Analyse | Parteien / Wahlanalysen - UK / Irland - Westeuropa Rückschlag für Boris Johnson, Triumph für Sinn Féin

Bei den nordirischen Regionalwahlen wurde Sinn Féin erstmals stärkste Partei. Landesweit wurde auf Kommunalebene gewählt, die regierenden Konservativen haben deutlich verloren.

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Florian Weis,

Michelle O’Neill
Michelle O’Neill wird nach dem Wahlsieg der irisch-republikanischen Sinn Féin wohl «Erste Ministerin» in Nordirland werden. CC BY 2.0, Foto: Sinn Féin / flickr

Die Kommunalwahlen vom 5. Mai in Teilen Englands sowie in Schottland und Wales sollten in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Anders als bei den Wahlen vor einem Jahr, als auch die Regionalparlamente in Schottland und Wales sowie die Bürgermeister:innen von London, Greater Manchester und anderen Städten und Regionen gewählt wurden[1], standen diesmal in knapp der Hälfte der englischen sowie in allen Kommunen in Schottland und Wales die Gemeindevertreter:innen zur Wahl. Dabei ist die traditionell niedrige Beteiligung an Kommunalwahlen zu berücksichtigen. Ferner ist einzubeziehen, dass die Vergleichswahlen in England im Mai 2018 stattfanden, als die Labour Party vergleichsweise gut abschnitt, während in Wales und Schottland die Kommunalvertretungen zuletzt im Mai 2017 bestimmt wurden, bevor der letztlich kurzlebige Aufschwung von Labour begann. Schließlich variiert auch das Wahlrecht zwischen England und Schottland erheblich.  

Sonderfall Nordirland: Symbolischer Triumph für Sinn Féin

Die Regionalparlamentswahl in Nordirland, bei der erstmals die irisch-republikanische Sinn Féin stärkste Partei wurde, unterlag ganz eigenen Bedingungen, die keinerlei Rückschlüsse auf die übrige britische Politik zulassen. Bei einer mit 63 Prozent fast gleichen Wahlbeteiligung wie 2017 - bei Regionalwahlen liegt die Beteiligung deutlicher höher als bei Kommunalwahlen, gleichzeitig beteiligen sich aber in Nordirland traditionell weniger Menschen an Wahlen als etwa in England - steigerte SF ihren Stimmenanteil leicht auf 29 Prozent der Stimmen und kam erneut auf 27 von 90 Sitzen im Regionalparlament. Angesichts der Verluste der Democratic Unionist Party (DUP, nur noch gut 21 Prozent der Stimmen und 25 Mandate) reichte dies aus, um erstmals stärkste Partei zu werden[2]. Symbolisch ist dies ein Triumph für die in langen historischen Linien denkenden Republikaner:innen, zumal SF nun in Nordirland wie der Republik Irland stärkte Partei nach Stimmenanteilen ist. Praktisch ändert dieser Erfolg freilich wenig, denn nach der komplizierten Machtbalance in Nordirland seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 müssen sich die jeweils stärksten Parteien des protestantisch-unionistischen und des irisch-katholischen Lagers arrangieren, wenn eine gemeinsame Regierung zustande kommen soll. Faktisch haben die «Erste Ministerin», künftig also Michelle O’Neill von SF, und der «Erste stellvertretende Minister» gleiche Rechte und können sich blockieren. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Nominierung von Michelle O’Neill und ihres Stellvertreters lange hinziehen wird, wobei ein Scheitern und damit Neuwahlen nicht auszuschließen sind. Viel hängt dabei von der Londoner Regierung und dem weiteren Umgang mit dem Nordirland-Protokoll zum Brexit-Vertrag ab.  

Die Verluste für die DUP waren beträchtlich, während die liberale Alliance Party, die sich als Community-übergreifend versteht, auf mehr als 13 Prozent der Stimmen und 17 von 90 Parlamentssitzen zulegte. Demgegenüber schnitten die linke Formation «People Before Profit» (PBP) und die Grünen, die sich beide ebenfalls als Community-übergreifend verstehen, enttäuschend ab, wobei PBP trotz Verlusten immerhin ihr einziges Mandat in der republikanischen Hochburg West-Belfast verteidigen konnte. Nach wir vor stimmen jeweils rund 40 Prozent der Wähler:innen für Parteien entlang der starren Lager (irisch-katholisch-«nationalistisch» bzw. britisch-protestantisch-unionistisch) ab, auch wenn der Anteil gerader jüngerer Wähler:innen langsam steigt, die sich dieser Trennlinie entziehen wollen. Leider gelingt es bis heute nicht, eine linke bzw. eine Arbeiter:innenpartei jenseits der unionistisch-nationalistischen Spaltungslinie zu etablieren. So bleibt SF die hegemoniale Mitte-Links-Partei, die aber zwangsläufig nicht in die protestantische Arbeiter:innenschaft hineinwirken kann.

Trotz der großen Erfolge von SF 2020 (24 Prozent der Stimmen in der Republik Irland) und 2022 (29 Prozent im Norden), die der SF-Führung um Mary Lou McDonald und Michelle O’Neill Hoffnung machen, in den nächsten fünf Jahren ein Referendum («border poll») über die irische Vereinigung abhalten und gewinnen zu können, ist dies ein eher unwahrscheinliches Szenario: Die Mehrheit der Nordir:innen lehnt derzeit eine irische Vereinigung ab. Der Erfolg von SF im Süden ist auf sozialpolitische Positionen und Proteststimmen zurückzuführen, nicht auf die nationale Frage, und auch im Norden, wo diese eine größere Rolle spielt, versuchte SF, gesundheits- und sozialpolitische Themen stark zu machen.       

Bad news für Boris Johnson – aber kein Desaster für die Konservativen

Die Konservativen haben am 5. Mai erwartungsgemäß und zum Teil deutlich verloren, insbesondere im Großraum London, aber auch in Schottland sowie einigen südenglischen Hochbugen ihrer «blue wall».[3] Für eine Partei, die seit zwölf Jahren die Regierung stellt und sich in der Mitte einer Wahlperiode befindet, sind die Ergebnisse allerdings nicht so katastrophal, als dass ein rascher Wechsel an der Spitze von Partei und Regierung zwingend zu erwarten ist.    

Labour schneidet im Vergleich zu den schwachen Ergebnissen bei den Wahlen 2017 und 2021 erwartungsgemäß besser ab, kann jedoch gegenüber den relativ guten Ergebnissen von 2018 nicht zulegen. Bei aller Vorsicht gegenüber einer Hochrechnung auf nationale Wahlen ergäbe sich für Labour umgerechnet etwa ein Wert von 35 Prozent, während die Konservativen auf 30 Prozent zurückfielen. Erstmals seit 2012 wäre Labour damit stärkste Partei, freilich auf einem bescheidenen Niveau. Dies deckt sich mit den zahlreichen Umfragen, nach denen Labour seit fünf Monaten konstant, wenn auch meistens nur knapp vor den Konservativen landet. Zusammen deutet dies, bei aller gebotenen Vorsicht, darauf hin, dass Labour bei den nächsten Unterhauswahlen, die spätestens Ende 2024 anstehen, wahrscheinlich aber vorgezogen werden, erstmals seit 2005 wieder stärkste Partei nach werden könnte, jedoch ohne eine ausreichende eigene parlamentarische Mehrheit.  

Zugewinne konnte Labour insbesondere in einigen der 32 Londoner Bezirke erzielen, symbolisch bedeutsam waren etwa die Siege in konservativen Hochburgen wie Westminster, Wandsworth und Barnet. Diese lokalen Erfolge unterstreichen Labours Dominanz in London, nachdem 2021 Sadiq Khan als Bürgermeister wiedergewählt wurde und Labour auch bei den Unterhauswahlen 2019 die bei weitem meisten Sitze in der Hauptstadt errang. Jedoch konnte Labour im englischen Norden und den Midlands, wo sie bei den Unterhauswahlen 2019 stark verlor, nicht zulegen.

Für die Liberaldemokraten waren die Kommunalwahlen vor allem in England ein Erfolg. Der 5. Mai macht der Partei Mut, aus ihrem Dauertief seit 2015 herauszukommen, als die Partei für ihr Bündnis mit den Konservativen und für die verheerende Austeritätspolitik sowie den Libyen-Krieg 2011 mit dem Verlust von Zweidritteln ihrer Stimmen bestraft wurde. Hochgerechnet würde das Ergebnis aus der letzten Woche 19 Prozent der Stimmen bedeuten, auch wenn bei einer Unterhauswahl sicherlich ein niedrigeres Abschneiden zu erwarten ist. Auch die Grünen konnten ihren langsamen, aber stetigen Aufstieg fortsetzen, mittlerweile auch weit über Hochburgen wie Bristol und Brighton hinaus. Angesichts des relativen Mehrheitswahlrechtes wird es aber schwierig sein, neben der einzigen Grünen Unterhaus-Abgeordneten Caroline Lucas weitere Mandate zu gewinnen.  

Schottland und Wales: Scottish National und Labour behaupten ihre Dominanz

Während die Labour Party in Wales seit der Einführung der Teilautonomie 1999 ununterbrochen regiert, verlor sie die Regierung in Schottland 2007 an die Scottish National Party (SNP) und stürzte seit 2015 regelrecht ab. Die Kommunalwahlergebnisse bestätigten nun den Ausgang der Regionalwahlen im letzten Jahr, insofern Labour in Wales zulegen konnte[4], während die SNP in Schottland ihre dominante Stellung behielt[5]. In beiden Regionen verloren die Konservativen, während die Grünen und in Wales auch die Regionalpartei Plaid Cymru (PC) zulegten. Dabei gibt es einen bedeutenden Unterschied im langfristigen Wahlverhalten. In Wales hat bis heute eine progressive Tradition Bestand, die auf einen im Vergleich zu England und Schottland sozialen Liberalismus zurückgeht, erinnert sei hier an den aus Wales stammenden liberalen Parteiführer und Premierminister (1916-1922) David Lloyd George. In Wales existiert also ein hegemoniales progressives Milieu, dessen stärkste Kraft die Labour Party ist, das aber über sie hinausreicht. Dass die Abgeordneten von Plaid Cymru in Westminster oder Cardiff eine konservative Regierung tolerieren könnten, ist kaum vorstellbar. Dies gilt zwar auch für die ebenfalls recht progressive SNP unter der starken Führung von Nicola Sturgeon, Schottlands Regierungschefin seit 2014, doch gruppiert sich dort das Wahlverhalten zunehmend nach einer anderen Logik, nämlich der Frage «Unabhängigkeit» oder «Unionism» (Verbleib im Vereinigten Königreich). Dem ersten Lager gehören die SNP und die mit ihnen regierenden, relativ weit linksstehenden Grünen an, dem zweiten Labour, die Konservativen und die Liberaldemokraten. Gerade für die Labour Party und generell für eine linke, an sozialen und ökonomischen, nicht nationalen Fragen orientierte Politik ist das ein großes Problem, wie auch die Brexit-Frage in verheerender Weise aufzeigte. In gewisser Weise ist an diesem Dilemma auch der linke schottische Labour-Vorsitzende Richard Leonard, ein Corbyn-Unterstützer, gescheitert. Sein Nachfolger Anas Sarwar konnte nun einen begrenzten Erfolg verzeichnen, weil Labours geringe Zuwächse aufgrund der starken Verluste der Konservativen ausreichten, um die Partei wieder zur zweitstärksten schottischen Partei zu machen, wenn auch mit weitem Abstand zur SNP.   

Umgerechnet auf eine gesamtbritische Wahl unter dem rigiden Mehrheitswahlrecht bestätigt das Ergebnis vom 5. Mai, dass die SNP erneut die überwältigende Mehrheit der schottischen Unterhaussitze gewinnen würde, bei einigen wenigen Labour-Zugewinnen. In der Folge dürfte die SNP auch nach den nächsten Unterhauswahlen die drittstärkste Fraktion in Westminster stellen und Labour in absehbarer Ermangelung einer absoluten Mehrheit auf eine Tolerierung durch die schottischen Nationalist:innen angewiesen sein. Deren Preis würde die Bewilligung eines erneuten Referendums über die schottische Unabhängigkeit sein.    

Boris Johnson und die Konservativen: Niemals voreilig abzuschreiben

Die Berichterstattung über die britische Regierung und das Unterhaus zeichnete in den letzten Monaten ein Bild von permanenten Skandalen. Prägend sind dabei die «Partygate»-Berichte über Verstöße durch Johnson und andere Minister:innen gegen die von ihrer eigenen Regierung aufgestellten Corona-Regeln. Es sind dabei weniger die Regelverletzungen an sich das Problem als vor allem die wiederholten Lügen und die Arroganz, mit der Johnson und andere Angehörige der traditionellen Herrschaftsschichten für sich andere Spielregeln als für die übrigen Brit:innen zu beanspruchen scheinen. Inwieweit der Labour-Vorsitzende Keir Starmer aufgrund der Umstände eines Auftritts mit Parteiaktivist:innen bei einer Nachwahl-Kampagne vor einem Jahr («Beergate») ebenfalls in gravierende Schwierigkeiten geraten könnte, ist noch nicht absehbar.

So sehr den Konservativen bei diesen Wahlen die fehlende Integrität von Boris Johnson auch geschadet haben dürfte, «Partygate» ist wahrlich nicht das größte Problem der britischen Politik. Weit schlimmer ist etwa die schwere sexuelle Nötigung eines zum Tatzeitpunkt fünfzehnjährigen Jungen, für die ein bisheriger konservativer Abgeordneter kürzlich zu einer mehrjährigen Haftstraße verurteilt wurde. Schlimmer sind auch zahlreiche Fälle von sowohl sexuellen Übergriffen von männlichen Abgeordneten gegenüber Frauen und Männern als auch, unabhängig davon, eine Schikanierung («Bullying») von Mitarbeiter:innen durch Abgeordnete, Männer wie Frauen, in den meisten Parteien.

Hinter der problematischen Nivellierung und Trivialisierung von Skandalen in großen Teilen der alten und neuen Medien drohen größere gesellschaftliche Problemlagen zu verschwinden. Beispielhaft sei hier nur an die trotz der Corona-Pandemie andauernde Unterfinanzierung des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS erinnert, an wachsende Armut durch stark steigende Energiepreise, an eine zu langsame Energiewende, an die fristlose Entlassung von 800 Fährschiffarbeiter:innen durch «P&O Ferries» und ihre sofortige Ersetzung durch andere Arbeiter:innen mit wesentlich geringeren Löhnen, an das Abkommen zur geplante Internierung von afrikanischen Asylsuchenden in Ruanda oder an die im europäischen Vergleich geringe Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine.     

Boris Johnson ist trotz der Verluste bei den Kommunalwahlen nicht akut gefährdet. Viele Brit:innen haben sich daran gewöhnt, dass «Boris» eher in einem Fettbottich schwimmt als in Fettnäpfe tritt. «Partygate» hat seinem Ansehen geschadet, doch tritt bei Johnson ein ermüdender Gewöhnungseffekt ein. Ein schneller Machtwechsel erscheint deshalb unwahrscheinlich. Nicht zuletzt fehlt eine unstrittige personelle Alternative in der konservativen Partei. Der zeitweilige Favorit für eine Johnson-Nachfolge, Schatzkanzler Rishi Sunak, der wahrscheinlich reichste britische Politiker, hat selbst mit Vorwürfen zu kämpfen. Noch dazu steht er - im Unterschied zu Johnson - für eine traditionelle konservativ-wirtschaftsliberale Zurückhaltung des Staates in ökonomischen Belangen, was viele Wähler:innen, die wegen des Brexit und Johnson 2019 zu den Konservativen wechselten, enttäuscht. Es ist also durchaus möglich, dass die Konservativen mit Johnson in die nächsten Unterhauswahlen gehen werden. Boris Johnson mag ein schlechter Clown sein, ein gefährlicher Spieler, der schwerlich als integer zu beschreiben ist. Er verkörpert jene Teile der Upper Class, die ihren Herrschaftsanspruch auf Verachtung für die Bevölkerungsmehrheit stützen und denen Empathie fremd ist. Seinen Machtwillen und seine Fähigkeit, sich aus Krisen heraus zu manövrieren, und sei es durch die Mobilisierung von Ressentiments wie im Brexit-Referendum 2016 oder bei den Unterhauswahlen 2019, sollte jedoch niemand unterschätzen.