Nachricht | Geschichte Von Rucksäcken und «Gretchenfragen»

Konferenzbericht zur Gegenkultur der langen 1970er Jahre

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Markus Mohr,

Cover einer Ausgabe des Pflasterstrand, Ende der 1970er ein wichtiges Medium der (westdeutschen) «Alternativbewegung»

Unter der Leitung von Detlef Siegfried (Kopenhagen) fand am Historischen Kollegin München Ende Juni/Anfang Juli 2022 ein Kolloquium unter dem Titel «Global Europe Underground. Transnational Networks and Global Perspectives of European Alternative Milieus ca. 1965–1985” statt.

Dreizehn Wissenschaftlerinnen verhandelten die durch die Themenstellung eröffnete, weit gespannte Thematik in vier Panels. Wie sah die Politik und Praxis von Gruppen der radikalen Linken im Alternativmilieu aus? Hier wurde der Bogen von der seit Ende der 1960er Jahre sich entfaltenden linksradikalen Underground-Kultur bis hin zu der der Autonomen der 1980er Jahre gespannt. Das zweite Panel zu Tourismus und den daraus entstehenden Netzwerken nahm die Spannung zwischen nationaler Herkunft und internationalistischem Selbstverständnis im «Drifter»-Tourismus innerhalb Europas in den Blick. Mit «Drifter» als Begriff werden die im Verlaufe der späten 1960er Jahre in Westeuropa auftauchenden RucksacktouristInnen beschrieben. Ohne präzise Vorstellungen ihrer Unterkunftsmöglichkeiten nutzten diese ihre Reise, sich quasi «treiben» zu lassen. «´Dritte-Welt‘-Projektionen und -Praktiken» war ein weiteres Panel überschrieben und das letzte widmete sich den «Transnationalen Körper- und Emotionspolitiken». Dort wurde die in den alternativen Milieus in den 1970er Jahren profilierte Sensibilität für körperliche Praktiken, darunter Drogenkonsum, Ernährung und Yoga, und ihre oftmals außereuropäischen Inspirationsquellen adressiert.

Zu Beginn der Tagung hob Detlef Siegfried hervor, dass es mit dem Kolloquium darum gehen solle, transnationale und globale Verknüpfungen europäischer Alternativmilieus sowie ihre gegenseitigen Wahrnehmungen, Transfers und Netzwerke zu untersuchen. Trugen transnationale Praktiken zur Konstruktion einer linksalternativen Subjektivität bei? Und wie ließen sich hier nationale Identität und post-nationales Selbstverständnis miteinander arrangieren?

Aus seiner Sicht konfrontierten die sich ab Mitte der 1960er Jahre in West-Europa herausbildenden alternativen Milieus gewissermaßen die in die Fortentwicklung der Europäischen Union eingebettete Entwicklung der jeweiligen Nationalstaaten. Hier wurden teilweise linksradikale Konzepte der Identifikation und Solidarität mit Ideen und revolutionären Bewegungen aus dem Trikont, oder wie man heute sagen würde: globalen Süden entwickelt. In der Gegenbewegung gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung, den bürgerlichen Staat und die «technokratisch» organisierte Gesellschaft assoziierten sich nach Siegfried die unterschiedlichsten Strömungen. Sie reichten von der radikalen Linken bis hin zu Drogen- und Selbstverwirklichungs-Subkulturen. Eben das brachte ein breites Spektrum an politischen Orientierungen und soziokulturellen Praktiken hervor, die die Systemgrenze des Kalten Krieges transzendierten. Neben der sozial- und politikgeschichtlichen Rekonstruktion transnationaler Kontakte und Netzwerke gehe es nun auch darum, die Deutungsmuster herauszuarbeiten, mit denen sie von den AkteurInnen versehen waren.

Anschließend an Siegfried skizzierte Gerd-Rainer Horn (Paris) die Entwicklung der radikalen Linken «in den langen sechziger Jahren». Und zwar besonders dort, wo sie um einiges stärker und einflussreicher agieren konnte als in Westdeutschland: in Portugal, Spanien und Italien. Hier spielte nach Horn die Formierung einer gesellschaftskritischen Subkultur mit ihren diversen Publikationen eine bedeutende Rolle. Er illustrierte dies durch die Beschreibung einer Reihe von aufstrebenden linken Verlagen, wobei er auf Feltrinelli(Mailand), Maspero (Paris), Wagenbach(West-Berlin) und die New Left Books (London) verwies. In ihrem Programm zeitigten sie einen hohen Grad an Pluralität und waren allesamt eng mit den diversen Strömungen der damaligen radikalen Linken verknüpft. Am Beispiel der ab 1970 in Mailand erscheinenden Zeitschrift Re Nudo – eine Beilage zur Zeitung der stärksten linksradikalen Kraft Italiens Lotta Continua– zeigte Horn, wie sich darin Themen wie zum Beispiel der Gebrauch von psychedelischen Drogen und Artikel zu Timothy Learyoder Angela Davis mit dem Abdruck der ersten Presseerklärungen der Stadtguerillagruppe Brigate Rosseabwechselten.

Von den Entwicklungen der radikalen Linken in Südeuropa wechselte der Blick dann zur autonomen Hausbesetzerszene in Nordwesteuropa. Bart van der Steen (Leiden) beschrieb, wie zu Beginn der 1980er Jahre die bei Hausbesetzungen in Amsterdam und Nijmegen gegen anstehende Häuserräumungen errichteten umfangreichen Barrikaden in der Folge nach Kopenhagen und in die Hamburger Hafenstrasse – wie er formulierte - «wanderten». Für die HausbesetzerInnen dienten sie gewissermaßen als Faustpfand dafür, den politischen Preis einer Häuserräumung für die lokalen Behörden in die Höhe zu treiben.

Luca Provenzano (Paris) führte in seinen Vortrag in die Entwicklung der nach dem Pariser Mai 1968 entstandenen militanten linksradikalen Protestkulturen in Italien, Frankreich und Westdeutschland ein. Unter der dem Rolling Stones Song entlehnten Parole «Street Fighting Men» veranschaulichte er dies anhand der politischen Gruppen Gauche Prolétarienneund Ligue Communiste in Frankreich; Potere Operaiound Lotta Continua in Italien; sowie der militant agierenden Gruppe Revolutionärer Kampfin Frankfurt am Main. In diesen politischen Gruppen schienen die Kontinuitäten zwischen den Studentenbewegungen von 1968 und den radikalen autonomistischen Strömungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre auf. Militante Selbstverteidigung, Gegengewalt, Anstiftung zum Massenaufstand oder die Revolution des Selbst waren hier die Stichworte der von diesen linksradikalen Gruppen voran getriebenen Diskurse. Von Provenzano wurde das in Abgrenzung zu den Traditionen des klandestinen bewaffneten Kampfes der revolutionären Linken in Gestalt der RAF oder der Roten Brigaden profiliert.

Das Panel «Tourismus und Netzwerke» wurde von Richard Ivan Jobs (Portland) mit einem Vortrag zum Themenfeld «Rucksacktourismus und Gegenkultur» eröffnet. Einige, die als «Hippie-Drifters» begannen, ließen sich in transnationalen Hippie-Gemeinschaften nieder. Dabei seien die Merkmale der Gegenkultur in Stil, Auftreten und Verhalten, wenn auch nicht immer die Ideologie, von der größeren Jugendkultur des Reisens übernommen worden. Dazu gehörten nach Jobs lange Haare, Bärte, Jeans, allgemeine Ungepflegtheit, ein Leben auf Sparflamme, der gelegentliche Konsum von Marihuana, die Missachtung der Autorität Erwachsener, neue sexuelle Sitten. All dies sei allgegenwärtig, wenn nicht gar zum Standard einer Kultur der «Hippie-Drifters» geworden. Jobs sah die Bedeutung dieses transnationalen Netzwerkes informeller Kollektivität und die Praxis des unabhängigen Jugendreisens darin, so etwas wie ein «Europa von unten» etabliert zu haben.

Von Westeuropa richtete sich dann der Blick der Tagung durch Knud Andresen(Hamburg) auf die geduldige Netzwerkarbeit in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, die das Engagement von maoistischen wie sozialistischen Intellektuellen für dissidentische Gruppen und Bewegungen in Osteuropa beschrieb. Hier sei es in der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Ländern in Osteuropa für die Neue Linke um eine «Gretchenfrage» gegangen: Wie hältst du es mit der Oktoberrevolution? Auch mit Blick darauf, sich vom landläufigen Antikommunismus abzusetzen, habe hier Rudi Dutschke noch in den frühen 1970er Jahren das Bild von radikalen Revolutionären im Westen und den geduldigen Reformern im Osten entworfen. Auch das sei kein leichtes Unterfangen gewesen, und so sei die sozialistische Osteuropaarbeit der bundesrepublikanischen Neuen Linken marginal geblieben.

Caroline Moine (Paris/Berlin) konzentrierte sich in ihrem Vortrag «Dritte Welt-Bewegung und ökumenisches Engagement vor der Herausforderung der Chile-Solidarität» auf die Darstellung der politischen Vita des Pfarrers Helmut Frenz. Bis zu seiner Ausweisung aus Chile im Jahre 1975 trat er als eine bedeutende Stimme gegen die Militärdiktatur auf, und setzte sein menschenrechtlich motiviertes Engagement auch in der Folge als Generalsekretär der Sektion der Bundesrepublik Deutschland von Amnesty International fort. Daran knüpfte auch der Vortrag von Sebastian Justke (Hamburg) über das Selbstverständnis der westeuropäischen ChristInnen in ihrer Suche nach einer anderen Weltgemeinschaft in den 1960er bis 1990er Jahren an. Wie verstanden sie sich: Ökumenisch, alternativ oder links? Justke wusste hier auch aus seinem eigenen Erfahrungsfundus von einem spannungsreichen Verhältnis zu berichten, in dem der von ihm einmal auf einer Tagung der Evangelischen Kirche verwendete Begriff eines «Linksprotestantismus» alles andere als auf ungeteilte Zustimmung stieß.

In seinem Beitrag «Arbeitssklaven, Gastwirte, Revolutionäre?» ging David Templin (Osnabrück) den Wahrnehmungen von MigrantInnen im, wie er formulierte, «linksalternativen Milieu westdeutscher Großstädte» in den Dekaden der Jahre 1970-1990 nach. Nachdem in frühen 1970er Jahren in die Rolle der Gastarbeiter durch revolutionäre Gruppen der radikalen Linken einige Hoffnungen gesetzt worden seien, kam es im Verlaufe der 1980er Jahre zu einer Ernüchterung. Auch wenn es in diesem Jahrzehnt zu einer politisch breit getragenen pro-migrantischen Protestbewegung kam, die sich gegen die Verschärfung der Ausländerpolitik, gegen Abschiebungen und Ausweisungen richtete, entfaltete sich nach Templin ein starkes «Fremdeln» vieler Linker gegenüber dem Gros der Migrant*innen. Sieht man einmal von der Szene linker türkischer und kurdischer Exilant*innen und der mit ihnen verbundenen «Türkei»- und «Kurdistan-Solidarität» der 1980er Jahre ab, so irritierten der an Einfluss gewinnende Islam, konservative Gesellschaftsbilder und als reaktionär erachtete Geschlechtervorstellungen nicht wenige Linke: Sie (gemeint sind die MigrantInnen) entzogen sich einer Einordnung in die stereotypen Bilder und Rollen von revolutionärem Vorbild, Opfern kapitalistischer Ausbeutung und Träger*innen kultureller Bereicherung. Dabei erfüllten diese Zuschreibungen an die «Anderen» jeweils eine Funktion für das eigene linksalternative Selbstbild und Selbstverständnis und dienten als Ressource kultureller Distinktion und Dissidenz.

Dass sich nicht alle auf der Tagung verhandelten Themenstellungen umstandslos einem «Global Europe Underground» zurechnen lassen, machte der Beitrag von Eva Locher(Fribourg/CH) zu dem «transnationalen ernährungsreformerischen Wissen im Schweizer Alternativmilieu» deutlich. Die durch das alternative Milieu in diesem Land aggregierten Wissensstände bezogen sich gerade nicht auf irgendeine Form von «Underground», sondern auf die Praktiken der der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz weitgehend respektierten Lebensreformbewegung. Überhaupt lassen sich unter dem schillernden Begriff des «Underground» sowohl pop-kulturell konfigurierte Freiräume jugendlicher Szenerien als auch schlicht der unter kriminalpolizeilicher Bewirtschaftung stehende Untergrund verstehen, in dem sich politische Gruppen überlegen, wie sie die Regierung stürzen können. Eine oberflächlich gemeinsame Klammer zwischen «Underground» und «Untergrund» besteht wohl darin, mit den gerade herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden zu sein und sich auf die kollektive Suche nach einem besseren Leben zu machen. Die Beiträge auf dieser Tagung boten für die eine oder andere Tendenz einiges an Anschauungsmaterial.

Am Ende der Tagung verwies Detlef Siegfried auf die Texte des viel gelesenen Soziologen Andreas Reckwitz. In einigen seiner Schriften habe dieser ausgeführt, dass die heute im Westen tragenden politisch-kulturellen Funktionseliten wesentlich durch die seit dem Ende der 1960er Jahre eintretende Gegen- und Alternativkultur geprägt worden seien und sich dadurch kosmopolitisch orientiert hätten. Insofern war die Problemstellung dieses von der Fritz Thyssen Stiftung alimentierten Kolloquiums gut legitimiert. Eine Reihe der Beiträge konnten gewissermaßen als historische Tiefenbohrungen zur Frage gelesen werden, ob die von Reckwitz für die aktuelle Gegenwart entfaltete Hypothese begründet ist.

Für 2023 ist vom Tagungsleiter Siegfried mit Unterstützung des Historischen Kollegs München die Herausgabe eines Bandes mit den Beiträgen der Tagung geplant.