Nachricht | Waldner (Hg.): Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath; Wien 2021

Visualisierung als emanzipatorisches pädagogisches Instrument

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In den letzten Jahren erleben Karten und Grafiken mit emanzipatorischer und herrschaftskritischer Absicht ein bemerkenswertes Revival. Ein Beispiel sind die verschiedensten Themenausgaben von »Atlas der ...«, die unterschiedliche NGOS und politische Stiftungen regelmäßig produzieren. Der Wiener Ökonom und Philosoph Otto Neurath(1882−1945) gilt als Erfinder der Bildstatistik, die heute wohl Infografik genannt werden würde [1]. Gemeinsam mit Gerd Arntz(1900-1988), Marie Reidemeister(1898-1986), Wissenschaftler*innen und Grafiker*innen entwickelt er im Roten Wienz.B. ein von 1925 bis 1934 existierendes Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, in dem soziale und wirtschaftliche Daten übersichtlich zur Diskussion aufbereitet wurden. Verständliche Grafiken sollen einen Beitrag zur Demokratisierung des Wissens und damit zur Herausbildung mündiger BürgerInnen sein.

Die 12 Beiträge dieses Bandes beruhen auf einem Symposium des heutigen, nach dem Ende des Nationalsozialismus wiedergegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums. Sie diskutieren die wechselvolle Geschichte des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums von seiner Gründung bis heute, erläutern die Prinzipien der Grafiken und der innovativen Museumsarbeit, rekonstruieren die Fortführung der Bildstatistiken als International System of Typographic Picture Education (Isotype) in Holland (und später Großbritannien) wohin das Team um Neurath 1934 fliehen muss. Im Dezember 1941 heiraten Reidemeister und Neurath in Oxford/GB, und Marie Neurath führt nach Neuraths Tod das gemeinsam begonnene Werk bis 1971 fort, ja, sie internationalisiert es. Gerhard Halusa berichtet in seinem Beitrag über die Geschichte des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums bzw. dessen Nachfolgeinstitution nach 1934. Neurath bzw. der von seiner Gruppe propagierte interdisziplinäre Ansatz wiederum ist selbst im sozialdemokratischen Wien lange vergessen. Er wird erst, das erzählt Friedrich Stadler, anfangs der 1980er-Jahre im Zuge der Vorbereitung für eine Ausstellung zu »Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit« 1982 wiederentdeckt.

Der Band stellt auch beeindruckende aktuelle Beispiele für radikale visuelle Kommunikation nach Neurath aus den USA, Mexiko, Frankreich - und aus Wien - vor. Das Buch ist mit 165 Abbildungen und Illustrationen versehen, darunter auch viele eindrucksvolle Beispiele aus dem Schaffen des Teams um Neurath. Es zeigt, dass auch heute - erst recht interdisziplinäres - Wissen eine wichtige Voraussetzung für Partizipation ist. Sein Gegenstand ist nicht nur ein Thema für die Design- oder Kunstgeschichte, sondern war und ist von eminenter politischer Bedeutung.

[1] 2014 erschien bereits Günther Sandner: Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien. 2018 dann: Helena Doudova, Stephanie Jacobs, Patrick Rössler (Hg.): Bildfabriken. Infografik 1920-1945: Fritz Kahn, Otto Neurath et al., Leipzig.

Gernot Waldner (Hg.): Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath; mandelbaum Verlag, Wien 2021, 336 Seiten, 25 EUR

Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Forum Wissenschaft, Heft 2/2022.