Frauen sind in der Rezeption der Bohème und der Avantgarden immer noch abwesend. Diesen kritikwürdigen Umstand zumindest etwas zu ändern, ist das Ziel eines größeren, auf insgesamt fünf Jahre angelegten Projektesin München. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstehen aufgrund der immensen gesellschaftlichen Umbrüche neue Lebensentwürfe in vielfältigen Formen. Die Jugendbewegung ist nur eine davon, die neuen Kunstformen, vom Expressionismus bis zum Konstruktivismus, sind die bis heute bekanntesten. Es gibt Künstlerkolonien, und in vielen Großstädten, von Müchen über Berlin und Paris bis Wien, progressive literarische Zirkel. In all diesen Avantgarde- und Boheme-Bewegungen betonen viele die Rolle und Bedeutung von Emotionen, von Lust und Subjektivität; politisch sehen sich viele jenseits von Kommunismus und Kapitalismus, nicht wenige aber sind eindeutig links einzuordnen. Frauen sind Bestandteil all dieser Avantgarde- und Bohème-Bewegungen, werden aber in der Geschichtsschreibung später nicht angemessen genannt.
In der Monacensia, einer Einrichtung der Stadtbibliothek München, die das literarische Gedächtnis der Stadt ist, finden rund um dieses Thema vielfältige Aktivitäten statt: Die Ausstellung «Frauen der Boheme» läuft schon länger und ist noch bis 31. Juli 2023 in München zu sehen. In einem Online-Magazinwird die Ausstellung – Protagonist*innen, Themen, Design usw. – vorgestellt und mit zusätzlichen Beiträgen immer weiter ergänzt.
Der Wunsch nach einem selbstbestimmten und freien Leben ist für die Frauen der Bohème zentral. Seine Verwirklichung stellt Regeln in Frage, provoziert und stößt auf viele Widerstände. Ökonomische und andere Zwänge sind zu überwinden, um unabhängig von der Herkunftsfamilie oder einem Ehemann zu sein. Viele leben (deshalb) sehr prekär, sind aufgrund ihrer Lebensumstände öfter krank. Aus diesen Problemkreisen und der kulturellen, künstlerischen und vor allem literarischen Produktion der Frauen ergeben sich die miteinander verbundenen Themen der damaligen Debatten. Diese werden in Briefen und oftmals in verklausuliert autobiographischen Texten in Form von Gedichten, Essays und Erzählungen überliefert: Ehe, Unabhängigkeit, Verhütung, Mutterschaft, Frauengesundheit, Kunst und Literatur und die Bedingungen ihrer Produktion, Pädagogik. Dass im Leben dieser Frauen oftmals blanke Not herrscht, belegen die Dokumente, in denen es zum Beispiel auch um die eigene Prostitution geht.
In bisher zwei Buchpublikationen wird das Themenfeld verhandelt: Der Band Frauen der Bohemeumfasst eine Auswahl von insgesamt neun passenden Texten, die in den letzten Jahren bereits im Jahrbuch der Freunde der Monacensia erschienen sind. Sie stellen einzelne Personen und deren Biographien oder auch Briefwechsel vor. Sie werden gerahmt von vier neuen Texten, unter anderem einem längeren von Laura Mokrohs, die als Kuratorin der Ausstellung ebendiese ausführlich und bebildert vorstellt.
Frei lebenwiederum vertieft die Thematik am Beispiel von drei Frauen: Margarete Beutler (1876-1949), Franziska zu Reventlow (1879-1918) und Emmy Hennings (1885-1948). Die drei sind Schriftstellerinnen, in ihrer Zeit bekannt und geschätzt, und in vielfältige lokale und überregionale intellektuelle Netzwerke eingebunden. In diesem Band finden sich vor allem Originaltexte und Briefdokumente der drei genannten (bzw. Ausschnitte daraus). Die drei Herausgeberinnen führen mit ihren Beiträgen kurz in die fünf Kapitel ein.
Mit den Büchern werden die Frauen der Bohème etwas mehr Teil der progressiven literarischen Tradition, diese «Leerstelle» wird etwas gefüllt. Viele der Themen sind auch 100 Jahre später - leider - noch aktuell, die in «Frei leben» publizierten Texte, die eine Aktualisierung versuchen, überzeugen aber nicht wirklich.
Websiteder Ausstellung - Online-Magazinder Ausstellung
Hintergrund: Waldemar Fromm: Schwabinger Boheme, publiziert am 23.12.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns; Zugriff 6.2.2023.
Gabriele von Bassermann-Jordan, Waldemar Fromm, Wolfram Göbel, Kristina Kargl (Hrsg.): Frauen der Boheme 1890–1920. Ausgewählte Beiträge zur Ausstellung «Frei leben!»; Allitera Verlag, München 2022, 284 Seiten, 24,80 Euro
Anke Buettner, Laura Mokrohs, Sylvia Schütz (Hrsg.): Frei leben! Frauen der Boheme 1890 – 1920; Verbrecher Verlag, Berlin 2022, 208 Seiten, 20 Euro