Nachricht | Rosa Luxemburg - Osteuropa - Ukraine Rosa Luxemburg in der Ukrainefrage

Die Autorin von «Nationalitätenfrage und Autonomie» hätte Putins Krieg entschieden abgelehnt.

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Holger Politt,

«Es lebe die freie Ukraine!»: Demonstration auf dem Maidan-Platz in Kyjiw, 1918. Foto: Wikimedia Commons

Hier und da wird jetzt sogar versucht, Rosa Luxemburg auf die eine oder andere Weise vor den Karren des Putin-Krieges gegen die Ukraine zu spannen. Gleich Putin soll sie nämlich die Existenz einer selbständigen Ukraine bestritten und als ein Hirngespinst abgetan haben. Angeregt werden diejenigen, so etwas zu behaupten, durch die häufig kolportierte Stelle im berühmten Manuskript zur russischen Revolution vom Spätsommer 1918, an der Rosa Luxemburg in der Tat sehr Abschätziges zur ukrainischen Nationalbewegung notiert hatte. Doch sei hier gleich angeführt, dass das Bemühen, nun deswegen Rosa Luxemburg an die Seite des kriegsführenden Kremlherrschers zu rücken, jenem untauglichen Vorgehen ähnelt, mit dem Polens führende Nationalkonservative nicht aufhören, sie ungeniert in das Lager der Verräter Polens zu schieben.

Tatsächlich hatte Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis 1918 von einer «russischen Ukraine» geschrieben, von Narreteien des «ukrainischen Nationalismus». Auch erwähnte sie «Lenins Steckenpferd», nämlich die «selbständige Ukraine». Was sie in dem Manuskript – in Unkenntnis ihrer wichtigen Arbeit «Nationalitätenfrage und Autonomie» aus den Jahren 1908/09 wird das häufig übersehen – vorausgesetzt hatte, war das Prinzip des russischen Zentralstaats mit einem Zentralparlament in der russischen Hauptstadt. Die Durchsetzung der vollen politischen Freiheit – mit Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit im Kern – sollte im gesamten Riesenreich erfolgen. Noch immer dachte sie in den Grenzen des ehemaligen Zarenreiches, wie sie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestanden hatten: Erst die politische Revolution, also der Sturz der Zarenherrschaft, danach der innerhalb des Gesamtstaates beginnende Umwälzungsprozess hin zu einer aus dem Kapitalismus ausbrechenden Gesellschaft, um schließlich entscheidend mitwirken zu können an einer sozialistischen Revolution im Weltmaßstab. Bis dahin aber, so gleichermaßen ihre Überzeugung wie Forderung, müssten die verschiedenen Nationalitätenfragen innerhalb des Riesenlandes einigermaßen im Zaum gehalten werden. Den Weg Lenins, sich strikter nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen auszurichten, hielt sie von Anfang an für falsch und überdies – womit sie schließlich nicht unrecht hatte – auch für verlogen.

Rosa Luxemburgs Konzept der Lösung von Nationalitätenfragen im Russischen Reich erlitt am Ende des Ersten Weltkriegs weitgehenden Schiffbruch, viele in die Zukunft gerichtete Vorstellungen waren nun schlichtweg gegenstandslos geworden. Sie selbst hatte allerdings kaum noch Gelegenheit, sich dazu zu verhalten. Das berühmte Manuskript zur russische Revolution ist vor allem der Versuch gewesen, einen Weg zu weisen, um die in eine Sackgasse geratene politische Revolution zu retten, um also die politischen Freiheiten durchzusetzen. Die Nationalitätenfragen tauchten hingegen als ein letzter Anklang an ihre Schrift von 1908/09 nur noch ganz am Rande auf, darunter eben auch die wenigen oder spärlichen Hinweise auf die Ukraine.

Entscheidender aus heutiger Sicht ist der Rückgriff auf die grundlegenden Positionen, wie sie in «Nationalitätenfrage und Autonomie» festgehalten worden waren. Während über die faktisch-detaillierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Nationalitätenfragen im Zarenreich die Zeit in vielen Fragen unweigerlich hinweggegangen ist, sind die wichtigen Grundelemente im Verständnis von nationalen Fragen bei Rosa Luxemburg ohne jeden Zweifel höchst aktuell geblieben. Putins Krieg gegen die Ukraine wirkt nun sogar wie ein neuerlicher und schlagender Beweis für diese Behauptung.

Erstens hielt sie nichts von einem Vorgehen, mit dem bestehende Grenzen verschoben werden, um ethnische Einheitlichkeit herzustellen oder Bevölkerungsgruppen «heimzuholen» – sie wusste um das gewaltige Gefahrenpotential von einseitigen Grenzverschiebungen überhaupt. Das war schließlich auch ihre ausschlaggebende Begründung in der polnischen Frage, ohne dass sie damit der 1815 in Wien endgültig zwischen Preußen, Österreich und Zarenrussland ausgemachten Dreiteilung Polens eine höhere Weihe verlieh. Aber sie war sich bewusst, dass eine Änderung oder gar völlige Überwindung dieser Aufteilung Polens nur unter der Bedingung eines großen Krieges zwischen den Teilungsmächten erfolgen könnte. Sie hatte recht damit, denn der sich hochschaukelnde politische Konflikt zwischen den Teilungsmächten mündete im Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Statt also Grenzen, mit welchen Mitteln auch immer, einseitig zu verschieben, forderte Rosa Luxemburg einen robusten und vor allem verlässlichen Schutz von nationalen oder ethnischen Minderheiten innerhalb eines größeren Staatsverbandes. Schutz der Muttersprache, Schulbildung in derselben, entsprechende sprachliche Regeln in Behörden wie an den Gerichten – das alles und mehr wurde aufgelistet, um schwelende oder latente Nationalitätenkonflikten einzudämmen. Diese Überlegungen waren eingebettet in das Konzept einer starken lokalen oder regionalen Selbstverwaltung, die gewissermaßen von unten mit dem Mandat der jeweiligen Bevölkerung gegen den von oben wirkenden Zentralstaat ausgerichtet ist. In besonderen Fällen, so Rosa Luxemburg, könne dann auch an eine nationale Autonomie gedacht werden.

Es liegt auf der Hand, wie begründet die Autorin von «Nationalitätenfrage und Autonomie» jegliche Form von Separatismus oder abtrünnige Territorialgebiete als eine Lösungsmöglichkeit für Nationalitätenkonflikte abgelehnt hat. Schaut man also genauer auf den Gegenstand, dann ließe sich alles an Putins Vorgehen gegen die Ukraine seit dem März 2014 mit jenen Mitteln, die Rosa Luxemburg 1908/09 vor dem Leser tiefgründig ausgebreitet hat, nicht nur kritisieren, sondern entschieden zurückweisen: Die Krim-Annexion, die abtrünnigen Volksrepubliken im Donbass, die verlogenen Vorwände schließlich für die feige Aggression, die am 24. Februar 2022 losgetreten wurde. Selbst ihre energische Föderalismus-Kritik – sie stand hier ganz in der französischen Tradition –, passt: Putins Absichten, die Ukraine auf die Knie zu zwingen und nach russischer Maßgabe zu föderalisieren, um den Stellenwert der Zentralregierung in Kiew völlig auszuhöhlen, hätte sie entrüstet vom Tisch gewischt.

(Der Beitrag ist erstmals erschienen in der Zweiwochenschrift Das Blättchen, Nr. 8/2022.)