Fassungslos und mit großer Trauer haben wir erfahren, dass Christian Krähling – ver.di-Vertrauensmann am Amazon-Standort Bad Hersfeld und vielleicht die wichtigste Führungsfigur der Gewerkschaftsbewegung bei Amazon in Deutschland – an seinem 43. Geburtstag gestorben ist. Christian war der Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) seit vielen Jahren eng verbunden.
Seit der ersten «Erneuerung durch Streik»-Konferenz in Stuttgart 2013 war er Teilnehmer dieser Konferenzreihe, die er immer wieder auch durch eigene Beiträge bereicherte und zu der er mit KollegInnen aus dem Versandzentrum gemeinsam anreiste. So schilderte er auf der RLS-«Streikkonferenz» 2016 in Frankfurt in dem Workshop «Arbeitskämpfe unter schwierigen Bedingungen», wie er und eine Handvoll aufrechte Verdianer als erste überhaupt begonnen hatten, dem online-Giganten Amazon die Stirn zu bieten und den Kampf um einen angemessenen Tarifvertrag aufzunehmen. Rasch wuchs seine Betriebsgruppe, und bald konnte sie die KollegInnen an den anderen deutschen Standorten motivieren, ebenfalls aktiv zu werden und in die Auseinandersetzung einzusteigen. Seit 10 Jahren dauert dieser Kampf nun an, in dem die Beschäftigten mit immer neuen Aktionsformen, mit Nadelstichen, Boykottaktionen und Streiks Druck für ihre Sache machen. Dabei stehen die Aktiven selbst unter starkem Druck des Weltkonzerns, der auf immer neue Weise versucht, ihre Solidarität zu unterminieren und ihre Kampfkraft zu schwächen. 2019 setzte sich Christian auf der 4. Streikkonferenz in Braunschweig in einer Arbeitsgruppe zu «Gegenwehr im Niedriglohnbereich» mit diesen perfiden Angriffen auseinander und referierte über «Spaltungsstrategien des Giganten, Gegenstrategien der Aktiven».
Der global agierende Konzern hatte mit Christian einen unbeirrbaren Internationalisten zum Gegner. Früh schon machten die Streikenden in Bad Hersfeld die Erfahrung, dass Amazon den Versand kurzerhand ins europäische Ausland verlagerte, um ihren Streikaktionen die Wirkung zu nehmen. Wieder und wieder besuchte Christian die Amazon-ArbeiterInnen in Polen, Frankreich und Spanien. Er wirkte auch zentral an dem von der RLS organisierten internationalen Ratschlag «Solidarität über Grenzen hinweg» im Oktober 2015 mit und nutzte die Gelegenheit, um ein Netzwerk mit gewerkschaftsaktiven Amazon-Beschäftigten aus dem europäischen Ausland zu knüpfen. Auch die aus dieser Veranstaltung hervorgegangene, mittlerweile in mehreren Auflagen erschienene und in mehrere Sprachen übersetzte RLS-Broschüre «Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten. Labor des Widerstandes: Globale gewerkschaftliche Organisierung im Online-Handel» wäre ohne Christians Arbeiter-Expertise wohl nie erschienen.
Wie alle Amazon-Beschäftigten war auch Christian einer fast lückenlosen Überwachung seiner Arbeit durch den Datenkraken-Konzern mittels modernster Technologien ausgesetzt - und auch hiergegen organisierte er Widerstand. Über seine Erfahrungen mit den Schattenseiten der Digitalisierung sprach er 2017 auf einer gemeinsam von ver.di, der IG Metall und der RLS veranstalteten Fachtagung «Digitale Revolution - wer sagt, wo’s langgeht?». Gewerkschaften müssten sich offensiv in diese Konflikte einbringen, betonte Christian dort, «und dabei eine Sprache finden, die die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben verstehen».
Das Verständlich-machen linker und gewerkschaftlicher Politik in den Betrieben war ihm eine Herzensangelegenheit, und er versuchte dafür mittels Gedichten und Musik eigene Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Wie sehr Christian als zäher und unerschrockener Kämpfer zugleich auch ein äußerst sensibler Mensch war, davon legen gerade diese Gedichte Zeugnis ab.
Wir wissen nicht, ob sein Chef Jeff Bezos, der reichste Mann der Welt, überhaupt Notiz von dem Ableben eines seiner wichtigsten Gegenspieler innerhalb des Konzerns genommen hat. Wahrscheinlich ist er dazu viel zu sehr geblendet von den zusätzlichen Milliardengewinnen, mit denen er von der Corona-Pandemie profitiert, die sein Vermögen auf 121 Milliarden US-Dollar hat ansteigen lassen. Um 2.498 Dollar wächst es gegenwärtig pro Sekunde weiter – mehr, als Christian in einem ganzen Monat harter Arbeit netto bei Amazon verdiente. Bezos Reichtum basiert auf der gnadenlosen Ausbeutung seiner Beschäftigten - einem Zustand, dem Christian ein Ende zu setzen versuchte und wofür er 10 Jahre lang argumentierte, organisierte und streikte. «Streikposten Spätschicht FRA3 steht!» – so lautete am 1. Dezember 2020 sein letzter Facebook-Post. Wenige Tage später ist er gestorben. Er wird sehr fehlen, auch uns. Christian Krählings viel zu frühen Tod empfinden wir als Verpflichtung, den Kampf um würdige Arbeitsbedingungen und einen anständigen Tarifvertrag für die Amazon-Beschäftigten auch weiterhin unterstützend zu begleiten.
Unser Beileid gilt seiner Familie und seinen Kindern.
Florian Wilde und Fanny Zeise, Gewerkschaftsreferent/in, Rosa-Luxemburg-Stiftung.