Am 28. Juni 2020 wird Polens Wahlvolk zur Entscheidung gerufen, bevor Ende August die laufende Amtszeit des jetzigen Staatspräsidenten beendet ist. Amtsinhaber Andrzej Duda ist in der ersten Runde der Favorit, doch wird er – so besagen es die Umfragen – unter der erforderlichen absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen bleiben, also 14 Tage später in die Stichwahl müssen. Das nationalkonservative Regierungslager ist lange Zeit davon ausgegangen, dass Duda den das Amt bestätigenden Sieg bereits nach der ersten Runde in der Tasche haben könnte, vor allem Umfragewerte während der Corona-Quarantäne in den ersten Frühlingswochen nährten solche Hoffnungen. Auch deshalb hatte Jarosław Kaczyński, der sich nach wie vor als der unumstrittene politische Anführer des Regierungslagers beweisen will, lange Zeit darauf gepocht, den ursprünglichen Wahltermin am 10. Mai mit allen Mitteln zu halten. Der allerdings fiel ins Wasser, denn die staatliche Wahlkommission musste schließlich erklären, dass an diesem Tag keine einzige Wahlstimme abgegeben werden konnte.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa in Warschau.
Die Neuansetzung des Termins ermöglichte der stärksten Oppositionskraft den Kandidatenwechsel, der abzusehen war, denn die Corona-Krise hatte der laufenden Wahlkampagne schnell den Schneid abgekauft – auch deshalb gingen die Umfragewerte für Duda nun wieder nach oben. Małgorzata Kidawa-Błońska war ins Straucheln gekommen, nachdem sie öffentlich erklärt hatte, dass unter den gegebenen Corona-Bedingungen am 10. Mai demokratische Wahlen gar nicht durchgeführt werden könnten, und kurzerhand zum Wahlboykott aufrief, diesen selbst aber nicht konsequent befolgte. Die Propagandamühlen des Regierungslagers waren also schnell dabei, das Märchen vom Fuchs und den Trauben unter die Leute zu bringen. An die Stelle der gescheiterten Kandidatin beorderte die Fraktion der Bürgerlichen Koalition schließlich den amtierenden Warschauer Stadtpräsidenten Rafał Trzaskowski, der erst im Herbst 2018 in das wichtige und prestigeträchtige Selbstverwaltungsamt gewählt worden war.
Während Duda sich bereits seit Anfang Februar im ermüdenden Wahlkampfmodus befindet, legt der gleichaltrige Trzaskowski (beide Jahrgang 1972) die verbleibende Wegstrecke bis zur Stimmabgabe nun vergleichsweise wie im Sprint zurück. Auch eine andere Situation kam ihm entgegen. Um in Polen bei den Präsidentschaftswahlen antreten zu können, braucht es zuvor die geprüfte Vorlage von 100.000 Unterschriften, die zu diesem Zweck landesweit in vorbereitete Listen eingetragen werden können. Normalerweise wird dafür ausreichend Zeit eingeräumt, jetzt im Schnellverfahren aber waren es nur ganz wenige Tage. Die aber nutzte Trzaskowski in gekonnter Weise, um aktiven Wahlkampf zu machen in Zeiten, in denen das Versammlungsrecht weiterhin beträchtlich eingeschränkt ist. Bilder der Menschenschlangen, in denen geduldig gewartet wurde, um die Unterschrift abgeben zu können, gingen durch die Medien. Die Abgabe der über 1,5 Millionen Unterschriften in der Kommission wurde für den Herausforderer sogar zu einem ersten, kleinen Triumph.
Trzaskowski hat nun erklärt, der jetzige Wahlgang sei in seiner politischen Bedeutung vergleichbar mit den Parlamentswahlen vom 4. Juni 1989. Damals wurde mit dem Stimmzettel das Machtmonopol der herrschenden Staatssozialisten gebrochen, so dass der Weg frei war für den grundlegenden Systemwandel ab Sommer 1989. Und umgekehrt folgt das nationalkonservative Regierungslager traditionell und strikt der Überzeugung, dass die Vorgänge von 1989 in Polen eher einem Verrat geglichen hätten, weil es zu keiner Abrechnung mit den «Kommunisten» gekommen sei, weil der friedliche Systemwandel sie ungeschoren davonkommen ließ, weil so das aufmüpfige Volk um seine Früchte gebracht worden sei. Für Zuspitzung ist also gesorgt, daran wird es in den kommenden Wochen bis zur großen Sommerpause in Polen nicht fehlen.
Noch ist überhaupt nichts entschieden. Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2019 erreichten die auf die Einhaltung der geltenden Verfassung pochenden Oppositionskräfte zusammengerechnet zwar einen überraschenden Stimmenvorteil gegenüber dem nationalkonservativen Lager, doch die komplizierte Wahlarithmetik brachte dem Regierungslager erneut die angestrebte absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Sejm ein. Seither hat sich an dem Kräfteverhältnis im Land wenig geändert, eine tatsächliche Wechselstimmung ist kaum auszumachen. Allerdings wissen Kaczyński und seine Leute längst, dass sie diesmal bei einer vollen Mobilisierung die Wahlen verlieren könnten. Das oppositionelle Verfassungslager ist zudem sehr breit aufgestellt, quer durch die gesamte Gesellschaft – es reicht von den konservativen Positionen bei den moderaten Agrariern, die insbesondere in den ländlichen Bereichen kräftig punkten müssen, wo die Nationalkonservativen seit 2015 klar in der Vorderhand sind, bis hin zu den Positionen einer breiter verstandenen Linken, die mit Robert Biedroń einen Kandidaten ins Rennen schicken, der zwar viele Vorschusslorbeeren einheimsen konnte, allerdings in den vertrackten Corona-Zeiten im Wahlkampf wohl nie richtig Tritt gefasst hat. Trzaskowski gilt als eloquenter Großstadt-Liberaler, der sogar eher linksliberal gefärbt ist, der aber vor der schwierigen Aufgabe steht, in einer Stichwahl gegen Duda auch die konservative, die ländliche Wählerschaft im Oppositionsspektrum bei Laune zu halten. Die Anhänger Robert Biedrońs hingegen werden keine Schwierigkeit haben, dann für Trzaskowski zur Wahl zu gehen.