Kommentar | Parteien / Wahlanalysen - UK / Irland Abgang eines Clowns im Sommer der Unzufriedenheit

Die britischen Konservativen auf der Suche nach einer neuen Führung

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Florian Weis,

Boris Johnson geht mit großem Schritt und roter Mappe unter dem Arm auf die linke Bildkante zu. Hinter ihm der Eingang von 10 Downing Street.
Premierminister Boris Johnson verlässt 10 Downing Street zu seinem letzten Fragerunde im House of Commons. IMAGO / ZUMA Wire

Boris Johnson hatte so viele größere und kleinere Skandale politisch überlebt, dass sein angekündigter Rücktritt vom Amt des britischen Premierministers und konservativen Parteichefs am Ende ebenso folgerichtig war wie er dennoch überraschend kam. Johnson bleibt im Amt, bis ihn Liz Truss oder Rishi Sunak am 5. oder 6. September in 10 Downing Street ablösen werden.

Ein Insider, der sich erfolgreich als Outsider inszenierte

Johnson hat die Konservativen im Dezember 2019 zu ihrem größten Wahlsieg seit 1987 geführt. Besonders auf den Durchbruch in einstigen Labour-Hochburgen der «red wall» verweist Johnson immer wieder mit Stolz. Eine Nachwahlniederlage im Juni 2022 in Wakefield zeigte aber auch auf, dass der Durchbruch von 2019 keineswegs unumkehrbar ist. Die maßgeblich von Johnson geschürte Aggressivität der «Leave»-Kampagne 2016 erlaubte es ihm, durch die Verstetigung der gesellschaftlichen Spaltung der Labour Party zu schaden. Dieser dauernde Kulturkampf ermöglichte es der konservativen Regierung auch, von den eigenen Verfehlungen teilweise ablenken zu können: Von der dramatischen Ausdünnung des öffentlichen Dienstes, vom Gesundheitsdienst NHS über die Jugend- und Sozialarbeit bis hin zur Polizei; von den gravierenden Brexit-Folgen mit Blick auf die Abwanderung europäischer Arbeitskräfte und zeitweilige Versorgungsengpässe; von der schlechten Vorbereitung auf die Covid-Pandemie, der in Großbritannien 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Es gelang Johnson immer wieder, sich als anders als die übrigen Konservativen zu inszenieren, als eine Marke, eben als «Boris». Ebenfalls gelang es ihm, der viel tiefer im britischen kulturellen und politischen Establishment verankert ist als es die soziale Außenseiterin und Aufsteigerin Margaret Thatcher war, sich als volksnaher Kämpfer gegen eben dieses Establishment zu verkaufen. 2016 und 2019 errang er damit große Erfolge, wie zuvor schon 2008 und 2012 bei den Londoner Bürgermeisterwahlen.

Freilich war der Johnson der Londoner Jahre ideologisch liberaler und moderater als der spätere Brexiteer. Ideologische Kohärenz zeichnete Johnson jedoch nie aus. Vielmehr ist er ein schillernder Populist aus jenen Oberschichten, deren Überlegenheitsgefühl und Überheblichkeit er tief verinnerlicht hat. Boris Johnson hat mit dem Trumpschen Ausmaß seiner Lügen und seinen dreisten Regelverletzungen die meisten anderen konservativen Politiker:innen übertroffen. Doch steht er keineswegs alleine mit einer Haltung, die für sich und andere Angehörige der traditionellen oder neureichen Oberschichten andere Regeln für angemessen hält als sie für den Rest der Gesellschaft gelten. Erinnert sei hier an den früheren Parteichef (2005 bis 2016) und Premierminister (2010 bis 2016) David Cameron, der und dessen Familie in den Skandal um die Panama Papers verstrickt war. Oder auch an die Schatzkanzler Rishi Sunak und Nadhim Zahawi, die ihr beträchtliches Vermögen in Steueroasen anlegen, amerikanische Green Cards für Steuervorteile nutzten und von Regelungen profitieren, die es etwa der schwerreichen Frau von Sunak erlaubten, ihre Erträge nicht in dem Land zu versteuern, in dem ihr Mann gerade die staatlichen Sozialversicherungsbeiträge erhöhen ließ. Johnson stand also keineswegs alleine mit seiner Doppelmoral und sieht sich als erfolgreich: Sowohl die Privatwirtschaft als auch der öffentliche Sektor befänden sich in einem robusten Zustand, so dass seine Mission fürs erste weitgehend erfolgreich abgeschlossen sei:

Mission largely accomplished ... for now (…) Hasta la vista, baby. 1

Johnsons propagierte in seinem (wahrscheinlich) letzten Auftritt im Unterhaus als Premierminister eher traditionell-konservative Positionen in der Tradition von Margaret Thatcher: Enge Bindung an die USA, niedrige Steuern, Deregulierung und Staatszurückhaltung, ergänzt allerdings um eine Betonung wichtiger öffentlicher Großinvestitionen. Doch war Johnsons politischer Appeal in den letzten Jahren deutlich staatsinterventionistischer, bildete das «levelling up» für die notorisch vernachlässigten Regionen vor allem im Norden Englands das zentrale Post-Brexit-Versprechen, das die Tür zu neuen Wähler:innenschichten öffnen sollte. In der ersten Phase der Corona-Pandemie verfolgten Johnson und Sunak notgedrungen einen starken staatlichen Interventionismus, der die wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und gleichzeitigem Brexit-Vollzug tatsächlich abmilderte. Johnsons ideologische Bilanz fällt also so aus, wie es von ihm kaum anders zu erwarten ist: Uneinheitlich, erratisch, nur teilweise konservativ, in den Wirkungen durchweg verheerend. Das gilt in besonderem Maße für Johnsons aggressiven Populismus, der sich bewusst und erfolgreich außerhalb eines älteren liberal-konservativen Konsenses stellte: Erinnert sei hier nur an den rechtswidrigen Versuch, das Parlament 2019 für mehrere Wochen auszuschalten, an die vielen Kampagnen gegen die BBC und Teile der Verwaltungsspitzen. Nicht zufällig machte Johnson dann auch in seinem vorletzten Auftritt im Unterhaus eine Bemerkung über den «tiefen Staat», der seine Politik der Veränderungen zugunsten der einfachen Bevölkerung unterlaufen habe. Einige von Johnsons besonders radikalen zeitweiligen Berater:innen wie sein späterer Intimfeind Dominic Cummings oder Munira Mirza, eine frühere Angehörige der Revolutionary Communist Party, standen tatsächlich für einen radikalpopulistischen und durchaus nationalistischen Ansatz, der sich außerhalb der traditionellen konservativen Politik bewegte, konnten sich aber in der zweiten Phase von Johnsons Regierungszeit nicht mehr durchsetzen. Ihr Kampf gegen die wirklichen und vermeintlichen Eliten zielte nie auf die ökonomisch Mächtigen an sich ab, sondern auf ihre liberalen Teile, auf die progressiven akademisch-publizistischen Wortführer:innen und auf die traditionellen Verwaltungseliten.2

Boris Johnsons Amtsführung unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht vom Kurs seines persönlichen Rivalen seit Oxford-Tagen, David Cameron, der die Konservativen einerseits deutlich liberaler und moderner aufstellte, was die Haltung zur LGBTQI-Community, die Chancen von Frauen und «ethnischen» Minderheiten anbelangt. Andererseits steht Cameron auch für eine fast beispiellose Austeritäts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, an deren Folgen Millionen von Brit:innen bis heute schwer leiden und von der sich Johnson abzugrenzen versuchte.

Boris Johnson und die meisten Kandidat:innen für seine Nachfolge waren und sind sich nicht zu schade, sich als Kulturkämpfer:innen gegen die progressive «wokeness» zu inszenieren, aktuell vor allem in Debatten um Transpersonen. Gleichzeitig kann Johnson aber mit Recht beanspruchen, dass seine Regierung in Bezug auf die Einbeziehung von Angehörigen aus «ethnischen» Minderheiten die bei weitem diverseste der britischen Geschichte ist.

Sunak, Truss und der Rest des Feldes: Wohin gehen die Konservativen?

Im Feld der anfangs mehr als zehn Bewerber:innen für die Johnson-Nachfolge fanden sich bis auf Tom Tugendhut und Jeremy Hunt keine Vertreter:innen einer moderaten, liberal-konservativen Tradition. Der Kampf fand hauptsächlich zwischen besonders weit rechts stehenden Politiker:innen (Liz Truss, Suella Braverman und Kemi Badenoch) und nur geringfügig moderateren Kandidat:innen (Nadhim Zahawi, Sajid Javid, Rishi Sunak, Penny Mordaunt) statt. Als Gegner:innen von Boris Johnson hatte sich bis vor kurzem außer Hunt und Tugendhut jedenfalls niemand hervorgetan. Liz Truss wird dabei von einem Teil des rechten Parteiflügels und von denjenigen Johnson-Loyalisten, die «jede/n außer Rishi» wünschen, unterstützt. Als Außenministerin hat sie sich auch jenseits des rechten Spektrums einen gewissen Respekt erworben. Ansonsten erweckt sie den Eindruck, durch besonders schrille Töne und Forderungen davon ablenken zu wollen, einst gegen den Brexit votiert zu haben. Im Unterschied zu Truss und mehr noch zu Johnson tritt Sunak, der den Brexit frühzeitig unterstützt hat, seriöser und verbindlicher auf. In steuer- und wirtschaftspolitischen Fragen ist Sunak einerseits heftiger Kritik von Truss und anderen Konservativen ausgesetzt, weil sie ihn für die angeblich höchsten Steuersätze der letzten 70 Jahre verantwortlich machen. Andererseits kann Sunak sich so auch als seriöser Finanzpolitiker gegenüber Truss profilieren, die er als ökonomische Märchenerzählerin angreift, die absurde Steuersenkungsversprechungen mache.

Rishi Sunak (42) geht nach insgesamt fünf Wahlgängen in der konservativen Unterhausfraktion zwar als Spitzenreiter in die Endabstimmung der geschätzt 140.000 bis 200.000 Parteimitglieder, doch deuten verschiedene Umfragen darauf hin, dass die selbsternannte Thatcher-Erbin Liz Truss (46) die Favoritin der einfachen Mitglieder sein könnte. Der Ausgang des Rennens ist in jedem Falle deutlich offener als 2019, als Boris Johnson sich mit 2/3 der Mitgliederstimmen deutlich gegen Jeremy Hunt durchsetzte. Großbritannien wird also entweder zum dritten Mal nach Margaret Thatcher (1979-1990) und Theresa May (2016-2019) eine Frau an der Spitze der Regierung bekommen, oder erstmals eine Person of Colour.

Das Kandidat:innenfeld: Sehr divers, aber alles andere als egalitär

Das Feld der konservativen Bewerber:innen und anderer Spitzenpolitiker:innen zeugt von einer Diversität, wie sie in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern (noch) nicht vorstellbar ist: Neben Sunak sind hier vor allem die viertplatzierte Kemi Badenoch, die fünftplatzierte Suella Braverman und die früher ausgeschiedenen Nadhim Zahawi und Sajid Javid zu nennen, außerdem auch die Innenministerin Priti Patel, die auf eine Kandidatur verzichtete. Dieses in Bezug auf den Anteil von Angehörigen von «ethnischen» Minderheiten und Frauen durchaus beeindruckend diverse Personaltableau geht auf eine erfolgreiche Kampagne von David Cameron nach dessen Übernahme des Parteivorsitzes zurück, in deren Folge gezielt Unterhauskandidat:innen aus «ethnischen» Minderheiten (hier jeweils im Sinne des britischen BAME verwendet: Black, Asian, Minority ethnic) aufgebaut wurden. Während die Labour Party einen wesentlich höheren Anteil von Parteimitgliedern und auch Abgeordneten aus Minderheitengruppen aufweist, sind diese in der konservativen Partei weit überproportional in den höheren politischen Funktionen vertreten. Diese Entwicklung sollte nicht leichtfertig als irrelevant abgetan werden, sie drückt vielmehr den Wandel der britischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten aus. Anders als teilweise Labour verstehen die Konservativen ihre Politiker:innen aus den «ethnischen» Minderheiten jedoch nicht als Vertreter:innen von Communities, sondern als individuelle Aufsteiger:innen (oder längst ökonomisch Arrivierte), die eine Partei für die ambitionierten und leistungsstarken Gruppen verkörpern und die sie deshalb in traditionellen konservativen (und mithin lange Zeit «weißen») Wahlkreisen einsetzten. Schon 1983 plakatierten die Konservativen einmal:

Labour says he's black. Tories say he's British.3

Das ändert freilich nur begrenzt etwas an einem fortbestehenden institutionellen Rassismus und gar nichts an der rigiden und rechtsstaatlich mehr als zweifelhaften Abschiebe- und Abschottungspolitik der Innenministerin Priti Patel, für die das Ruanda-Abkommen in besonders erschreckender Weise steht und das von Sunak, Truss und anderen unterstützt wird. Doch ist eine ausgeprägt humanitäre Politik auch nicht der Anspruch der meisten konservativen Politiker:innen of Colour. Eine Kritik an ihnen kann deshalb auch nicht bei ihrem Herkommen oder ihrer «Identität» ansetzen und meinen, sie deshalb auf eine antirassistische und progressive Linie verpflichten zu können, sondern kann nur politisch, das heißt auf politische Positionen und soziale Interessen bezogen, erfolgen. Entsprechend ist etwa Kemi Badenoch, eine junge Schwarze Politikerin und ein neuer Star der Tory-Rechten, nicht in erster Linie dafür anzugreifen, dass sie keine Politik im Sinne benachteiligter Schwarzer betreibt, wohl aber für ihr Ziel, den Staat auf seine absoluten Mindestfunktionen zu beschneiden. Eine solche politische, nicht identitäre Kritik schließt zwingend mit ein, die engen sozialen und ökonomischen Grenzen konservativer Diversität anzuprangern, denn so plural die Johnson-Regierung in Bezug auf «ethnische» Minderheiten tatsächlich ist, so sehr verkörpert sie auch den sehr traditionellen Bildungselitismus der teuren Privatschulen (Rishi Sunak etwa war in Winchester) und der Colleges in Oxford und Cambridge. Viele Minister:innen haben zuvor für Hedgefonds, Investmentbanken oder wirtschaftsliberale Think Tanks gearbeitet und verfügen über größere Vermögen. Aller «levelling up»-Rhetorik zum Trotz verfolgen sie daher eine an ihren eigenen ökonomischen Interessen ausgerichtete Politik.

Der innerparteiliche Wahlkampf der nächsten Woche wird zunächst eher eine Verhärtung von Positionen im Sinne von Steuersenkungen, Zurückdrängung von Staatsaufgaben und anti-«woken» Kulturkampfparolen hervorbringen. Möglicherweise überschätzen die Kulturkämpfer:innen jedoch das Potenzial, das eine anti-ökologische und anti-«woke» Mobilisierung selbst unter konservativen Mitgliedern, von Wechselwähler:innen ganz zu schweigen, besitzt. Die großen Fragen für die Mehrheit der Brit:innen sind derzeit Preissteigerungen, die Mängel der öffentlichen Dienstleistungen, Reallohnverluste, fortbestehende regionale Disparitäten sowie viele ungelöste Probleme der Brexit-Umsetzung. Es werden absehbar eher solche «bread & butter»-Themen sein, die den nächsten Wahlkampf, der spätestens Ende 2024 erfolgen muss, bestimmen werden, ergänzt um die Frage, ob es Sunak oder Truss gelingen kann, die Öffentlichkeit davon abzulenken, dass sie mitverantwortlich für die verheerenden Folgen konservativer Regierungspolitik sind.

Für die Labour Party ist der Abgang von Boris Johnson ein Geschenk, aber auch eine Gefahr, gerade wenn der smarte Rishi Sunak Premierminister werden sollte. Regierungsparteien verlieren öfter Wahlen durch Verschleiß und Fehler als das Oppositionsparteien sie durch Brillanz gewinnen. Sunak oder Truss werden Labour zwingen, eigene Politikentwürfe mutiger und klarer zu präsentieren als dies bislang der Fall ist. Zudem haben Wechsel im Amt des Premierministers in der Vergangenheit zuweilen zu einer Regeneration der in Umfragen zurückliegenden Konservativen geführt, wie John Major bei den Wahlen im April 1992 und Boris Johnson im Dezember 2019 demonstrieren konnten. So verheerend das Erbe von Boris Johnson auch ist, eine Gewissheit für einen Machtverlust der Konservativen leitet sich daraus nicht ab.


2 Zoe Williams beschreibt dies anschaulich so: «>Elite< (…) now (…) means academic or expert, latte-drinker or snowflake. It is a confected category without roots oder coherence.» ( https://www.theguardian.com/politics/2022/jul/21/vote-me-get-thatcher-why-the-tories-are-still-obsessed-with-the-iron-lady)