Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Shoah und linkes Selbstverständnis Frankfurter: Ich tötete einen Nazi; Wiesbaden 2023

Biographie, Krimi und zeitgeschichtliches Dokument zugleich

Information

Am 4. Februar 1936 betritt in Davos in der Schweiz David Frankfurterdas Haus von Wilhelm Gustloff - und erschießt ihn. Gustloff, dessen Name in Deutschland vor allem im Zusammenhang mit dem Untergang des von den Nazis nach ihm benannten Passagierschiffes voller ostpreußischer Flüchtlinge am 30. Januar 1945 bekannt ist, ist der Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz. Mit dieser Tat ist Frankfurter einer der ersten Juden, die sich dem nationalsozialistischen Regime mit der Waffe entgegenstellen. Er richtet die Waffe sogar zu einem Zeitpunkt gegen den Nationalsozialismus, als dieser von den Regierungen vieler Länder noch nicht als besonders gefährlich angesehen wird.

Frankfurter wird 1909 im heutigen Kroatien als Sohn eines Rabbiners geboren und ist kein deutscher Staatsbürger. Er wird deswegen nicht ausgeliefert - und für die Tat in einem Aufsehen erregenden Prozess im Dezember 1936 zu achtzehn Jahren Haft (und anschließender lebenslanger Landesverweisung) verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft 1945 wandert er nach Israel aus, und hält 1946 mit Hilfe des bereits 1935 emigrierten deutsch-jüdischen Dichters, Journalisten und Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin(1913-1999) seine Lebensgeschichte fest. Im Februar 1948 erscheint diese dann erstmals, in hebräischer Sprache unter dem Titel «Nakam», dem biblischen Wort für «Rache». Mit dem nun vorliegenden Buch wird sein Selbstzeugnis erstmals ungekürzt in deutscher Sprache veröffentlicht, mit drei weiteren Textbeiträgen gerahmt und mit über 200 Anmerkungen kommentiert. Hier liegt ein subjektiver Text vor, der rückblickend, mit dem Wissen um die Geschehnisse vor 1946, verfasst wurde. Frankfurter erzählt von seiner Kindheit, seinem Studium der Medizin, seinen Erlebnissen mit Antisemitismus, den Überlegungen, die ihn zu seiner Tat bringen, und seiner neunjährigen Haft.

Sein Text liest sich spannend, wie eine Biographie, ein Krimi und ein zeitgeschichtliches Dokument zugleich. Vor allem zeigt er, wie sich Frankfurter aus seiner Situation heraus zu seinem einsamen Entschluss kommt, und konterkariert damit das gängige erinnerungskulturelle Bild der Juden und Jüdinnen als Opfer, in dem bewaffneter jüdischer Widerstand in beiden deutschen Staaten jahrzehntelang keinen Platz hatte.

Seine zwei Geschwister Ruth und Alfons überleben den Holocaust. Sein von ihm sehr verehrter Vater und auch der Mann und die Kinder seiner Schwester werden ermordet. Frankfurter selbst stirbt 1982 in Tel Aviv.

Das Buch steht im Zusammenhang mit der Ausstellung Rache. Geschichte und Fantasie, die 2022 im Jüdischen Museum in Frankfurt/Main zu sehen war, und zu der auch eine Publikationerschienen ist.

David Frankfurter: Ich tötete einen Nazi (erzählt und bearbeitet von Schalom Ben-Chorin); Marix Verlag, Wiesbaden 2022, 320 Seiten, 22 Euro


Weitere neuere Literatur zum Thema jüdischer Widerstand

Judy Batalion: Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen; München 2021

Sabina Bossert: David Frankfurter (1909-1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters; Göttingen 2019

Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung; Köln 2021

Dina Porat: «Die Rache ist Mein allein». Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam; Paderborn 2021