Kommentar | Parteien / Wahlanalysen - Südosteuropa - Griechenland Über den Schatten

Griechenland vor der Wahl: Ein Blick von der Seitenlinie

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Wahlkampfauftritt von Alexis Tsipras (Syriza) im Freizeitpark Lipasmata Drapetsona, einem ehemaligen Fabrikgelände im Athener Hafengebiet. Foto: Friedrich Burschel

Schicksalswahlen in der Türkei und in Griechenland: in beiden benachbarten Ländern geht es um viel. Es geht um nicht weniger als einen bedeutenden Kurswechsel für den Fall, dass sich die Herausforderer der regierenden rechts-nationalistischen Amtsinhaber, Erdoğan und Mitsotakis, durchsetzen. Ein Wahlsieg von Syriza oder einer von Syriza geführten Koalition hätte für eine europäische Linke eine enorme Signalwirkung und würde den kontinuierlichen Rechtstrend in der EU und an ihren Rändern beenden oder zumindest dämpfen. Aber es ist kompliziert.

Friedrich Burschel ist Leiter des Auslandsbüros Athen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In der deutschen Linken wird mit Blick auf Griechenland und die Mitsotakis-Regierung von einer «Orbanisierung» des Landes gesprochen. Geprägt hat den Begriff der Staatstheorie-Professor Dimitris Christopoulos von der Panthion-Universität in Athen. Aber ganz unumstritten ist das Label für Griechenland nicht: Als neulich eine Delegation aller Fraktionsvorsitzenden der Partei DIE LINKE Griechenland besuchte, sorgte der Begriff der «Orbanisierung» für Diskussionen. Das sei übertrieben, meinten Gesprächspartner der Delegation, und derartiges könne von der Regierung Kyriakos Mitsotakis‘ wahrhaftig nicht behauptet werden.

Autoritäre Ordnungsvorstellungen, massive Aufrüstung und martialische Dauerpräsenz der Polizei in den Straßen, Militarisierung des Grenzschutzes, zum Teil schrilles Säbelgerassel gegenüber dem noch schrilleren Erdoğan auf der anderen Seite der Ägäis, drastische Sparmaßnahmen – gerade während der Corona-Pandemie – im Gesundheitswesen und beim Entkernen des Krankenhauswesens, unverantwortliche Vernachlässigung der Brandbekämpfung und Feuerwehren angesichts klimawandelbedingt zunehmend verheerender Waldbrände im ganzen Land, ein veritabler Skandal wegen des geheimdienstlichen Abhörens von Oppositionspolitiker*innen (insbesondere von Nikos Androulakis, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PASOK-KINAL), von investigativen Journalist*innen und sogar eigener Minister und Förderer, und oben drauf – erst vor wenigen Wochen – ein grauenvolles Zugunglück auf der bedeutendsten Zugstrecke Griechenlands zwischen Athen und Thessaloniki, das auf unverantwortliche Schlampereien und technische Mängel unter Privatisierungsdruck und Modernisierungsstau zurückzuführen war und dem 57 Menschen, überwiegend Studierende auf dem Weg in die Vorlesungswoche, zum Opfer fielen: Was muss man noch aufzählen, um von einer Orbanisierung sprechen zu dürfen, wenn man noch gar nicht angefangen hat, von Oligarchen- und Vetternwirtschaft, drastischen Rechtsbrüchen und Pushbacks entlang der griechischen EU-Außengrenzen, Rassismus in der Polizei und Korruption im Allgemeinen zu sprechen?

Natürlich würde ein Vergleich mit dem nationalistischen Autokraten in Ankara hinken, aber der ungarische Ministerpräsident sollte allemal dafür herhalten können.

Wer fordert Mitsotakis heraus? Da ist zunächst in der Poleposition der Oppositionsführer Alexis Tsipras mit Syriza, der Schwesterpartei der Partei DIE LINKE in Griechenland. In Umfragen befindet sie sich knapp hinter der Regierungspartei Nea Dimokratia, aber da – so sagt man – die Medien in der Hand der Rechten seien, müssten die Prognosen eigentlich noch besser sein für Syriza, für die bis zu 30 Prozent der Wähler*innenstimmen prognostiziert werden. In der griechischen Linken insgesamt hat Syriza einen schweren Stand, wird die Partei doch für einen unverzeihlichen Verrat und die darauf folgende Zersplitterung der Linken verantwortlich gemacht. Trotz anderslautender Absichtserklärungen knickte Syriza-Chef und Ministerpräsident Tsipras ab 2015 gegenüber dem immensen Austeritätsdruck der Troika ein. Die Aufbruchsstimmung mit der neuen sozialistischen Sammlungspartei wich einer geradezu traumatischen Frustration in weiten Teilen der Linken, die bis heute nicht verflogen ist.

Trotzdem scheinen viele Linke vor allem im Hauptstadt- oder Großstadt-Kontext, die Syriza seither kritisch gegenüberstehen, sich zu überlegen, ob sie nicht dieses Mal doch zur Wahl gehen und ihr Kreuzchen bei Syriza machen wollen: um einer Abwahl Mitsotakis‘ Willen. Viele kritisieren Syriza jedoch nicht nur wegen des Sündenfalls Mitte der 2010er Jahre, sondern auch, weil mit dem Streben nach der Macht im Staate einmal mehr oder sowieso eine Sozialdemokratisierung der Partei vor sich gehe. Der Besuch einer aufwändig inszenierten Wahlkampfveranstaltung im großen (zu Syriza-Zeiten erbauten) Freizeitpark Lipasmata Drapetsona auf einer gigantischen Industriebrache im hafennahen Keratsini offenbart denn auch ein eher mittelständisches Publikum, das sich begeistert vom charismatischen Tsipras vor imposanter Silo-Ruine forttragen lässt. Und es waren einige Tausend.

Es ist natürlich auch wahrgenommen worden, dass bei einem Deutschlandbesuch des Kandidaten nicht nur die Schwesterpartei auf der Agenda stand, sondern vor allem auch wunschgemäß der sozialdemokratische Bundeskanzler. Die SPD-Schwesterpartei in Griechenland ist aber eindeutig die traditionsreiche PASOK-KINAL, die sich nach dem Sturz ins Nichts Ende der Nuller und Anfang der Zehner Jahre langsam wieder Richtung zehn Prozent darappelt. Dort war man not amused über Tsipras Zusammentreffen mit dem Kanzler, wie man hört.

Und dann ist da noch Yanis Varoufakis, einstiger Short-term-Syriza-Finanzminister, der einem Spaltprodukt des Bruches mit Syriza 2015, nämlich der Partei MeRa25 (= Diem25) vorsteht. Die kleine Partei ist dank der 3-Prozent-Hürde bereits im Parlament vertreten und scheint etwas in der Wählergunst zu gewinnen. Zwei Wochen vor der Wahl lag sie laut einer «Pulse»-Umfrage immerhin bei 5 Prozent.

Viele radikalere Linke fühlen sich intuitiv bei MeRa wohler, die Partei scheint authentischer, jünger und auch – angesichts der enormen Probleme, die Griechenland zu schultern hat und die auch globale Herausforderungen sind (wie der Klimawandel) – radikaler, klarer, frischer als ihre Mitbewerber. Beim Wahlkampfauftakt im überfüllten Gloria Theater nahe der Universität im Zentrum bestimmten denn auch junge Leute das Bild. Ob das am guten Wahlprogramm liegt oder an Varoufakis‘ unbestrittenem Charisma ist schwer zu sagen. Als er neulich mitten im Szeneviertel Exarchia von einer großen Gruppe wohl anarchistischer Schläger*innen in einem Lokal beim Essen angegriffen, mit einem Schlagring niedergeschlagen und mit Fußtritten gegen den Kopf traktiert wurde, soll er den Gewalttäter*innen mit gebrochener Nase hinterher gelaufen sein und ein Gespräch angeboten haben: das ist natürlich Stoff für Legenden. Anders als sein hinkender Nazivergleich, den er dem Vorfall hinterherschob: das seien Schläger im Auftrag des Staates gewesen, die – in Goebbels-Manier – versuchen würden, einen Keil in die Linke zu treiben. Nun ja.

Wenn man nun großzügig PASOK-KINAL noch zur gesellschaftlichen Linken zählen will, wären die genannten Parteien (auch ohne die in autistischem Autoritarismus bei traditionell rund 5 Prozent erstarrte kommunistische Partei KKE) in der Lage, als Koalition mit ca. 40 Prozent die Regierung Mitsotakis abzulösen, zumal im ersten Wahlgang, der nach einer noch zu Syriza-Zeiten beschlossenen Wahlrechtsänderung abgehalten wird. Erstmals gibt es nicht automatisch für die stärkste Partei 50 Extrasitze dazu und damit eine meist bequeme Mehrheit, sondern die Parlamentssitze werden nach dem Verhältnis der Wähler*innenstimmen verteilt. Sollte es allerdings, weil keine der stärksten Parteien eine Regierung bilden kann, zu einem zweiten Wahlgang kommen, gilt wieder das alte Prämiensitze-Gesetz, das eindeutig die immer noch führende griechische Partei Nea Dimokratia des regierenden Ministerpräsidenten (Lt. Pulse am 10.5.: 32,5 %) begünstigen würde.

Da es in Griechenland und auch an den heiß diskutierenden Stammtischen kein Denken in möglichen Koalitionen gibt, wie es in deutschen Vorwahldiskussionen mit «Kenia»-, «Jamaika»- und «Ampel»-Varianten selbstverständlich ist, muss sich also eine Partei gegen die Konservativen durchsetzen. Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Ob es den antretenden Parteien in und links der Mitte vielleicht bei dieser wichtigen Wahl doch gelingen könnte, bei der Suche nach Mehrheiten über diesen Schatten zu springen, hängt ebenfalls traditionsgemäß von den Parteiführern – nicht zufällig alles Männer, auch das Tradition – ab, ob sie sich zu einer Koalition verständigen können. Der Druck und die Chancen eines solchen Traditionsbruchs wären beachtlich: man könnte den Griechen-Orban zum Teufel schicken. Und wenn dann auch noch Kılıçdaroğlu in der Türkei obsiegen würde: nicht auszudenken!