderung ist schon so lange eine Realität, dass sie zur normalen Grundlage geworden und damit als Ereignis schon längst Geschichte geworden ist. Neben dieser Zeitlichkeit bedeutet (post)migrantisch aber auch, dass hinter dem Begriff Migration die gesamte gesellschaftliche Verfasstheit verhandelt wird: die Frage der Ausbildung, des Wohnens, der Löhne, der Mobilität, der Geschlechterverhältnisse, der sozialen und politischen Rechte. Die Verrohung der Gesellschaft, wie sie der antidemokratische Block von Sarrazin bis Höcke vorantreiben und deren Vollstrecker Nazis wie der aus Halle oder der aus Hanau waren, findet auf dem Feld der Migration statt. Dabei geht es gar nicht um Migration an sich, sondern um die autoritäre Hierarchisierung der Gesellschaft mit klaren Vorstellungen, wer oben und wer unten zu sein hat.

Will eine demokratische Zivilgesellschaft dieser Verrohung etwas entgegensetzen, muss sie es so machen, wie die Angehörigen und Freundeskreise in Hanau: Sie lehnen aus einer migrantischen Perspektive jede Form der Migrantisierung ab und beanspruchen eine radikale Zugehörigkeit, die um ihre Geschichte weiß und es sich leisten kann, sie in den Hintergrund zu spielen. «Der Versuch des Täters, Menschen fremd zu machen, wird zurückgewiesen – besonders von den Familien selbst.» Die ermordeten Jugendlichen stellten die Perspektive auf Vielheit als eine selbstverständliche vor die Frage der identitären Positionierung. Diese Selbstverständlichkeit wurde am 19. Februar angegriffen mit dem Ziel, sie zu zerstören. Und auch die Sisha-Bar als Symbol (post)migrantischer Vielheiten, die sich jeder identitären Vereinnahmung entzieht, wird politisch zum Problem ernannt, medial diffamiert und behördlich kriminalisiert und in Konsequenz dadurch zum Abschuss durch Täter wie den in Hanau freigegeben, weil nicht ertragen werden kann, dass diese Orte alle normativen Zuschreibungen unterlaufen.

Lernprozesse nach dem NSU-Komplex

Die (post)migrantische Realität wird mit jedem Anschlag in Frage gestellt und erschüttert, wenn nicht nur die Medien die Angegriffenen zu Fremden machen, sondern es auch Versuche aus den sogenannten eigenen Communities gibt, die Menschen identitär zu positionieren, zu renationalisieren und gegeneinander auszuspielen. Dass dies nicht gelingt, macht Hanau zum Maßstab aller Bildungsarbeit, die nach dem 19. Februar nicht mehr dieselbe sein kann wie davor.

Sprechen wir von einer solidarischen und gerechten Gesellschaft, müssen die Institutionen und Initiativen dies von der Seite der Betroffenen von Rassismus sprechen und sich an ihre Seite stellen mit ihren Vermögen, ihren Ressourcen und ihrer Solidarität. Dass dies im Vergleich zu den öffentlichen und institutionellen Reaktionen im NSU-Komplex überraschend eindeutig passiert und fast alle öffentlichen Medien und Personen sich nicht beirren lassen, Rassismus als das Übel zu benennen, den Täter als Teil von Nazi-Ideologie und nicht als irren Einzeltäter zu erkennen und den Betroffenen gründlich zuzuhören, zeigt den Lernprozess der letzten Jahre um den NSU-Komplex und in den solidarischen Netzwerken des machtvollen Refugee-Struggle seit 2015.

Für einen Perspektivwechsel in der politischen Bildungsarbeit ist jetzt der Augenblick gekommen. Die Angehörigen und Freund*innen der Ermordeten von Hanau machen es uns vor. Sie sind die Opfer von Rassismus, aber sie sind auch die, die uns gerade alles erklären. Migrantifa bedeutet hier einen Antifaschismus, der in der solidarischen Gesellschaft der Vielen bereits gelebt wird. Solidarität ist ein gegenseitiges Projekt und es sind die Angehörigen der Opfer, die im Moment mit uns allen solidarisch sind. Hanau ist die Stadt der Migration, so geht das.