Zwischen 1948 und 1969 wurden in der Bundesrepublik geschätzt circa 50.000 Verfolgungen wegen § 175 StGBeingeleitet, davon alleine 22.000 in Baden-Württemberg. 2014 lebten in dem Bundesland (noch) 5400 Männer, die nach diesem Paragrafen vorbestraft waren. Nicht nur diese bestürzende Tatsache war Anlass die Jahrestagung 2019des Verbandes Homosexualität und Geschichte e.V.in Stuttgart abzuhalten. Seit mehreren Jahren wird zudem in einem umfangreichen Forschungsprojektdie LSBTTIQ-Geschichte in Baden und Württemberg erforscht, mit dem zeitlichen Schwerpunkt des Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik.
Ein Ergebnis der genannten Tagung ist nun die Ausgabe «Homosexuelle im deutschen Südwesten» von invertito, dem Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Diese historische Fachzeitschrift erscheint seit 1999 jährlich. Im Fokus der soeben erschienen Ausgabe steht die Repression gegen und die Verfolgung von Schwulen und Lesben im Nationalsozialismus und in den 1950er und 1960er Jahren. Die Wirtschaftswunderjahre sind von einer konservativen Logik dominiert, die die «normale Familie» als absolut, und die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen, fortsetzt. In den Aufsätzen zeigt sich, dass die Quellenlage oft schwierig ist und aussagekräftige Dokumente vergleichsweise aufwendig gesucht werden müssen. Interessant ist, dass blinde Flecken, die es bislang auch in der Geschichtsschreibung zur Schwulenbewegung und auch zur schwulen Identität gibt, langsam aufgehellt werden. So gibt es auch vor der Revolte 1968 schon homosexuelle Aktivist*innen, die sich zum einen privat treffen, und so ihre Identität stärken, aber auch hinter den Kulissen ausdauernd auf eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts hinwirken. 1969 erscheint z.B. im Katzmann Verlag in Tübingen mit «Das Schicksal der VerfemtenDie Verfolgung der Homosexuellen im 3. Reich und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft» (verfasst von Harry Wilde) das erste Buch zur Verfolgung im Nationalsozialismus.
Die Texte zeigen vor allem die Repression gegen Schwule und Lesben, in einem wird aber auch eindrücklich deutlich, wie sich Schwule schrittweise und vorsichtig zu einem kollektiven Akteur formieren, und dann auch für ihre eigene Anerkennung kämpfen. Neben den Hauptbeiträgen enthält jede Ausgabe einen ausführlichen Teil mit Rezensionen zum Teil internationaler Publikationen zum Thema (Geschichte der) Homosexualität. Der Paragraph 175 wurde 1969 reformiert und dann vier Jahre später nochmals entschärft. Die BRD hatte zwei Jahrzehnte lang an den Fassungen der §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus festgehalten. Ganz gestrichen wurde er dann erst 1994.
Die weiteren Ergebnisse aus dem oben genannten Forschungsprojektdürfen mit Spannung erwartet werden.
Invertito: Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten / herausgegeben vom Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V., Band 22, Männerschwarm Verlag, Berlin 2020, 186 Seiten, 19 EUR
Bestandsnachweisder invertito in Bibliotheken.