Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Antisemitismus und Nahost global - Rassismus–Antisemitismus - Antisemitismus (Artikel) Micha Brumlik: Postkolonialer Antisemitismus?, Hamburg 2021.

Schmerzhafte Fragen, komplexe Verflechtungen. Anmerkungen zu Micha Brumliks neuem Buch »Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion«

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Autor

Florian Weis,

Micha Brumlik hat mit »Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion« ein Buch vorgelegt, das weit über die – in Unterstützung wie Ablehnung – maßlos überschätzte BDS-Kampagne und die im letzten Jahr in Deutschland heftig geführte Kontroverse um den kamerunischen postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe hinausweist.[1] Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Breite der Themen und zahlreicher Exkurse, die das Buch zu einer anspruchsvollen Lektüre machen, leistet Brumlik auf gerade einmal 160 Seiten etwas, was in vielen aufgeregten Debatten fehlt: Er vergleicht im besten Sinne des Wortes, etwa die Shoah und andere Genozide, geht dabei so systematisch und nüchtern vor, wie es die bitteren Gegenstände erlauben, und überschreitet so die viel zu oft bekenntnishaften Debattenverläufe.

Das Buch geht auf verschiedene »Aufreger« ein, die gerade die deutsche Debatte seit mindestens 2019 stark geprägt haben: Die Bundestagsresolution gegen die BDS-Kampagne 2019 (Kapitel 2), der erzwungene Rücktritt des Direktors des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, im gleichen Jahr (Kapitel 3) und schließlich die Debatten um Achille Mbembe und Michael Rothberg 2020/21 (Kapitel 1, 4 und Epilog). Der erneute Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 veranlasste Brumlik schließlich zu einem Postskriptum, in dem er die Auswirkungen dieses gewaltsamen Konfliktes auf Deutschland anspricht: »Führte doch dieser Terror [der Hamas-Raketenangriffe auf Israel, F. W.] dazu, dass ausgerechnet in Deutschland, das voller Stolz 1.700 Jahre jüdischen Lebens feiern wollte, eine so noch nicht gekannte Welle antisemitischer Demonstrationen in Erscheinung trat.« (S. 139)

Für die Einordnung der BDS-Kampagne spielt die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der »International Holocaust Remembrance Alliance« (IHRA)[2] eine wichtige Rolle. In Kritik zu dieser wurde 2021 die »Jerusalem Declaration on Antisemitism«[3] entwickelt, zu deren Erstunterzeichner:innen auch Micha Brumlik gehört. Der Autor geht detailliert auf die Entstehungsgeschichte der BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestment, Sanktionen) und die Frage ein, ob sie per se antisemitisch sei, was er verneint, weshalb er die Bundestagsresolution aus dem Mai 2019 deutlich zurückweist. Aus den deutschen Debatten 2019/20 hebt er insbesondere einen Beitrag der bekannten israelischen Soziologin Eva Illouz hervor: »Natürlich kann ich dem Rückkehrrecht [der 1948/49 geflohenen oder vertriebenen Palästinenser:innen und ihrer Nachfahren, F. W.] nicht zustimmen, aber trotzdem ist diese Forderung nicht antisemitisch. Sie ist legitim, wie es auch legitim ist, ihr zu widersprechen.«  (S. 25)

In Bezug auf Achille Mbembe konzentriert sich Brumlik folglich weniger auf die Frage einer BDS-Unterstützung als vielmehr auf die falschen Proportionen, die Mbembe und andere scharfe Israel-Kritiker:innen anlegen, wenn etwa Mbembe 2015 die Besatzung Palästinas durch Israel als »größte[n] moralische[n] Skandal unserer Zeit, eine der unmenschlichsten Grausamkeiten unseres Jahrhunderts, in das wir gerade eingetreten sind, und der größte Akt von Feigheit des letzten halben Jahrhunderts« bezeichnet (S. 26). Damit ist bei Mbembe ausdrücklich keine tendenzielle Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus verbunden, doch bleibt die Einordnung auch für den Zeitraum von 2000 bis 2015 oder 1965 bis 2015 maßlos überzeichnet, wenn wir an die Millionen von Toten, Vertriebenen und Geflüchteten in Syrien denken, an die Opfer der Kriege und Gewalt im Irak seit 1980 oder Afghanistan seit 1979. Brumlik verweist ebenso wie auf die Massentötungen in Ruanda 1994, in Kambodscha 1975-1979 und, wenngleich anders gelagert, in Bosnien-Herzegowina ab 1992.

Die zahlreichen Opfer im Südsudan oder in den verschiedenen Kriegen im Kongo, der Krieg im Jemen und erschreckend viele andere Beispiele wären hinzuzufügen. Es ist also überzeugend, wenn Brumlik schlussfolgert: »Nur mit viel Wohlwollen kann man also sagen, dass Mbembe noch die Grenze zur Dämonisierung wahrt.« (S. 26) Er geht in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf die – nicht nur von ihm erhobene – scharfe Kritik an dem Theologen Ulrich Duchrow ein, der Israel 2017 wie folgt beschrieb: »Im westlichen Imperium ist der Staat Israel also ein weiteres Extrembeispiel der westlich-kolonialistischen, kapitalistischen, imperialistischen, wissenschaftlich-technischen gewalttätigen Eroberungskultur, wie sie sich in den letzten 500 Jahren entfaltet hat.« (zitiert auf S. 98)[4]

Geschrieben noch dazu von einem Angehörigen des Landes, das vor 80 Jahren einen fürchterlichen Vernichtungskrieg gegen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, die Menschen in der Sowjetunion und Polen und viele andere betrieb, illustriert diese Passage in bemerkenswerter Weise, wie grotesk unverhältnismäßig oftmals die – berechtigte und notwendige! – Kritik an der israelischen Besatzungspolitik ausfällt. Wenn Palästinenser:innen, die unter Besatzung, Schikanen und Rechtlosigkeit seit langem leiden, diese Proportionen aus dem Auge verlieren, ist dies nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar und entschuldbar ist die Unverhältnismäßigkeit der Israel-Kritik aber bei jenen, allemal in Deutschland, die sich nicht in dieser Lage befinden. Kritikwürdige Entstehungsgeschichten von Staaten und Herrschaftssystemen finden sich in vielen Regionen der Welt und historischen Phasen. Die Fokussierung auf Israel erscheint in diesem Zusammenhang zuweilen obsessiv.

Eine wichtige Stärke des Buches von Micha Brumlik ist es, dass er, bei aller Kritik an Mbembe, dessen Gesamtwerk betrachtet, wissenschaftsgeschichtlich einordnet und durchaus auch positiv würdigt: »Auch Mbembe setzt sich mit den systematischen Grundlagen des universalistischen, westlichen Denkens auseinander – unter der Frage, ob überhaupt und wenn, wie dieser Universalismus zugleich in Theorie und Praxis Rassismus hervorbrachte.« (S. 54)

Im fünften Kapitel führt Brumlik diese wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Betrachtung am Beispiel von Kant und Hegel aus. Er tut dies im großen Kontext von Sklavenhandel, »modernem« Rassismus und einer »Genealogie der Massenvernichtung«. Dabei setzt er sich insbesondere mit dem Historiker Wolfgang Reinhard und dessen Buch »Die Unterwerfung der Welt« differenziert auseinander. Anknüpfend an Susan Buck-Morss und Iris Därmann werden auch Marx und Engels kritisch betrachtet (»relative Kurzschlüssigkeit der Marxschen Analyse«, S. 72), wobei insbesondere die Unterschätzung der Haitianischen Revolution, die Brumlik in die Reihe der nordamerikanischen und französischen Revolutionen stellt, angeführt wird.

Immer wieder kommt der Autor auf die »Genealogie« von Genoziden und ähnlichen Massenverbrechen zurück, wozu er bereits 2005 in seinem Buch »Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen« eine vergleichende Einordnung der Shoah in Bezug auf den jungtürkischen Genozid an den Armeniener:innen 1915/16 und den deutschen Genozid an den Herero und Nama ab 1904 vorgenommen hatte. Die Shoah unterscheide sich freilich in vielem von anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts: »War es doch im deutschen Fall, im Falle des Holocaust eine – bei allen Kriegsschäden – zutiefst bürgerliche Klassengesellschaft mit einem weit entwickelten Bildungsbürgertum, die das singulär genozidale Verbrechen an den europäischen Juden (und nicht nur an ihnen) verübt hat« (S. 92f.)[5]

Abgesehen von der im internationalen und historischen Vergleich weit überzogenen Fokussierung der internationalen Kritik und Aufmerksamkeit auf Israel und Palästina ist auf einer sachlich-analytischen Ebene die Frage nach der Kennzeichnung des Zionismus eine zulässige, und so befragt Brumlik den Zionismus und die Staatsgründung Israels auf einen kolonialen Kontext und bejaht diesen bis zu einem gewissen Grad im Sinne einer Kolonialisierung. Freilich differenziert er dabei verschiedene historische Erscheinungsformen von Kolonialisierung und Kolonialismus und unterscheidet zwischen Israel in den Grenzen von 1949 und den seit 1967 besetzten Gebieten.

In diesem Sinne hält er den Antisemitismus-Vorwurf an die Adresse von Mbembe, der sich auf dessen »Siedlungskolonialismus«-Kritik bezieht, für falsch. Zusammenfassend zitiert Brumlik dazu Alon Confino und Amos Goldberg: »Aber dieser Blick enthüllt die Zwiespältigkeit des Zionismus. Er war eine nationale Befreiungsbewegung, die Juden, die vor dem Antisemitismus flohen, einen sicheren Hafen bot. Er schuf den Ort, an dem Holocaust-Überlebende ihr Leben neu und selbstbestimmt in die Hand nehmen konnten. Der Zionismus schuf aber auch einen kolonialen Siedlerstaat, in dem eine klare Hierarchie zwischen Juden und Arabern herrschte und Segregation und Diskriminierung zum Alltag gehören. Solche Phänomene gibt es häufig in der Geschichte«. (S. 127f.)

Brumlik bezieht sich positiv auf das 2020 mit großer Verspätung auch auf Deutsch erschiene Buch »Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung« von Michael Rothberg. Er folgt dessen Gedanken und wendet ihn kritisch gegen Mbembe, dem es an einer solchen einordnenden Differenzierung mangele: »Erinnerungen sind beweglich. Geschichten sind ineinander verwoben. (…) Der einzige Weg nach vorne ist die Verflechtung.« (S. 138)

Micha Brumlik hat ein Buch vorgelegt, das sich auf objektiv schwierige und schmerzhafte Fragestellungen einlässt und sie durch beharrliche Vertiefung überprüfbar und somit diskutierbar macht. Das ist in vielen aufgeladenen Debatten und ganz besonders solchen zu Antisemitismus und Rassismus, zu Israel und Palästina, viel zu selten der Fall und daher als eine ganz besondere Leistung dieses Bandes hervorzuheben. Wer Widersprüche und Dilemmata nicht leugnet, sondern einen schwierigen Umgang mit ihnen finden möchte, dem sei »Postkolonialer Antisemitismus?« sehr empfohlen.
 


[1] Siehe dazu etwa www.rosalux.de/postkoloniale-debatte

[2] Siehe etwa www.holocaustremembrance.com/working-definition-antisemitism?focus=antisemitismandholocaustdenial. Zur Kritik an dieser Definition siehe Peter Ullrich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019: www.rosalux.de/publikation/id/41168/gutachten-zur-arbeitsdefinition-antisemitismus-der-ihra

[3] jerusalemdeclaration.org/

[4] Seine Aussage, Duchrow sei ein Antisemit, zieht Brumlik allerdings ausdrücklich zurück (Anm. 31 auf S. 98).

[5] Siehe dazu auch »Grammatiken des Genozids«, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2021: www.rosalux.de/news/id/44373/grammatiken-des-genozids
 


Micha Brumlik: Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion, Hamburg 2021: VSA Verlag (160 S., 14,80 €).
 


Die Besprechung erschien erstmals im Juli/August 2021 in der politischen Monatszeitschrift Sozialismus.