Der Erste Weltkrieg und die Novemberrevolution sind für den 1872 in Bremen geborenen Künstler Heinrich Vogelereinschneidende Ereignisse. Vor allem durch das Kriegserlebnis, aber auch durch seine künstlerische Krise, er hat genug von seiner Rolle als langjähriger «Liebling des Bürgertums» politisiert und radikalisiert er sich – und beginnt öffentlich zu schreiben. Er wird vom bekannten Jugendstil-Künstler zum Sozialisten. Nahezu alle seine Publikationen erscheinen im letzten Drittel seines Lebens.
Die vorliegende Edition versammelt rund 70 Texte von Vogeler (Leseprobe mit Inhaltsverzeichnisals PDF). Sie erscheint aus Anlass seines diesjährigen 150. Geburts- wie 80. Todestages. Enthalten sind Beiträge aus Zeitungen und Zeitschriften, aus Sammelwerken, ja ganze Broschüren. Formal sind es Programmtexte, Aufrufe, Polemiken, Flugschriften und Offene Briefe. Die meisten stammen aus der Zeit 1918 bis 1923, als der Barkenhoff in Worpswede eine «Arbeitskommune» und Vogeler (trotzdem oder deswegen) unermüdlich unterwegs ist und Vorträge hält. Das zweite von vier Kapiteln umfasst Texte aus Vogelers Zeit in Berlin 1923 bis 1931 und das dritte aus seinem dauerhaften Aufenthalt in der Sowjetunion bis zu seinem Tod 1942. Im vierten und letzten Abschnitt finden sich sechs autobiographische Texte.
Thematisch geht es um Revolution und progressive Pädagogik, die Utopie des Kommunismus und des «Neuen Menschen», um Anarchismus, ländliche Siedlung, politische Strategien, Räteordnung und vieles andere mehr. Mit dieser wichtigen und verdienstvollen Publikation liegt erstmals eine exemplarische und repräsentative Sammlung von Heinrich Vogelers zu Lebzeiten veröffentlichten Texten vor. Sie ermöglichen eine fundierte Auseinandersetzung mit Vogelers Denken über Politik, Pädagogik und Kunst; sie zeigen zudem wie vernetzt vor allem in der Barkenhoffzeit er mit den vielen sozialrevolutionären Gruppen jener Jahre ist.
Die Beschäftigung mit Vogeler ist auch heute noch mehr als lohnend. Zum einen in ästhetischer Hinsicht, zum anderen im Hinblick darauf, dass die von ihm oft sehr idealistisch, wenn nicht schwärmerisch diskutierten Anliegen, wie, um nur einige zu nennen, Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe, alternative Ökonomie, Naturverhältnis und die Spannung zwischen Pädagogik und dem «neuen Menschen» weiterhin aktuell sind. Nicht zuletzt scheint in seinem Leben auch die Tragik des deutschen Kommunismus mit auf. Und wer schon immer einmal die Hausordnung des Barkenhoff nachlesen wollte, hat nun wieder Gelegenheit. Diese ist in der Broschüre «Siedlungswesen und Arbeitsschule» von 1919 veröffentlicht worden (Zitat: «3. Aus der Küche ist eigenmächtig keine Verpflegung zu entnehmen»).
Walter Fähnders/Helga Karrenbock (Hrsg.): Heinrich Vogeler. Schriften; Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022, 290 Seiten, 25 EUR