Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Krieg / Frieden - Zentralasien Auf zu neuen Ufern?

Nach den Ereignissen der letzten Wochen befindet sich Kasachstan am Scheideweg

Information

Autorin

Marlies Linke,

Soldaten der Sicherheitskräfte und Zivilisten im Zentrum von Almaty, Kasachstan. Foto: picture alliance/dpa/TASS | Gavriil Grigorov

Solche Szenen hatte es in Kasachstan, der größten ehemaligen Sowjetrepublik in Zentralasien, noch nicht gegeben: Am 2. Januar brachen im Westen des Landes nach einer Gaspreiserhöhung massive Proteste aus. Binnen weniger Tage hatten die Proteste das ganze Land ergriffen. Im Laufe der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben fast 10 000 Verhaftungen und 225 Tote. Zuletzt hat sich die Lage im Land beruhigt, aber wie geht es weiter?

Albert Scharenberg sprach mit Marlies Linke, Büroleiterin der RLS in Almaty, über die Hintergründe der Proteste und die Zukunft des Landes.

Das letzte Mal, als Kasachstan wegen größerer Proteste in den deutschen Nachrichten vorkam, war 2011, als streikende Ölarbeiter in Zhanaosen niedergeschossen wurden. Nun sind auch die jüngsten Proteste dort ausgebrochen. Einigkeit besteht darin, dass eine Preiserhöhung von Flüssiggas der Auslöser für die Proteste in Kasachstan war – und das ausgerechnet in einem der ölreichsten Teile des Landes. Was für eine Rolle spielen Rohstoffe wie Gas und Öl im kasachischen Gesellschaftsvertrag?

Rohstoffe wie Gas, Öl, Kohle und Uran spielen in Kasachstan eine zentrale Rolle. Sie sind für das Land von geradezu strategischer Bedeutung, weil die Exporte von Öl und Gas die wichtigste Einnahmequelle des rohstoffreichen Landes sind, aus der sich auch die Devisenreserven speisen, und weil die Energiebranche die meisten ausländischen Direktinvestitionen auf sich zieht. Die Ölindustrie bietet wichtige Arbeitsplätze, sie und ihre Produkte treiben andere Bereiche der Wirtschaft an.

Bei Gas, das die Begleitressource zum Öl ist, geht es zudem nicht nur um die Exporte, sondern auch um das Vorhaben, bis zum Jahr 2030 für 56 Prozent der Bevölkerung Gas als Energiegrundlage, die beispielsweise zum Heizen benötigt wird, zur Verfügung zu stellen.

In Kasachstan werden viele Transportmittel mit Flüssiggas angetrieben. Das bedeutet, dass bei einer Verdopplung der Flüssiggaspreise – wie sie Anfang des Jahres verkündet worden war – sich auch die Inflation verstärkt, weil sämtliche Preise für andere Waren, die transportiert werden müssen, für Dienstleistungen, die in diesem Zusammenhang stehen, ebenfalls anziehen.

Wenn ich sagte, dass der Öl- und Gassektor von strategischer Bedeutung ist, möchte ich dem hinzufügen, dass Kasachstan gerade durch den Energiesektor eng mit dem Ausland verbunden ist. Die Ausbeutung der Energievorkommen ist technisch oft kompliziert, es wird ausländisches – westliches wie russisches oder chinesisches – Know-how und Kapital hinzugezogen. Etliche der Förderstätten befinden sich zumindest teilweise in ausländischer Hand, so dass auch hier Fragestellungen, wie kasachische bzw. ausländische Arbeitgeber in Bezug auf die Organisation der Arbeit vor Ort agieren, eine Rolle spielen. Bei früheren Protesten von Ölarbeitern kam zum Tragen, dass kasachische Arbeitende ihre Entlohnung, Arbeits- und Lebensbedingungen im Vergleich zu ausländischen, beispielsweise chinesischen, Mitarbeitenden an diesen Standorten nicht als gleichwertig ansahen.

Die soziale Spreizung, die sich in den letzten Jahren bereits sehr stark bemerkbar machte, ist durch die Pandemie noch verstärkt worden. Das bedeutet: Jede Erhöhung der Treibstoffpreise war hier unmittelbar spürbar – gerade in den westlichen Regionen des Landes, wo der größte Teil des Erdgases gefördert wird, aber wo eben auch alle Waren hin transportiert werden müssen. Deswegen kam der Funke aus dieser Region.

Viele Journalist*innen vergleichen die Ereignisse in Kasachstan mit den sogenannten Farbrevolutionen, die wir aus der Ukraine, aus Kirgistan und letztes Jahr Belarus kennen. Was meinst du, taugt der Vergleich?

Der Vergleich ist in vielen Medien, auch in den russischen, gezielt in die Diskussion gebracht worden, um mit dem Finger in eine bestimmte Richtung – das heißt Richtung Westen – zu zeigen, als sei das Ausland für die Unruhen verantwortlich. Die geostrategische Lage Kasachstans legt nahe, dass es ein erhöhtes Interesse äußerer Akteure an den Entwicklungen in Kasachstan gibt.

Dabei ist in Kasachstan selbst ein großes Potenzial für Unzufriedenheit vorhanden. Ich hatte bereits im Zusammenhang mit der sozialen Ungleichheit darauf hingewiesen, dass diese Frage in den letzten Jahren nicht ausreichend adressiert wurde. Spürbar ist das aber auch mit Blick auf die Bestrebungen, mehr Räume für Mitwirkungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Gestaltungsprozess zu erhalten, die von einer relativ kleinen Gruppe der Bevölkerung getragen werden.

Es gibt aber, so scheint es derzeit, keine Gruppen oder Informationszentren, die die Forderungen im Land bündeln. Die Präsidentin des Zentrums für soziale und politische Forschungen Strategia, Gulmira Ilyeuva, schrieb diesbezüglich, dass Proteste für gewöhnlich Anführer haben, die Forderungen vortragen und die sich in Verhandlung begeben. Dies sei jedoch nur im westkasachischen Mangystau der Fall gewesen.

Manche Beobachter*innen verweisen ja auch darauf, dass in der ersten Januarwoche «bewaffnete Banditen» in kasachischen Städten auf den Straßen gewesen seien, zu deren Bekämpfung Präsident Tokajew Truppen der Bündnispartner aus der «Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit» angefordert habe. Trifft das zu?

Zum Teil. Auf der Straße gab es im Verlauf der ersten Januarwoche drei erkennbare und durchaus unterschiedliche Personengruppen. In den ersten Tagen konnte man in verschiedenen Städten Demonstrierende sehen, die sich etwa zur wirtschaftlichen und sozialen Lage geäußert haben. Diese Demonstrationen vereinigten nicht nur Arbeiter*innen, sondern beispielsweise auch Gruppen von alleinstehenden Müttern, die bereits in der Vergangenheit Träger von Protesten gewesen waren. Diese Demonstrationen verliefen überwiegend friedlich.

Ab dem fünften Januar änderte sich das Bild, es traten bewaffnete Gruppen auf, die ganz offensichtlich vorbereitet waren. Auf den Bildern, die aus unterschiedlichen Städten Kasachstans, vor allem aus Almaty und Taldykorgan, kamen, bot sich nunmehr ein gänzlich anderer Anblick. Diese Gruppen haben innerhalb kürzester Zeit strategische Gebäude und Objekte angegriffen. Die dritte Gruppe, die dann in den Folgetagen durch die Straßen zog, bestand aus Personen, die geplündert haben, aus Marodeuren. Das wird von kasachischen Kollegen auch so bestätigt.

In diesem Kontext kamen nicht nur kasachische Sicherheitskräfte zum Einsatz, sondern, wie du gesagt hast, auch Einheiten der Organisation des Vertrages über Kollektive Sicherheit, der OVKS. Allerdings sind diese nicht zur Bekämpfung der Banditen zum Einsatz gekommen, sondern für die Sicherung strategischer Objekte angefordert worden. Die OVKS ist eine Organisation, der nicht nur Russland, sondern auch andere Staaten angehören. Der größte Anteil der Kontingente, die die Verbündeten schickten, waren 1500 russische Spezialkräfte, aber es gab auch 200 Spezialkräfte aus Tadschikistan, 150 aus Kirgistan sowie aus Armenien und Belarus je 100. Diese Truppen sind gezielt zu den strategisch wichtigen Objekten gebracht worden. So wurden etwa das Almatiner zentrale Heizkraftwerk II von kirgisischen Truppen bewacht und russische Einheiten zur Sicherung des dortigen Flughafens und Fernsehturms eingesetzt.

Der Einsatz ausländischer Truppen kam zustande, weil der kasachische Präsident Tokajew sich der Loyalität der kasachischen Truppen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr sicher sein konnte und deswegen die Verbündeten zu Hilfe rief. Es handelte sich um den bislang größten Einsatz der OVKS. Am 19. Januar endete der Einsatz, die Truppen wurden zurückgezogen. In Kasachstan gibt es eine Diskussion darüber, ob dies ein kluger Schritt Tokajews war; die Frage ist freilich, ob es für ihn überhaupt eine Alternative gegeben hätte.

Du hast drei Gruppen von Akteuren benannt, die da in den Tagen unterwegs waren. Ich nehme nun mal die dritte Gruppe aus, aber gibt es denn Erkenntnisse darüber, ob es Beziehungen oder irgendwelche Kontakte gibt zwischen der ersten, friedlichen und der zweiten, militant agierenden Gruppe?

Da ist bis jetzt keine eindeutige Linie zu erkennen. Aber angesichts des Umstands, dass in einigen Städten aus dieser ersten Gruppe von Demonstrant*innen heraus Diskussionen auch mit den Sicherheitskräften entstanden, die nicht in Gewalt umgeschlagen sind, kann man vermuten, dass es kein generelles Umschlagen der Anti-Establishment-Stimmung in eine Bereitschaft, sich zu bewaffnen und sich aggressiv zu verhalten, gegeben hat. Beobachter*innen setzen das Auftreten der bewaffneten und vorbereiteten Gruppen, die faktisch den mittleren Teil der ersten Januarwoche geprägt und besonders in Almaty Verwüstungen angerichtet haben, nicht in Verbindung mit den sozialen und ökonomischen Forderungen. Sie werten das eher als Versuch, die Tokajew-Regierung zu destabilisieren und zu stürzen.

Diese Gruppen waren wahrscheinlich sowohl von inneren als auch von äußeren Kräften getragen; ich warne aber davor zu sagen, dass das in erster Linie von außen hineingetragen worden ist. Denn es gibt genügend Gründe für Protest im Land selbst – ich hatte bereits auf die soziale Spaltung im Kontext der Energieressourcen verwiesen, und es geht in bestimmten Kreisen der Elite immer auch um die Sicherung des Zugangs zur – und der Kontrolle über die – Verteilung der Ressourcen im Land.

Als Zugeständnis an die Protestierenden hat Präsident Tokajew den langjährigen Staatschef und «Vater des Landes», Nursultan Nasarbajew, von seinem letzten Posten im Nationalen Sicherheitsrat entbunden. Hat das Bedeutung, findet jetzt eine Neusortierung der politischen Elite statt?

Ja. Einige Familienmitglieder des ersten Präsidenten Kasachstans hatten in den letzten Jahren einflussreiche Positionen inne, die es ihnen ermöglichten, nicht nur Macht anzusammeln, sondern auch entsprechende materielle Ressourcen anzuhäufen, die sie teilweise ins Ausland verlagert haben. In der ersten Januarwoche sollen 26 Privatjets Kasachstan verlassen haben, mit denen diese Personen angeblich ins Ausland gebracht wurden. Es wird diskutiert, ob auch der Gesundheitszustand des ersten Präsidenten zum Auslöser für das Auftreten der bewaffneten Personen gegen die bestehende Regierung wurde. Nasarbajew war nach dem 27. Dezember nicht mehr öffentlich gesehen worden; man fragte sich, in welchem gesundheitlichen Zustand er sich befand. Überlegungen, dass er physisch nicht mehr in der Lage sei, auf die Geschehnisse Einfluss zu nehmen, lösten auch Fragen nach einer Veränderung der Akteurskonstellation aus, die eine Schwächung seines loyalen Umfeldes zur Folge haben könnte. Es handelt sich also um Loyalitätskonflikte. Erst am 18. Januar trat Nasarbajew wieder öffentlich auf.

Wie ist denn die Stimmung im Lande jetzt, nach den Ereignissen der ersten Januarwoche?

Zunächst einmal wird derzeit physisch aufgeräumt, um die Stadt Almaty von den Folgen der Kämpfe zu reinigen. Es wird alles weggeräumt, was an Zerstörungen noch sichtbar war. Eine Frage ist, was mit dem Gebäude der Stadtverwaltung geschehen wird, das erheblich gelitten hat; es ist unklar, ob es zu retten sein wird oder abgerissen werden muss.

Außerdem wird natürlich viel über die Ereignisse diskutiert. Dabei zeichnet sich ab, dass wahrscheinlich mehrere Narrative nebeneinander bestehen werden. Das eine Narrativ ist das offizielle, das den Staat und staatliche Akteure in den Mittelpunkt stellt. Es gibt aber gleichzeitig den Versuch zivilgesellschaftlicher Akteure, ihre jeweiligen Erlebnisse zu sichern und daneben zu stellen.

Es bestehen relativ hohe Erwartungen und Hoffnungen auf Veränderung, denn solche heftigen Proteste hat es in der gesamten Zeit der Existenz des unabhängigen Kasachstans nie gegeben. Präsident Tokajew will Pläne für Veränderungen vorlegen, die ab September greifen sollen. Aus meiner Sicht ist die entscheidende Frage, ob bereits in den kommenden Monaten die sozialen und wirtschaftlichen Probleme real adressiert werden. Wie viel mehr Möglichkeiten für eine Mitgestaltung der Gesellschaft werden den Bürger*innen eröffnet? Wie werden die Instrumente dafür ausgestaltet, welche Räume werden geöffnet? Man sollte bedenken, dass es eine hohe Erwartungshaltung gibt, das Zeitfenster aber relativ begrenzt ist. Die Leute wollen sehen, dass sich die Dinge wirklich zum Besseren wenden.

Allerdings wissen wir, dass grundlegende Veränderungen in einer Gesellschaft gut vorbereitet werden müssen, um erfolgreich zu sein. Nehmen wir die Frage demokratischer Wahlen. Sollen sich unterschiedliche Akteure beteiligen können, müssen sie sich zuvor präsentieren und für sich werben können. Das trifft auch auf andere, insbesondere auf wirtschaftliche Fragen zu. Meines Erachtens steht Präsident Tokajew vor einer sehr großen Aufgabe, und die Frage, ob er die Kraft und die Ressourcen findet, diese Herausforderungen zu bestehen, lässt sich jetzt noch nicht beantworten. Auch sollte man diesbezüglich nicht von guten Vorsätzen ausgehen, sondern von den Taten, die wiederum eine entsprechende finanzielle Untersetzung erfordern. Dass auch jene Menschen, die in den letzten Jahren erhebliche materielle Güter angesammelt haben, einen Teil ihrer Einkommen dazu in einen Fonds einbringen sollen, wurde von Präsident Tokajew angeregt, aber ob dies die Lösung für über Jahre hinweg angestaute sozial-ökonomische Probleme bringt, ist fraglich.

Für die Erneuerung des Landes bedarf es auf der einen Seite einer Balance, die Stabilität gewährleistet, und auf der anderen Seite auch den Mut, neue Schritte zu wagen mit Akteuren, die sich als Staatsbürger*innen begreifen und eine aktive Position einnehmen wollen. Wer sich mit Zentralasien beschäftigt, weiß, dass es in dieser Region Bürgerkriege gegeben hat, die erhebliches Leid in der Bevölkerung verursacht und der Wirtschaft und Gesellschaft dieser Länder massiv geschadet haben. Nach den Ereignissen der ersten Januarwoche wünsche ich deshalb allen Bürger*innen des Landes, dass es eine friedliche und gleichberechtigte Entwicklung für die in dem Land lebenden Menschen gibt, egal welcher Gruppen sie sich zurechnen.