In der IG Metall Stuttgart haben Ende der 1970er Jahre von 95.000 Mitgliedern 37.000 keinen deutschen Pass. Nach Angaben des DGB sind ein Viertel aller sog. «GastarbeiterInnen» Mitglied in einer DGB-Gewerkschaft (S. 10). Gewerkschaften sind also wichtige Massenorganisationen für erwerbstätige MigrantInnen und Erfahrungs- und Organisationsräume für verschiedene Generationen. Wie die Gewerkschaftszentralen diese Tatsachen damals sahen, und wie migrantische Kämpfe in der Geschichtsschreibung zu den Gewerkschaften vorkommen, untersucht jetzt ein neues Buch anhand von sechs Fallstudien aus zwei Städten: Stuttgart und Hamburg1. Entstanden ist es aus den Ergebnissen eines von der Hans-Böckler-Stiftung 2017-2020 finanzierten Forschungsprojektes. Dieses betrieb Literatur- und Quellenrecherchen, organisierte aber auch Interviews und Workshops mit ZeitzeugInnen.
In der Einleitung wird auch über Begriffe reflektiert: Was bedeutet «migrantisch», was bedeutet «gewerkschaftlich» in welchem Zusammenhang? Sind nicht in Deutschland geborene Gewerkschaftsmitglieder in erster Linie «AusländerInnen» oder ArbeiterInnen, und für wen? Wie sehen migrantische ArbeiterInnen sich selbst? Und sprechen Gewerkschaften MigrantInnen als MigrantInnen oder als ArbeiterInnen an?
Ziel der Untersuchung sei es, «nach dem Verhältnis zwischen organisierten migrantischen Positionen und den Gewerkschaften in den 1970er und 1980er Jahren» zu fragen (S. 12). Besonders die lokale Ebene sei dafür geeignet. Untersuchungszeitraum sind die endenden 1960er Jahre bis 1990: Ab 1972 dürfen durch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes auch nichtdeutsche ArbeiterInnen im Betrieb wählen. Die konkreten Fallstudien sind aus Stuttgart die Arbeit der bekannten plakat-Gruppe bei Daimler-Benz, dann die große Kampagne für die 35-Stunden-Woche 1984 und drittens die Kämpfe für das (kommunale) Ausländerwahlrecht. In Hamburg der Kampf gegen die Schließung der HDW-Werft 1983, die breiten Kämpfe gegen Rassismus und drittens diejenigen für interkulturelle Begegnungsstätten in den Stadtteilen2. Im Fokus stehen also vor allem die IG Metall und der DGB, andere Einzelgewerkschaften kommen kaum vor. Thematisch geht es um Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverkürzung, Betriebsschließungen und um die Existenz und Repräsentation migrantisch geprägter AkteurInnen im Stadtteil (Wahlrecht, antirassistischer Protest und die Institutionalisierung von Begegnungsstätten).
Spannend, neu und innovativ ist der im Buch verfolgte Ansatz, diese Geschichte(n) als eine umkämpfte und umstrittene Beziehungsgeschichte zu denken (S. 19) und zu schreiben. Begrüßenswert ist es auch, dass die untersuchten Bewegungen und Kämpfe nun dem Vergessen entrissen und neu dokumentiert, und damit diskutierbar (gemacht) werden. Dabei hilft es ungemein, dass MigrantInnen nicht als passive Objekte staatlicher und auch gewerkschaftlicher Hilfsangebote und anderer Politiken gedacht werden, sondern als handlungsfähige Subjekte.
Die vier Autorinnen haben ein wichtiges Buch zur Migrations- und Gewerkschaftsgeschichte vorgelegt, dem weite Verbreitung zu wünschen ist.
Anne Lisa Carstensen / Sabine Hess / Lisa Riedner / Helen Schwenken: Solidarität – Kooperation – Konflikt. Migrantische Organisierungen und Gewerkschaften in den 1970/80er Jahren; VSA-Verlag, Hamburg 2022, 320 Seiten, 24,80 EUR
1 Die dritte, Frankfurt/Main, wurde «aus Ressourcengründen» (S. 13) aber nicht so ausführlich bearbeitet und (deswegen?) nicht ins Buch aufgenommen. Einige Ergebnisse sind in Clemens Reichhold: Migrantische Organisationen und Gewerkschaften in den 70er und 80er Jahren. Das Beispiel Frankfurt/Main (Hans Böckler Stiftung, Forschungsförderung Working Paper, Nummer 208, März 2021, Zugriff 19.9.2022) publiziert.
2 Die Texte zu den Beispielen aus Hamburg stammen von Lisa Carstensen, diejenigen zu Stuttgart von Lisa Riedner.