Am 09. Juni 2004 explodierte eine vom selbsternannten «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) gelegte Bombe vor einem Friseursalon in der Kölner Keupstraße. 22 Menschen wurden verletzt, 4 von ihnen schwer. Die Bombe war mit zahlreichen Nägeln versehen und sollte dadurch viele Opfer zur Folge haben. Zuvor war am 19. Januar 2001 eine weitere, vom NSU gelegte Sprengstoffbombe in einem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse detoniert und hatte dabei eine Person schwer verletzt. Beide Anschläge richteten sich explizit gegen migrantisches Leben und reihten sich ein in eine jahrelange Anschlagsserie des NSU. Zehn Menschen wurden von 2000 bis 2007 vom NSU ermordet und zahlreiche Menschen traumatisiert. Zu ihnen zählen auch die Bewohner*innen der Keupstraße und die Inhaber*innen des Lebensmittelgeschäfts in der Probsteigasse.
Das Interview führte Efsun Kızılay, Referentin für Migration in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Trotz jahrelanger Bemühungen gibt es bis heute kein Mahnmal in Köln, das an die Anschläge erinnert. Die Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle», welche aus verschiedenen Initiativen wie der Initiative «Keupstraße ist überall» und dem Tribunal «NSU Komplex auflösen» hervorgegangen ist, setzt sich intensiv für die Realisierung eines Mahnmals in der Kölner Keupstraße ein. Mit zwei von ihnen habe ich über ihre Arbeit, die Folgen des Anschlags und die Bedeutung von Erinnerungs- und Bündnisarbeit gesprochen. Kutlu Yurtseven ist Musiker der Band Microphone Mafia und Mitbegründer der Initiative «Keupstraße ist Überall», des Tribunals «NSU-Komplex auflösen» und der Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle.» Gesine Schütt, ebenfalls Mitbegründerin der Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle», ist auch Teil des Tribunals «NSU-Komplex auflösen». Die Hauptfrage lautet: Warum gibt es bis heute kein Mahnmal in Köln, das an die beiden Anschläge erinnert?
Kutlu, da du zur Zeit des Anschlags parallel zur Keupstraße gewohnt hast, möchte ich dich zunächst einmal fragen, wie es für dich war, als du von dem Anschlag erfahren hast.
Kutlu Yurtseven: Ich habe zu der Zeit an der Keupstraße gewohnt, eine Straße weiter. Mein bester Freund hat mich am Tag des Anschlags angerufen. Ich war auf der Arbeit. Er hat mich dann gefragt, wo ich denn gerade bin und dass bei uns eine Bombe explodiert sei. Ich habe es dann im Internet nachgeschaut. Das war seltsam. Denn im ersten Moment ist es so, als wäre es irgendein Anschlag in irgendeiner Straße. Ich habe es erstmal persönlich nicht an mich rangelassen. Dann hat meine Mutter angerufen und meinte, dass ich sofort nach Hause kommen soll, aber zu ihr nach Hause und nicht zu mir. Da fing ich langsam an, es zu realisieren. Ich bin dann von der Arbeit nach Hause gegangen und habe die zerstörte Scheibe des Friseurladens, vor dem die Bombe abgelegt wurde, und die Absperrungen gesehen. Da habe ich mir gedacht: Du hast echt Glück gehabt. Denn ca. 7 Stunden vorher bin ich da langgegangen. Es war auch der Friseurladen, zu dem ich immer zum Haareschneiden gegangen bin. Da wurde es dann zu einer persönlichen Sache.
Was hat dieser Anschlag mit der Keupstraße und ihren Bewohner*innen gemacht?
Kutlu Yurtseven: Mein Vater hat zum Beispiel nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei gesagt, dass so etwas in Deutschland nicht passieren könne. Deutschland sei ein Rechtsstaat. Die Polizei würde niemals ohne Grund in Deutschland zu jemandem kommen und ihn/sie beschuldigen. Diese Utopie ist vor allem bei der ersten Generation zerbrochen. Die Betroffenen selber haben ihr Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Behörde Polizei vollkommen verloren, weil sie von den Behörden sieben Jahre lang beschuldigt wurden. Eine ganz große Enttäuschung ist eingetreten, Schock, Wut. So funktioniert Terror. Du bist vollkommen hilflos. Du weißt, dass du es nicht warst, aber jeder sagt, dass du es gewesen bist. Sie stigmatisieren und kriminalisieren dich und geben dir die Schuld. Die wahren Täter*innen bleiben unerkannt und können es immer wieder tun. Die Betroffenen wissen, dass es ihnen immer wieder passieren kann. So funktioniert vor allem seelischer Terror. Für die Betroffenen war es immer wie ein Damoklesschwert, das über ihnen schwebte: Es kann immer wieder passieren und wir werden immer wieder dafür beschuldigt.
Gesine Schütt: In den Gesprächen, die ich nach 2011 (das Jahr der sogenannten «Selbstenttarnung» des NSU) mit den Menschen in der Keupstraße geführt habe, sticht besonders das Gefühl hervor, damit alleine gelassen worden zu sein und zusätzlich die Stigmatisierung und Täter-Opfer-Umkehr. Diese Vorstellung, dass man einen mörderischen Anschlag überlebt hat und es keine Klarheit darüber gibt. Stattdessen nur Beschuldigungen gegen die eigene Straße, gegen die eigene Community, die eigene Familie und Freund*innen. Keine Hilfe und Solidarität, die selbstverständlich sein müsste, auch nicht aus der antirassistischen Szene. Niemand hat die Betroffenen gefragt, wie es ihnen geht, was sie brauchen und einfach erstmal festgehalten, dass sie Opfer sind. Das Schlimme an den NSU-Anschlägen ist, dass die Strategie der Zermürbung der Opfer aufgrund des verdeckten Agierens ohne Bekennerschreiben aufgegangen ist. Wenn man das auf Heute bezieht in Fragen der Unterstützung nach dem Anschlag, der Unterstützung während des Prozesses, nach dem Urteil und nach weiteren Anschlägen wie Hanau, kann man festhalten, dass das sich wiederholt. Genau dies ist für viele besonders schmerzhaft.
Die Betroffenen des Anschlags bezeichneten die Ermittlungen nach dem Anschlag als «Zweiten Anschlag». Wie wurde mit den Betroffenen nach dem Anschlag umgegangen?
Kutlu Yurtseven: Wenn wir uns anschauen, was im Kontext des ganzen NSU-Komplex für Begriffe verwendet wurden, wird schnell klar, in welche Richtung ermittelt wurde: «Dönermorde», Milieukriminalität usw. Es wurde gesagt, dass Migrant*innen zu Kriminalität und Gewalt neigen und dass solche Sachen in der deutschen Kultur verpönt seien. Ergo könnten es nur die Migrant*innen selber gewesen sein. Der damalige Innenminister Otto Schily sagte damals zum Beispiel, ein rechtsradikaler Anschlag könne kategorisch ausgeschlossen werden. Damit wurden die Menschen auf der Keupstraße sofort zum Freiwild für die Polizei. Eineinhalb Stunden nach dem Anschlag wurden schon Wohnungen und Häuser mittels SEK-Einsatz durchsucht. Als die Betroffenen der Polizei gegenüber äußerten, dass die Täter*innen nur Personen sein könnten, welche ihre Tat aus Hass auf Migrant*innen begangen haben, wurde ihnen von polizeilicher Seite entgegnet, dass sie das nie wieder sagen sollen. Diejenigen, die den Menschen helfen sollten, haben sie stigmatisiert, kriminalisiert, zum Schweigen gebracht, seelisch gequält. Das Finanzamt hat plötzlich mitermittelt und Druck auf die Betroffenen ausgeübt. Es war alles miteinander verbunden. Und das ist der zweite Anschlag. Du fühlst dich genauso ohnmächtig, hilflos, terrorisiert, gequält wie beim Anschlag an sich.
Gesine Schütt: Es haben viele Ermittlungen gegen die Menschen stattgefunden, die eigentlich von dem Anschlag betroffen waren. Es gab kein genaues Hinhören hinsichtlich der Vermutungen und Analysen der Betroffenen. Von institutioneller Seite wurden dann sogar Ermittlungen in der Straße durchgeführt. Die Menschen wurden komplett alleine gelassen. Wenn man sich mal vorstellt, dass der Anschlag nicht in der Keupstraße, sondern einer anderen, nicht so sehr migrantisch-geprägten Straße stattgefunden hätte – was wäre dann alles möglich gewesen? Hätte es direkt Seelsorge vor Ort gegeben oder Unterstützung vor Ort, die einfach nur fragt, ob es einem gut geht oder man finanzielle Hilfe benötigt? Die Opfer und ihre Angehörigen hatten nach dem Anschlag auch mit ökonomischen Problemen zu kämpfen. Da hat sich einfach niemand für interessiert, obwohl überhaupt nicht klar war, woher dieser Anschlag kommt. Das «migrantische Milieu» hat schon ausgereicht, damit sich keiner dafür interessiert.
Im Beschluss des Kölner Rats vom 15.12.2015 steht, dass ein geeigneter Denkmalentwurf für ein Mahnmal in die Tat umgesetzt werden soll. Bis heute wurde dieser Beschluss nicht umgesetzt und bis heute wird in Köln nicht sichtbar und dauerhaft an die Anschläge des NSU erinnert. Woran liegt das?
Gesine Schütt: Damit das Gedenken von städtischer Seite als Aufgabe angenommen und umgesetzt wurde, musste Druck gemacht und gekämpft werden. Köln hat dann eigentlich ganz gut und vorbildlich begonnen. Es gab eine Ausschreibung für die künstlerische Darstellung des Mahnmals. In der Jury waren auch Betroffene des Anschlags. Der Mahnmalentwurf des Künstlers Ulf Aminde wurde dabei einstimmig gewählt.
Ein ganz impliziter Teil des Mahnmals ist der Standort an dem Teil der Keupstraße, der angegriffen wurde. Das einstimmige Annehmen dieses Entwurfs war somit auch ein ganz klares Bekenntnis zum Standort. Die vom Anschlag in der Probsteigasse betroffene Familie begrüßt ebenfalls ausdrücklich die Realisierung eines Mahnmals an der Keupstraße. Diese liegt direkt neben dem jahrzehntelang leerstehenden ehemaligen Güterbahnhofsgelände, das riesig und als wichtiges innerstädtisches Entwicklungsgebiet schon viele Jahre Thema im Stadtteil ist. Der an die Keupstraße angrenzende Part – wo das Mahnmal stehen soll - gehört privaten Investor*innen. Es gab dann für das Gesamtgelände parallel zum künstlerischen Wettbewerb des Mahnmals ein Werkstattverfahren zur Entwicklung des ehemaligen Güterbahnhofs, in dem der Gedenkort an der Keupstraße auch einzuplanen war. Im Siegerentwurf wurde der Standort für das Mahnmal jedoch wegplatziert von der Keupstraße selbst. Dieser wurde dann Grundlage für den beschlossenen Bebauungsplan. Das ist alles ziemlich kompliziert – zusammengefasst kann man mindestens festhalten, dass es kein aktives Einsetzen der Stadt für den gewünschten Standort gab und auch keine transparente Kommunikation seitens der Stadt über das Verfahren.
Der Investor sagte zwar zu, dass das Mahnmal an einem anderen Teil des Areals errichtet werden kann. Dieser hätte aber keinen Bezug zur Straße gehabt. Für die eigentliche Idee hat sich niemand mehr eingesetzt. Es kam dann seitens der Investor*innen, einiger Lokalpolitiker*innen und der Presse seit dem Sommer 2019 zu Behauptungen, die wiederum die Betroffenen dafür verantwortlich machten, dass das Mahnmal nicht realisiert wird, da sie sich nicht auf Alternativstandorte einlassen würden.
Wir als Initiative haben dann herausgefunden, dass der städtische Bebauungsplan gar nicht für den Bereich gilt. Alles, was wir darüber wissen, haben wir selber recherchieren müssen, weil es keine Erklärungen seitens der Stadt gab. Wir haben uns dafür eingesetzt und Öffentlichkeit dafür geschaffen, dass die Stadt sich für ein Vorkaufsrecht des Areals bemüht. Vor den Wahlen im September 2020 teilte uns die Stadt dann mit, das Vorkaufsrecht zu prüfen und nach der Wahl hat die Stadt dann öffentlich kundgetan, dass sie das Vorkaufsrecht mit dem potenziellen Käufer des Geländes verhandelt. Aber auch hier hat die Stadt wieder keine konkrete Aussage zum Standort gemacht und der Stand der Verhandlungen bleibt für uns nicht einsehbar. Wir fordern von der Stadt, dass sie ihren Einfluss auf den Bebauungsplan geltend macht. Darüber hinaus, hat die Stadt bis heute nicht ein einziges Mal auf unsere Anfragen und Schreiben reagiert, die wir offiziell eingereicht haben – mit Unterstützung und im Namen vieler Betroffener der Keupstraße und der Probsteigasse..
Die Umsetzung scheitert vor allem an der Frage, welche Relevanz dem Ganzen von der Stadt Köln gegeben wird und wie viel Druck von städtischer Seite vorhanden ist. Es gibt eigentlich niemanden mehr in der Stadtverwaltung, der sich wirklich verantwortlich dafür fühlt. Dazu gibt es auch noch Investor*innen auf dem Gelände, die das Ganze erschweren. Das Problem ist letztendlich, dass zu viele Leute auf ihre eigenen Interessen schauen ohne zu berücksichtigen, dass es eine extrem relevante Sache für die Stadt und für unsere Gesellschaft ist. Die Stadt hat inzwischen gemerkt, dass sie uns nicht so leicht los wird. Es ist wichtig, jetzt nicht aufzugeben und weiterzumachen. Zu sagen, dass wir nicht aufhören, bis wir konkret was wissen. Wir möchten keine Lippenbekenntnisse mehr hören, sondern konkrete Handlungen sehen. Wenn das Mahnmal irgendwann beschlossen wird, wird auch noch viel Arbeit anstehen
Kutlu Yurtseven: Ich gehe zeitlich ein Stück zurück. Nach der Selbstenttarnung des NSU wurde im gleichen Schema weiteragiert. Immer über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Man hat sie nicht hören wollen. Es wurde eine Opferberatung in Köln eingerichtet, aber in der Südstadt - also am anderen Ende der Stadt und über die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen hinweg. Diese ging vollkommen an den Betroffenen vorbei. In diese Kontinuität reiht sich auch die Thematik um das Mahnmal ein. Der Entwurf, der gewonnen hat, war der einzige, der die Bedingung hatte, an der Keupstraße gebaut zu werden. Darum wurde er auch von den Menschen in der Keupstraße und von den Menschen in der Jury ausgewählt. Das ist der offizielle Wunsch der Betroffenen. Aber wir sehen, dass das Kölner Interesse wieder vor dem der Betroffenen steht. Das finanzielle Interesse steht vor den Betroffenen. Es fehlt der nötige Respekt den Betroffenen gegenüber.
Wir erfahren immer nur über Umwege, was wirklich passiert. Mitte des Jahres haben wir erst durch Recherchen in Erfahrung bringen können, dass dieser Platz überhaupt zum Verkauf steht. Dann erst hat die Stadt Köln uns gegenüber zugegeben, dass das Areal verkauft werden soll. Wir wissen, es gibt keinen Bebauungsplan. Trotzdem wird immer wieder gesagt, dass es diesen gäbe. Dann haben wir herausbekommen, dass das Areal von Investor an Investor verkauft wird und haben daraufhin eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der wir darauf eingegangen sind, dass wir vor dem gleichen Problem stehen werden und die Frage gestellt: «Bricht Henriette Reker (Kölner Oberbürgermeisterin, Anm. d. Verf.) ihr Versprechen?» Denn am 09.06.2020 ließ sie bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 16. Jahrestages des Nagelbombenanschlags übermitteln, dass sie alles dafür tun wird, damit dieses Mahnmal dort erbaut wird. Im Nachhinein haben wir dann erfahren, dass sie sich mit dem Investor zwar auf den Bau des Mahnmals auf dem Areal geeinigt haben. Der genaue Ort wird aber wieder nicht konkretisiert. So umgeht sie erneut die Bedingung, das Mahnmal an den Platz an der Keupstraße zu bauen. Ständig geht man so mit dieser Thematik um. Finanzielle Interessen wiegen dann doch schwerer.
Warum ist es wichtig, dass das Mahnmal direkt an der Keupstraße und nicht anderswo in Köln entsteht und was soll es repräsentieren?
Kutlu Yurtseven: Der «Herkesin Meydanı - Platz für Alle» soll ein Treffpunkt für alle Menschen sein, die sich unterhalten und zusammenkommen wollen. Wo auch Diskriminierung und Rassismus thematisiert werden und Veranstaltungen stattfinden können. Nachdem die Menschen das Mahnmal sehen, kommen sie von dem Platz runter und sehen dann die Keupstraße. Sie sagen: «Das war in der Vergangenheit und das ist jetzt die Gegenwart.» Sie tragen das Geschehene mit in die Gegenwart, lassen es in sich arbeiten und sehen die Menschen in der Keupstraße. Sie sehen, dass man gemeinsam dafür einstehen muss, dass so etwas nie wieder passiert. Dies kann eben nur am Anschlagsort selber passieren. Denn nur dort hat man einen Bezug zu den jeweiligen Menschen. Man schafft keine Symbiose zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne die Erfahrungen der Vergangenheit und den Austausch in der Gegenwart. Erst dann kann man einen Schritt in Richtung solidarische Gesellschaft, eine Gesellschaft der Vielen gehen.
Gesine Schütt: Ein Teil der Arbeit, die wir in Begleitung des NSU-Prozesses seit 2011 und nach dem ersten Tribunal «NSU-Komplex auflösen» gemacht haben, war auch ein Teil der Analyse, wen der NSU eigentlich angegriffen hat, warum und auf welche Art und Weise. Es waren Alltagsorte der Migration, die eine Selbstverständlichkeit und eine Alltäglichkeit bekommen haben. In der Frage «Wo und wie erinnert man?» geht es darum, genau diese Orte sichtbar zu machen und ihre Relevanz zu zeigen. Eine Anerkennung durch ein Mahnmal zeigt ja auch: Das ist unsere Geschichte und die ist nicht veränderbar. Die Keupstraße ist ein Symbol der Migrationsgesellschaft. Sie wurde damals von Menschen belebt, die hierhergekommen sind. Deswegen hat auch das erste Tribunal dort stattgefunden. Die Anerkennung dessen ist auch unsere Antwort darauf, dass Nazis hier töten und vernichten wollen - nämlich genau das Umgekehrte: die Lebendigkeit aufzuzeigen und die Relevanz der Straße für die Gesellschaft sichtbar zu machen. Dieser Ansatz lässt sich nur an der Keupstraße selber verwirklichen. Die Straße hat in den letzten Jahren viel geleistet und sehr viel Aufklärung betrieben. Sie war für ganz viele Menschen mit ihrer Solidarität und der Art, mit dem Prozess umzugehen, ein Beispiel. Als nach dem Anschlag in Hanau am 20. Februar die Frage aufkam, wo wir uns versammeln und Solidarität zeigen sollen, war für uns sofort klar, dass dies in der Keupstraße sein müsse. Die Keupstraße hat endlich den Respekt verdient, der ihr gebührt und der zeigt sich nur in der Straße und nicht anderswo.
Denkt ihr, dass es genug Aufmerksamkeit für das Thema in der Zivilgesellschaft gibt?
Kutlu Yurtseven: Andere Frage: Ist der NSU überhaupt noch Thema in unserer Gesellschaft? Ein Brandthema ist es leider nicht. In der Stadtgesellschaft wird das Thema leider nicht diskutiert. Ich wünsche mir, dass es als Mahnmal für Köln wahrgenommen wird und nicht nur für die Betroffenen. Damit so etwas nie wieder in Köln passiert und auch nicht anderswo. Ich würde mir wünschen, dass die Kölner*innen das Mahnmal als «ihr» Mahnmal annehmen - als ein Mahnmal, welches für die ganze Stadt wichtig ist und nicht nur für die Keupstraße. Wir haben diesen Sommer die Konzertreihe «Live Acts gegen Rassismus» an der Keupstraße organisiert, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Dort kamen verschiedene Menschen zusammen. Beim Konzert von Henning May waren mehr als 400 Menschen anwesend und viele von ihnen waren Schüler*innen, die meist nicht mitbekommen haben, was passiert ist, weil sie einfach noch zu jung waren. Beim Konzert von Esther Bejarano und Microphone Mafia waren ca. 250 Menschen da. Die, die sich dafür interessieren, sind sowieso da. Aber es kommen immer wieder neue Menschen dazu. Die Veranstaltungen haben vor allem gezeigt, wie wichtig Erinnerungskultur ist und wie wichtig es ist, präsent zu sein und zu sagen: Nein, wir lassen euch nicht in Ruhe. Wir sind renitent ungehorsam und werden uns nicht damit abfinden.
Gesine Schütt: Es gibt nicht genug Aufmerksamkeit für dieses Thema. Damit die Forderungen nach einem Mahnmal umgesetzt werden, sind wir alle gefordert. Wir müssen einsehen, dass das, was seit 2001 passiert ist, auch jetzt noch wichtig für uns ist. Da der ganze bürokratische Sachverhalt etwas schwierig ist, muss man immer wieder darüber reden und darf nicht aufgeben. Man muss die Menschen immer wieder informieren und sie daran erinnern, was die Relevanz ist und was die Zusammenhänge sind.
Es ist ein Thema, das die ganze Stadtgesellschaft angehen sollte. Deswegen haben wir die Initiative gegründet. Den Namen «Herkesin Meydanı – Platz für Alle» haben wir uns gegeben, weil wir wichtig fanden, dass die Mehrsprachigkeit betont wird und dass in diesem Namen «Herkesin Meydanı - Platz für Alle» auch ganz viel drinsteckt: Was das Mahnmal sein soll; dass es nicht nur an ein singuläres Ereignis erinnern, sondern darüber hinausweisend alle Zusammenhänge zum Thema Rassismus, wie wir sie auch in dem Thema NSU-Komplex zusammengefasst haben, aufzeigen soll. Zusätzlich fanden wir es schön, dass im Türkischen der Begriff «Meydan» auch ein politisches Zusammenkommen vielleicht noch mehr symbolisiert als im Deutschen das Wort «Platz».
Bei der Gedenkveranstaltung an den Anschlag in der Keupstraße am 09.06.2020 anlässlich des 16. Jahrestages des Nagelbombenanschlags waren unter anderem auch die Initiative 19. Februar Hanau, die Initiative Amed Ahmad und Black Lives Matter anwesend. Wie wichtig sind eine gemeinsame Bündnisarbeit und das Zusammendenken von Kämpfen?
Gesine Schütt: Dieses Jahr gab es von den bisherigen Bündnissen, die das Gedenken gestaltet haben, aufgrund der Corona-Pandemie keine Planungen zum Jahrestag. Wir als Initiative fanden das nicht tragbar und haben es dann selbst kurzfristig in die Hand genommen. So kam es endlich, dass die Redner*innen vor allem Betroffene von Rassismus selbst waren statt offizieller Repräsentant*innen. So sind viele Menschen zusammengekommen, die von ihrem Standpunkt aus Rassismus betrachten. Diesmal wurde auch zum ersten Mal viel Kurdisch gesprochen, weil der Vater von Amed Ahmed auf der Gedenkveranstaltung gesprochen hat. Hinterher kamen ganz viele verschiedene Menschen zu unserer Initiative und teilten uns mit, dass sie total berührt waren und es in diesem Sinne die beste Gedenkveranstaltung war, die es je gab. Ich glaube, dass eine Stärke dadurch entsteht, zu sagen: «Wir kommen zusammen und erzählen erstmal unsere Geschichte und nehmen auch die Geschichten der Anderen auf und lernen daraus.» Die Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten untereinander führt dazu, dass sich viele Menschen, indem sie sich kennenlernen und zuhören auch eine Arbeit miteinander teilen und sich gesamt für etwas öffnen. Das ist immer die Hoffnung darin.
Kutlu Yurtseven: Bündnisarbeit muss vor allem mit den Betroffenen gemeinsam gemacht werden - bestimmt durch die Betroffenen. Erst dies schafft ein würdiges Gedenken. Es verbindet viele Menschen, Gedenken und antirassistische Kämpfe. Wenn wir für eine Solidarität der Vielen stehen, dann müssen wir die Erfahrungen von vielen Menschen mit einbringen und zuhören. Auch als Aktivist*innen. Wir müssen die Menschen zu Wort kommen lassen. Denn die Betroffenen sind, so wie Ibrahim Arslan (Überlebender des Brandanschlags 1992 in Mölln) es immer betont, die Hauptzeugen des Geschehenen. Wir können nicht über ihre Köpfe hinweg Erinnerungsarbeit leisten. Darum muss man auch unter den Betroffenen Bündnisse schaffen, weil das Bündnis ihnen Kraft gibt zu reden. Es geht kein Weg daran vorbei, dass wir Gedenken, Gedenkveranstaltungen und Initiativen gemeinsam zu einem Bündnis zusammenschmelzen lassen. Alleine werden wir es nie schaffen. Wir müssen die Menschen mit dem Herzen abholen und nicht immer nur mit dem Kopf.