Arbeiterproteste ungeahnten Ausmaßes schaukelten sich im Sommer 1980 in der Volksrepublik Polen zu einer mächtigen Streikwelle hoch, die das Land schließlich in den Grundfesten erschütterte. Zunächst war im Juli die wichtige Industriestadt Lublin das Zentrum, denn 200 Betriebe der Stadt wurden bestreikt, der öffentliche Stadtverkehr war lahmgelegt. Schließlich sprang der Funke im August auf die großen Küstenstädte über – wie im Dezember 1970 wurden die großen Schiffswerften in den Strudel der Ereignisse hineingerissen. Anders als damals aber gingen die streikenden Werftarbeiter nicht auf die Straße, um den Forderungen nach Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen einen Nachdruck zu geben – sie blieben jetzt innerhalb der Werkszäune und besetzten die Betriebe, aus Vorsorge, um nicht in der offenen Konfrontation mit bewaffneten Organen das Leben zu riskieren. Schnell gingen die Bilder aus der besetzten Lenin-Werft in Gdańsk um die Welt, denn hier war im Kleinen plötzlich zu sehen, wie es um das herrschende System in Polen nun stand.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.
Am 17. August übergab ein Überbetriebliches Streikkomitee der Regierungsseite 21 Forderungen. Die ersten drei Punkte betrafen die Organisations-, die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit. Damit war der Fehdehandschuh geworfen, denn niemand mehr konnte sich über den politischen Charakter der Massenstreiks im Lande noch Illusionen machen. Im Tableau der sozialen Forderungen waren manch übertriebene Vorstellungen enthalten, die unter den damaligen Bedingungen nahezu jede Volkswirtschaft in die Knie gezwungen hätten – zum Beispiel die Forderung, eine gesetzliche Rente für Frauen ab 50, für Männer ab 55 Altersjahren einzuführen. Doch den Kopf mussten sich die Regierenden vor allem wegen der vorangestellten Freiheits-Forderungen zerbrechen.
Nach dem Sieg der Roten Armee im russländischen Bürgerkrieg hatte sich der Aufbau der auf den Sozialismus orientierten Gesellschaft unter strikter Abkehr von der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch von der in schweren Klassenkämpfen vor allem im 19. Jahrhundert eroberten demokratischen Substanz vollzogen. Während Rosa Luxemburg in Erfahrung und Auswertung der Revolution von 1905/06 gemahnt hatte, die drei bürgerlichen Grundfreiheiten – sie meinte Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit – auf dem Weg heraus aus der alten und hinüber zu einer sozialistischen Gesellschaft wie einen Augapfel zu hüten und zu keinem Zeitpunkt aufzugeben, auch nicht in der ohnehin äußerst kurz zu haltenden Ausnahmesituation der Diktatur des Proletariats, wurde in der späteren Entwicklung des sowjetischen Staatssozialismus die Diktatur des Proletariats zu einem faktischen Dauerzustand, der eine Verfassungsordnung rechtfertigte, mit der die drei genannten bürgerlichen Freiheiten streng reguliert, deformiert bzw. ganz außer Kraft gesetzt wurden. Nach 1945 wurden die Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion auf die Länder übertragen, die nun östlich der Elbe für lange Zeit den sowjetischen Block bildeten.
Wer heute aufmerksamer auf die Entwicklung der VR Polen zurückschaut, wird auf zwei Besonderheiten stoßen, die sich bis zum Sommer 1980 kräftig ausgebildet hatten. Zum einen gab es in den großen Industriebetrieben des Landes ein Arbeiterselbstbewusstsein, dass sich ausdrücklich aus Kampferfahrungen speiste, die jeweils in blutigen Auseinandersetzungen mit der Regierungsseite endeten. Im Juni 1956 kam es in Poznań zu einer Streikwelle, die schnell die Betriebe der Stadt erfasst und Arbeitermassen schließlich zum öffentlichen Protest auf die Straße geführt hatte. Die Antwort der Regierungsseite war der Einsatz des Militärs, der Protest wurde mit brutalen Mitteln niederkartätscht und schnell erstickt. Im Dezember 1970 wurden die großen Schiffswerften an der Küste bestreikt, wieder kam es zu Straßenprotesten und zum Einsatz von militärischen Mitteln, mit denen die Unruhen im Keim erstickt werden sollten. Und im Juni 1976 kam es in Warschau und weiteren Städten zu heftigen und spontanen Streikaktionen gegen verkündete Preiserhöhungen für Lebensmittel, die wiederum mehrere Zehntausend Industriebeschäftigte auf die Straße führten. Als Antwort auf die repressiven Mittel, mit denen die Regierung entschieden gegen die Arbeiterkämpfe vorgingen, entstand ein illegal arbeitendes Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), zu dem sich Schriftsteller, Publizisten, Juristen und andere Intellektuelle zusammenschlossen.
Zum anderen hatte es in den zurückliegenden Jahren eine intellektuell-geistige Entwicklung gegeben, die es im Schatten starrer ideologischer und vor allem politischer Vorgaben geschafft hatte, das Feld bestehender Meinungsfreiheit auf Gebieten wie Wissenschaft, Kunst und Kultur spürbar auszudehnen, so dass das Netz der offiziellen Vorgaben immer löchriger wurde und in vielen Bereichen bereits kaum noch Wirkung erzielte. Wer etwa in den späteren 70er Jahren aus der DDR besuchsweise ins Nachbarland kam, war – soweit er es verstehen konnte – überrascht über das erreichte und vorhandene Maß an Freiheit des Wortes. Freilich waren es meistens auch hier die vielbeschworenen Nischen für Wissenschaft, Kunst und Literatur, aber das erreichte Ausmaß und der Umfang waren vergleichsweise beeindruckend, vieles erinnerte gar an Zustände, wie sie aus der ČSSR im Prager Frühling bekannt waren.
Im August 1980 war nun eine zugespitzte, in ihren Dimensionen ungewohnte Situation entstanden, in der kaum noch jemand erwarten konnte, dass die Verhältnisse wieder schnell in den ruhigen Alltag zurückfallen werden. Anders als früher konnten die Regierenden nicht mehr zu repressiven Mitteln greifen, um schnell wieder öffentliche Ordnung herzustellen, sondern sahen sich gezwungen, vor aller Öffentlichkeit den schwierigen Verhandlungsweg einzuschlagen. Im Ergebnis wurde die regierungsunabhängige Gewerkschaft «Solidarność» zugelassen, ein erster gewagter, aber gewaltiger Schritt, um Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit in einer Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen, in der die Regierenden noch immer mehrheitlich meinten, so etwas unter den waltenden Bedingungen gar nicht zulassen zu können.
Die Geschichte der nächsten Monate und Jahre im Auf und Ab ist bekannt, denn es dauerte noch quälende Jahre, bis der Konflikt gelöst werden konnte, indem nämlich die bis in die Oktobertage 1917 zurückführende Gesellschaftsstruktur überwunden werden musste und die VR Polen schließlich selbst zur Geschichte wurde. Wieder waren Streiks in den Industriebetrieben der Auslöser, denn der Streiksommer 1988 öffnete den Weg zum Runden Tisch, mit dem im Februar das an politischer Dramatik kaum zu überbietende Jahr 1989 im Geiste von Verständigung und Kompromiss politisch Fahrt aufnahm. Im Grunde einigten sich die beiden Seiten – hier die Regierenden, dort die «Solidarność»-Opposition – darauf, gegen den angestauten politischen und gesellschaftlichen Druck nicht nur ein Ventil zu öffnen, sondern einen sicheren und immer breiter werdenden Kanal auszuloten, der den Weg weisen sollte hin zu einer Gesellschaft mit gesicherten bürgerlichen Freiheiten.
Der Untergang des sowjetisch geprägten Staatssozialismus mit festgeschriebener Diktatur des Proletariats und führender Partei, der ja immer einen Anflug absolutistischer, also vorbürgerlicher Herrschaft besaß, war bloß noch ein äußerer Ausdruck der inneren Entwicklungen in dieser Gesellschaft, die niemand mehr aufhalten konnte. Dass dieser Vorgang nicht nur Polen betraf, wie 1980 und auch später anderswo gerne behauptet wurde, indem als negativ ausgelegte Besonderheiten in den Vordergrund geschoben wurden, stellte das Jahr 1989 kräftig unter Beweis. Allerdings erinnerten die Formen der Massenproteste in Leipzig, Berlin sowie Prag und Bratislava kaum noch an Polens Massenstreikwelle im Sommer 1980. Die Leipziger Montagsdemonstration, die einmal in der Woche und immer erst am frühen Abend durchgeführt wurde, gefiel sich anfänglich gar in einer seltsamen Abgrenzung zum polnischen August 1980 – «wir streiken nicht, wir demonstrieren nach Feierabend und gehen anderntags wieder diszipliniert an die gewohnte Arbeit».
Auch diese Dialektik begann im Keim im polnischen Streiksommer 1980: Rote Fahnen der Arbeiterbewegung waren nicht mehr zu sehen, stattdessen gab es überall das stolze Bekenntnis zum weiß-roten Nationaltuch. Das Gefühl von nationaler Identität spielte eine große Rolle, auch und gerade in der Lenin-Werft, denn die war damals ein Betrieb, der in erster Linie für den Export in die Sowjetunion produzierte. Hinter den sozialen Forderungen lag im Keim die feste Vorstellung, dass Polens Volkswirtschaft erfolgreicher ausgerichtet werden könnte, wenn sie freikäme vom Gängelband des großen Bruders. Die Emanzipation von den als enges Korsett empfundenen Strukturen des sowjetisch geprägten Staatssozialismus verlief in diesen Jahren immer prägnanter in nationalen Bahnen, so dass der Unabhängigkeitsgedanke – in welcher Form auch immer – zu einem starken, schließlich sogar zum wichtigsten Treibstoff wurde. Um das zu illustrieren, sei auf ein weniger bekanntes Beispiel aus der Sowjetunion selbst verwiesen. Im Sommer 1988, also lange vor dem Herbst 1989, gingen in Litauen, damals noch Sowjetrepublik, zehntausende Menschen auf die Straßen und öffentlichen Plätze, um mit den litauischen Nationalfarben für die Unabhängigkeit des Landes zu demonstrieren.