Kaufmann untersucht in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation welche Ressourcen, sprich Bedingungen und Gründe, ein (erfolgreiches) Überleben kollektiv betriebener, sog «alternativer» Buchhandlungen ermöglichen. Diese Buchhandlungen entstehen, wie auch linke Verlage, in einer ersten Welle als Folge von 1968 vor allem in Universitätsstädten; in einer zweiten dann auch in kleineren Städten, wo im Zuge der neuen sozialen Bewegungen rund um die Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren auch viele solcher Buchläden entstehen. Die größte Anzahl gibt es 1982, als laut Kaufmann 66 solcher Buchläden existieren. Diese verstehen sich als Alternativbetriebe und Bestandteil der Gegenkultur, sie propagieren und praktizieren Selbstverwaltung, Einheitslohn, Kollektiveigentum und wollen die Trennung von Hand- und Kopfarbeit ebenso überwinden wie die Orientierung am Tauschwert.
Dazu hat der Autor ein umfangreiches Rechercheprojekt zu Buchhandlungen und mit diesen verbundenen Personen durchgeführt, unter anderem wertete er alternative Adressbücher aus 32 Regionen aus oder recherchierte in Bewegungsarchiven. Er konnte circa 250 Buchläden identifizieren, die er diesem Milieu zurechnet, von denen freilich viele formal und real keine Kollektivbetriebe oder «Produktivgenossenschaften» waren. Die Recherche muss sehr aufwendig und schwierig gewesen sein, denn viele dieser Buchhandlungen existieren nur sehr kurz oder Jahrzehnte später gar nicht mehr, oder waren damals doch formal von einem Alleinbesitzer als Inhaber geführt, obwohl sie in den einschlägigen Listen der alternativen Läden aufgeführt sind. Er schrieb schließlich 439 (!) Personen mit einem Fragebogen an und konnte 168 (!!) Antworten auswerten. In 26 Interviews mit 31 Personen aus 19 im Buch benannten Läden, und drei ausführlichen Fallstudien zu bekannten Buchhandlungen in Köln, Hannover und Freiburg vertieft er seine Untersuchung.
Die Ergebnisse sind im Grunde nicht wirklich überraschend. Für die Gründungsphase ist das politische Umfeld sehr wichtig, danach findet eine Professionalisierung und Angebotserweiterung statt. Das Rechnungsgeschäft mit Schulen und Unibibliotheken wird bei vielen ein Standbein und natürlich wird schnell nicht mehr nur «linke Literatur» verkauft, sondern auch schöne Literatur, Reiseführer und Koch- oder Kinderbücher. Als mit die wichtigste Ressource erweist sich die geografische Lage der Buchhandlung. Die GründerInnen machen schnell Ausbildungen als Buchhändler, und achten bei Neuaufnahmen ins Kollektiv auf formale Qualifikationen. Aus einem politischen Projekt wird ein «selbstverwalteter» Arbeitsplatz mit langfristiger Perspektive, aus linken Buchhandlungen werden Stadtteilbuchhandlungen für eine immer besser verdienende, urbane Mittelschicht. Aus dem Anspruch der «Motor» sozialer Bewegungen zu sein, wird eine Funktion und ein «professionelles» Selbstverständnis als Dienstleister. Können «innere» Konflikte gut gelöst und eine Anpassung an veränderte politische, und damit auch zwangsläufig: wirtschaftliche Rahmenbedingungen bewältigt werden, ist ein Überleben möglich.
Kaufmann untersucht vor allem den Zeitraum bis 1989, für das Jahr 2016 gibt er nur noch 22 existierende, kollektiv geführte Buchhandlungen an. Stellenweise verbleibt unklar, was von seinen Thesen jetzt für welchen Zeitraum gilt. Die Rolle und die Bedeutung der Finanzverantwortlichen oder der GmbH-Geschäftsführer, die ja oft die heimlichen Köpfe dieser «Betriebe ohne Chefs» sind, beschreibt er angemessen und unaufgeregt. Dass er den «Zerfall der politischen Bewegungen» nur etwas vereinfachend als Ursache für Transformationsprozesse nennt, aber dies nicht weiter ausführt, wäre jetzt als Anspruch oder Kritik an eine trotz allem sehr gut lesbare wirtschaftswissenschaftliche Dissertation ein wenig vermessen. Insgesamt ein unerwarteter und wichtiger Beitrag zur Geschichte alternativer Ökonomie und sozialer Bewegungen.
Florian Kaufmann: Gemeinsames Aufbrechen. Kollektive Buchläden in der BRD, Verlag AG SPAK, Neu-Ulm 2020, ISBN 978-3-945959-46-6, 228 Seiten, 24 EUR
Diese Rezension erschien zuerst in Heft 2/20 von FORUM Wissenschaft. Dieses hat Schwerpunkt 30 Jahre Deutsche Einheit. Bilanz und Perspektiven und enthält u.a. Beiträge von Thomas Klein, Gisela Notz, Jule Nagel und Stefan Bollinger.