Anfang des Jahres war es keineswegs absehbar, dass die Präsidentschaftswahl solch eine Aufmerksamkeit erhalten würden – sowohl in Belarus als auch im Ausland. Nun aber hat das Land eine aufregende Woche hinter sich. Die offensichtlich manipulierte Präsidentschaftswahl am 9. August, aus der der langjährige autoritäre Präsident Lukaschenko mit 80 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen sein soll, hat vielfältige Protest im ganzen Land ausgelöst.
Fabian Wisotzky ist Referent für Mittel- und Osteuropa bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Anfangs wurden die Demonstrationen noch von Polizeieinheiten mit Gummigeschossen, Blendgranaten und Tränengas aufgelöst und Mitte letzter Woche schien es auch so, als ob die gewaltsame Unterdrückung der Proteste funktioniere und Lukaschenko seine Macht sichern könnte. Aber dann wandelte sich das Bild: Viele Betriebe, auch große Staatsbetriebe in der Chemieindustrie und dem Maschinenbau, die für den Export Belarus sehr wichtig sind, traten in den Streik. Von den Tausenden Festgenommenen wurden die Ersten freigelassen und berichten von Gewalt nicht nur bei der Festnahme, sondern auch in den Gefängnissen. Der Innenminister entschuldigte sich gar bei denen, die zu Unrecht festgenommen worden seien, und inzwischen halten sich die Sicherheitskräfte weitgehend zurück. Zehntausende gingen am Wochenende im ganzen Land auf die Straße, in Minsk wird die Zahl auf 200.000 geschätzt. Sie eint in ihrem Protest die Forderung nach dem Rücktritt Lukaschenkos, Neuwahlen und der Freilassung der politischen Gefangenen.
Dass Lukaschenko sich an der Macht hält, wird immer unwahrscheinlicher. Sein Versuch eine Massendemonstration am Sonntag zu organisieren, war nicht erfolgreich. Für einen Präsidenten, der ein Wahlergebnis von 80 Prozent für sich beansprucht, erschienen mit wenigen Zehntausenden – nach offiziellen Zahlen 70.000 – zu wenige Menschen. Nachdem es Lukaschenko also nicht geschafft hat, seinen Rückhalt in der Bevölkerung glaubwürdig zu inszenieren, könnte es in der belarusischen Elite zu einer Neuorientierung für einen Machterhalt ohne Lukaschenko kommen. Bisher stehen die Eliten öffentlich aber geschlossen hinter Lukaschenko, ein Abrücken von ihm ist noch nicht erkennbar. Natürlich ist die Unterdrückung der Proteste mit äußerster Gewalt, zum Beispiel durch den Einsatz des Militärs, nicht auszuschließen.
Lukaschenkos Telefonate mit Putin am Wochenende und das Zugeständnis an Russland, die während des Wahlkampfs festgenommenen russischen Söldner freizulassen, könnten ein Hinweis darauf sein, dass Lukaschenko sich des Kremls als schützende Hand versichern will. Während er noch im Wahlkampf die Gefahr für die Unabhängigkeit Belarus in Russland ausgemacht hatte, klagte er nun die Nachbarländer Polen, Litauen und die Ukraine an, ihn von außen stürzen zu wollen, die NATO ziehe bereits an der Westgrenze des Landes auf. Lukaschenko betonte am Wochenende, dass er in Belarus eine sogenannte «Farbrevolution» aufhalte, die alle GUS-Staaten bedrohe. Mit dieser Rhetorik der Gefahr einer ausländischen Einmischung, die die Unabhängigkeit Belarus bedrohe, könnte Lukaschenko die gewaltsame Niederschlagung der Proteste begründen. Allerdings ist die Protestbewegung inzwischen vermutlich zu groß. Demonstrant*innen könnte die Polizei noch mit Gewalt auseinanderjagen, aber die Arbeiter*innen in den Betrieben nur schwer zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen.
Derzeit scheint es wahrscheinlicher, dass die Protestbewegung sich mit ihrer Forderung nach einem Abgang Lukaschenkos durchsetzt. Dass seine Gegnerin in der Wahl Swetlana Tichanowskaja zur neuen (dauerhaften) Präsidentin wird, ist unwahrscheinlich. Sie hatte in ihrer Wahlkampagne immer erklärt, nur faire Neuwahlen anzustreben und das Präsidentinnenamt nicht dauerhaft bekleiden zu wollen. Wer also neue*r Präsident*in würde und mit welchem politischen Programm, ist völlig offen. Naheliegend wären zum Beispiel die drei verhinderten Kandidaten Sergej Tichanowskij, Wiktor Babariko und Walerij Zepkalo. Die letzten beiden galten vor der Wahl als Moskau-nah, ein Wechsel in der Außenpolitik, der das Land zum Spielball geopolitischer Konflikte werden lassen könnte, ist also nicht zu erwarten. Bisher sind auch keine derartigen Forderungen der Protestbewegung bekannt, sie fokussiert sich allein auf die innere Angelegenheit – die freie Wahl der Präsident*in. Es könnte sich also wie im Falle Armeniens ein Machtwechsel an der Spitze des Staates vollziehen, der keine weitergehenden Konflikte hervorruft.
Zu wünschen ist den Menschen in Belarus, dass es dazu kommt, dass sie in einer freien und fairen Wahl ihre*n Präsident*in selbst bestimmen können, ohne zum Spielball geostrategischer Interessen zu werden. Dass Belarus zukünftig durch eine sozialere Politik gekennzeichnet sein wird und der Lebensstandard der Bevölkerung steigen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Im Falle des Sieges der Opposition ist eine wirtschaftsliberalere Politik zu erwarten. Die linken Kräfte in der Opposition, zum Beispiel die Partei «Gerechte Welt», die Mitglied der Europäischen Linken ist, sind derzeit zu marginal, um eigene politische Vorstellungen durchzusetzen. Sie beteiligen sich an den Protesten und einzelne Mitglieder wurden auch festgenommen. Derzeit fordern sie aber auch nur das Ende der Repression, Freiheit für alle politische Gefangenen und faire Wahlen, wie die gesamte Protestbewegung.