Interview | Parteien / Wahlanalysen - Südosteuropa «Nicht die Zeit zu trauern, sondern zu kämpfen»

Syriza hat bei den Wahlen im letzten Monat eine schwere Schlappe erlitten, doch die griechischen Linke ist entschlossen, den Kampf fortzusetzen.

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Rede des Präsidenten der SYRIZA - Progressiven Allianz, Alexis Tsipras, im Athener Stadtteil Nikaia am Platz des 17. August, 31.05.2023.

 

  Foto: IMAGO / ANE Edition

Griechenland steht seit Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 im Fokus der Aufmerksamkeit der europäischen Linken. Nach dem ersten Rettungspaket und massiven Haushaltskürzungen 2010 wurde das erste Versuchslabor der europäischen Sparpolitik schnell auch zum ersten Laboratorium europäischen Widerstands: Überall im Land flammten gegen die Austeriätsmaßnahmen breite Proteste auf, die sich bald um Syriza, den von Alexis Tsipras angeführten Zusammenschluss der radikalen Linken, bündelten.

Danai Koltsida ist Mitglied des politischen Sekretariats von Syriza, wo sie für europäische und internationale Angelegenheiten verantwortlich ist, und Direktorin des Nicos Poulantzas Instituts.

Die Partei wurde schnell zum wichtigsten politischen Sprachrohr für die Teile der Bevölkerung, die sich der Sparoffensive der EU entgegenstellten. Höhepunkt der Entwicklung war Tsipras’ Wahl zum Ministerpräsidenten im Januar 2015. Über die nächsten vier Jahre stellte Syriza die Regierung, allerdings unter internen Streitigkeiten und namhaften Austritten am linken Flügel. Seit 2019 wird Griechenland von der konservativen Nea Dimokratia unter Kyriakos Mitsotakis regiert. Während die Syriza-Regierung in dem Versuch, das Schlimmste zu verhindern, mit den europäischen Institutionen zusammenarbeitete, hat die ND sich die arbeiter*innenfeindliche, privatisierungsorientierte Agenda begeistert zu eigen gemacht und weitere schädliche Kürzungen am Sozialstaat vorgenommen.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 21. Mai hatten Tsipras und Syriza versucht, mit ihrer Stammwähler*innenschaft und unter Einbeziehung jener Mitte-Links-Wähler*innen, denen der griechische Rechtsruck seit 2019 Unbehagen bereitet, eine breite Front gegen die Mitsotakis-Regierung aufzubauen. Obwohl sich Syriza laut Umfragen gewisse Chancen zum Sturz der ND ausrechnen konnte, war das Wahlergebnis am Ende eine politische Demütigung für die führende sozialistische Partei Griechenlands: 20,07 Prozent, das schlechteste Ergebnis seit zehn Jahren und weniger als halb so viel wie Mitsotakis. Was ist falsch gelaufen, und kann sich Syriza davon noch einmal erholen? Mit Blick auf den nächsten Wahltermin, die Neuwahl am 25. Juni, hat Friedrich Burschel von der Rosa Luxemburg Stiftung mit Danai Koltsida, der Direktorin des Nicos-Poulantzas-Instituts in Athen, darüber gesprochen, was die Wahlniederlage bedeutet und wie Syriza zurück an die Macht kommen will.

In den Tagen und Wochen vor den Parlamentswahlen am 21. Mai lag Syriza laut Prognosen konstant nur wenige Prozentpunkte hinter der Nea Dimokratia, der Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis, doch im Wahlergebnis stürzte die Partei um über 10 Prozent gegenüber den Umfragen ab. Wie kam es zu dieser überraschenden und erschütternden Niederlage?

Ein solches Ergebnis lässt sich natürlich nicht leicht in wenigen Worten erklären, es kam für alle überraschend, nicht nur für uns bei Syriza, da die Umfragen ein deutlich engeres Rennen zwischen den zwei größten Parteien erwarten ließen. Antworten sollten auf unterschiedlichen Ebenen gesucht werden, ich möchte vor allem auf drei Punkte hinweisen.

Zunächst gibt es die Makroebene: die Folgen der multiplen Krisen – es ist auch von «Polykrise» oder «Permakrise» gesprochen worden – wie der Pandemie, dem Krieg, der Energiekrise, der Klimakrise und Naturkatastrophen, Inflation usw. Die aus diesen Krisen erwachsenden Ängste und Gefühle von Unsicherheit bilden meiner Meinung nach einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung konservativer Ansichten.

Zweitens gibt es eine mittlere Ebene: die der Bewertung und Wahrnehmung einerseits der Regierungsbilanz der ND und andererseits der Leistung von Syriza als wichtigster Oppositionspartei im Parlament und in den sozialen Bewegungen während der Legislaturperiode von 2019 bis 2023, was auch ihr Unvermögen einschließt, sich in jeglicher Hinsicht als wirkliche und glaubhafte Alternative zu einer rechten Regierung zu präsentieren.

Während die zwei genannten Ebenen eine Erklärung dafür liefern können, dass Syriza bereits in den Umfragen hinter der ND lag, bietet die Mikroebene, die taktischen Entscheidungen in den letzten ein oder zwei Monaten des Wahlkampfs, einen Ansatz, das Ausmaß des Wahlsiegs der ND und der Niederlage von Syriza verständlich zu machen.

Wie ist es möglich, dass Umfragen und Prognosen so weit danebenlagen? Was stimmt mit den Instrumenten der Meinungsforschungsinstitute nicht?

Griechenland bildet da keine Ausnahme. Die traditionellen Umfrageinstrumente sind in einer Zeit entstanden, als Wähler*innen eine starke Parteibindung hatten. Heute ist das viel schwächer ausgeprägt, und die politische Partei als gesellschaftliche Institution befindet sich in einer schweren Krise. Als Folge davon erweisen sich diese Instrumente als unzureichend oder in extremen Fällen als gänzlich ungenügend zur Vorhersage von Wahlergebnissen.

Allgemein betrachtet kann es viele Faktoren geben, die dieses Versagen erklären. Manchmal führt die jeweilige Methode, also beispielsweise die Datenerhebung über Haus-, Büro- oder Mobiltelefone oder über das Internet zu Verzerrungen aufgrund der sozialen, altersmäßigen oder politischen Zusammensetzung der befragten Gruppe. Außerdem ist es schwierig, Fälle von erklärter Nicht-Teilnahme auszuwerten und zu interpretieren – wenn die entsprechenden Personen einen spezifischen soziodemografischen oder politischen Hintergrund haben, kann dies auf Misstrauen gegenüber dem politischen System oder antisystemische Einstellungen hindeuten, die das Ergebnis beeinflussen.

Die deplatzierten öffentlichen Statements selbst noch in den letzten Tagen vor der Wahl, die Wankelmütigkeit, der Mangel an Verantwortungsbewusstsein und unser fehlendes Gespür für das Ausmaß an Misstrauen in der Wählerschaft haben uns viele Stimme gekostet.

Im Fall der griechischen Wahlen scheinen zwei Elemente maßgeblich. Zum einen glichen die Meinungsforschungsinstitute ihre Umfrageergebnisse mit den Wahlentscheidungen der Befragten im Jahr 2019 ab, weil sie davon ausgingen, dass Wähler*innen, die vor vier Jahren Syriza ihre Stimme gaben, sich in diesem Jahr ähnlich verhalten würden. Syriza-Wähler*innen waren in den Wahlumfragen der letzten zehn Jahren aus unterschiedlichen Gründen unterrepräsentiert. Das heißt, bis zum vergangenen Mai lagen die Wahlergebnisse von Syriza immer über den Wahlumfragen. Daher nahmen praktisch alle – Akademiker*innen, Meinungsforscher*innen und Politiker*innen – an, dass es sich dieses Mal auch so verhalten würde. Niemand begriff, dass sich die Wählerschaft von Syriza und noch allgemeiner die griechische Gesellschaft bedeutend verändert hatte und nicht davon ausgegangen werden konnte, dass sich alles nach dem bekannten Muster abspielen würde.

Um der Meinungsforschung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und auch nicht zu hart mit uns selbst ins Gericht zu gehen, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass sich laut Wahltagsbefragungen ein Fünftel der Wählerschaft erst am Wahltag entschied und die Hälfte dieser «Last-minute-Wähler*innen» für Nea Dimokratia votierte. Das heißt, dass ND über das Wahlwochenende zehn Prozent dazugewann – niemand hätte das vorher messen können.

Ich schätze, ihr steckt noch im Nachdenken und Analyseprozess und versucht zu verstehen, was schiefgelaufen ist. Trotzdem möchte ich nachfragen: Hast du eine Idee, wieso die Griech*innen sich entschieden haben, Mitsotakis trotz mehrerer Jahre an Kontroversen und Skandalen im Amt zu belassen?

Tatsächlich ist viel Analyse erforderlich. Alles, was ich bieten kann, ist eine erste Reaktion und ein persönlicher Eindruck.

Meiner Meinung nach war die Entscheidung für die Nea Dimokratia kein positives Votum, jedenfalls nicht in Gänze, und sollte nicht so interpretiert werden, dass 40 Prozent der griechischen Gesellschaft die Art von autoritärem Neoliberalismus unterstützen würden, für die die Partei steht. Das können wir auch in den Umfragen erkennen, die nach der Wahl gemacht wurden: Ein großer Teil der Wähler*innenschaft äußert sich mit negativen Empfindungen – Sorge, Kummer, Ärger usw. – über die Wahlergebnisse und ist mit Blick auf die politische Zukunft Griechenlands eher pessimistisch eingestellt.

Ein weiterer Faktor ist zumindest aus meiner Sicht die Auswirkung der multiplen Krisen. Mir scheint, dass viele Bürger*innen für Stabilität und gegen Veränderung optiert haben, obwohl diese Stabilität die Fortsetzung einer in jeder Hinsicht fürchterlichen Regierungspolitik bedeutet. Deutlich verschärft wurde dies durch die Wahldebatten, wie sie von den meisten griechischen Medien durchgeführt wurden: Statt den politischen Parteien Raum zu geben, um ihr Handeln zu erklären und ihr Programm vorzustellen, haben sie die Positionen der Oppositionsparteien verfälscht und die Diskussion von aktuellen Problemen und Herausforderungen auf das Jahr 2015 und die damalige Konfrontation zwischen der Syriza-Regierung und der Troika verschoben. Sie haben bewusst Falschnachrichten verbreitet oder Panik geschürt, um den falschen Eindruck hervorzurufen, dass mit einer neuen Syriza-Regierung ökonomische und gesellschaftliche Turbulenzen zu erwarten seien.

Schließlich sollten wir auch die Rolle des Wahlsystems nicht vergessen. Zum ersten Mal seit 1989 kam in dieser letzten Wahl ein proportionales Wahlsystem zur Anwendung, das zu einem politischen Paradox geführt hat. Einerseits verlautbarte Nea Dimokratia von Beginn des Wahlkampfs an, dass sie keine Koalitionsregierung, sondern eine Stichwahl anstrebe, um eine absolute Mehrheit im Parlament zu gewinnen, da ein solcher Entscheidungswahlgang in einem anderen Modus mit Mehrheitsbonus läuft. Andererseits unterstützte Syriza das proportionale Wahlsystem und erklärte, eine Koalitionsregierung mit anderen progressiven Parteien wie PASOK/KINAL, der Kommunistischen Partei (KKE) und MeRA25 bilden zu wollen. Doch die anderen progressiven Parteien wiesen diesen Vorschlag zurück und erweckten so den Eindruck, dass Wähler*innen mit Syriza für Instabilität stimmen würden, da die Partei keine Verbündeten zu haben schien.

Gleichzeitig wurde Syriza, weil sie eine Koalition anstrebte, nicht für das eigene Programm, sondern für die Programme und Äußerungen der potenziellen Verbündeten verantwortlich gemacht. Das geschah etwa mit dem Vorschlag von MeRA25, als Parallelsystem zum Euro eine Ersatzwährung einführen zu wollen.

Lässt sich sagen, wer für Mitsotakis gestimmt hat und was seine Wähler*innen damit erreichen wollten?

Die Wahldaten werden noch ausgewertet. Allerdings ist bereits deutlich, dass Mitsotakis und seine Partei in fast allen Regionen – selbst denen mit stark antirechter Tradition wie Kreta – und in allen soziodemografischen Kategorien gewonnen haben.

Laut Wahltagsbefragungen scheint Mitsotakis besonders starke Unterstützung unter Selbstständigen und Rentner*innen erhalten zu haben. Doch selbst in traditionell eher links wählenden Segmenten wie den Angestellten des öffentlichen Diensts hat er gut abgeschnitten. Dasselbe gilt für verschiedene demografische Kategorien und besonders verschiedene Alterskohorten: Zum ersten Mal seit 2012 konnte die ND mehr junge Wähler*innen (17-34 Jahre) überzeugen als Syriza.

Wie gesagt lässt sich das Ergebnis nur schwer in wenigen Worten erklären. Zusammenfassend würde ich sagen, dass diese Wählerschaft für Mitsotakis als «das bekannte Übel» und gegen Syriza gestimmt hat, weil wir wie gesagt als Fahrt ins Ungewisse wahrgenommen wurden.

Wie bereitet sich Syriza auf die Neuwahl am 25. Juni vor? Wie können sich die Parteimitglieder nach so einer demoralisierenden Niederlage überhaupt noch motivieren?

Wie alle Linken sind die Mitglieder und Unterstützer*innen von Syriza Menschen, die den Kampf für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie auch schon in viel schwierigeren Zeiten ausgefochten haben. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Syriza auch nach den Ergebnissen vom 21. Mai eine der stärksten Parteien in Europa bleibt – nicht nur für die radikale Linke, sondern auch allgemeiner für das progressive Lager.

Für uns sind die kommenden Wahlen nicht für kurzfristige Parteiinteressen wichtig, sondern für die griechische Gesellschaft als Ganze. Wir sind fest davon überzeugt, dass unsere Kritik der Mitsotakis-Regierung richtig ist: Sie war sozial unsensibel, ökonomisch extrem neoliberal, institutionell antidemokratisch und intransparent. Ihr Plan für die nächsten vier Jahr ist sogar noch schlimmer: Ein Sieg der ND, besonders mit einer starken Parlamentsmehrheit, wird verheerende Folgen für die Gesellschaft haben. Es gibt bereits Hinweise darauf, welche Maßnahmen geplant sind. Vor wenigen Tagen erst hat sich einer ihrer Kandidat*innen dafür ausgesprochen, Patient*innen mit unheilbaren Krebserkrankungen aus der öffentlichen Gesundheitsversorgung und selbst von der Palliativbetreuung auszuschließen, weil die Kosten zu hoch seien. Neben ihm haben auch andere den allgemeinen Zugang zum Gesundheitssystem angegriffen, und dasselbe gilt für das Bildungssystem und noch andere Bereiche.

Die griechische Linke als Ganze sollte gründlicher über die letzten Wahlergebnisse reflektieren und sich nicht nur einer moderneren und radikaleren Programmatik und mutigerer ideologischer Arbeit zuwenden, sondern auch größere Einheit oder zumindest mehr gemeinsames Handeln anstreben.

Wie Alexis Tsipras in seiner Rede an das Zentralkomitee von Syriza nach den Wahlen gesagt hat, ist Mitsotakis’ Plan, «nicht nur die Parlamentsmehrheit, sondern eine umfassende Machtposition zu erringen, aus der heraus er erzkonservative Änderungen an der Verfassung durchsetzen kann. Er will möglichst keinen Rivalen haben. Er möchte Syriza loswerden, den einzigen politischen Gegner, der ihn aufhalten kann und der in der Lage ist, den Sozialstaat, das Gesundheits- und Bildungssystem und die Rechte der Arbeiter*innen zu verteidigen.»

Aus diesem Grund haben Syriza und ihr Vorsitzender, Genosse Alexis Tsipras, selbstverständlich die Verantwortung für die Fehler übernommen, die wir gemacht haben und die einen Teil unserer Wählerschaft von uns entfremdet haben. Gleichzeitig haben wir uns dazu verpflichtet, diese Fehler wiedergutzumachen und, wichtiger noch, noch entschlossener und geeinter in die anstehende Stichwahl zu gehen als je zuvor. Wir haben gemeinsam entschieden, dass trotz des schmerzlichen Schocks des letzten Wahlergebnisses jetzt nicht die Zeit ist zu trauern, sondern zu kämpfen. Und das haben wir seitdem auch getan, denn wir wissen, dass die Umkehr der Kräfteverhältnisse, die sich aus der Wahl im Mai ergeben haben, entscheidend für die griechische Gesellschaft und vor allem für die Menschen ist, die wir zu repräsentieren versuchen.

Zu diesem Zweck unternimmt Syriza konkrete Schritte, um die eigene Botschaft besser zu kommunizieren. Mit der Losung «Gerechte Gesellschaft – Wohlstand für alle» konzentrieren wir uns darauf, unser Programm bekannter und besser verständlich zu machen und zu erklären, für welche Alternative Syriza steht. Für die Kommunikation haben wir ein Team kompetenter Genoss*innen aufgestellt, die die politische Erfahrung und das akademische und berufliche Wissen besitzen, um unsere Positionen gut vertreten zu können.

In dem Sinne sind wir optimistisch und vor allem fest entschlossen, bis zur letzten Minute der kommenden Wahl weiterzukämpfen.

Welche Fehler in der Politik und im Wahlkampf hat Syriza aus deiner Sicht gemacht?

Nach so einem Ergebnis lassen sich Fehler und Ursachen auf unterschiedlichen Ebenen ausmachen. Doch da wir jetzt, während wir noch mitten im Wahlkampf stecken, unsere Fehler erkennen und korrigieren müssen, werde ich mich auf die offensichtlichsten und wichtigsten beschränken, die auch in der Partei diskutiert wurden. Natürlich ist diese Liste nicht erschöpfend, eine Gesamtauswertung unseres Wahlergebnisses folgt nach der Stichwahl.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie es Nea Dimokratia teilweise durch unsere Fehler oder Unzulänglichkeiten gelungen ist, ihre Agenda der Angst durchzusetzen und Stabilität gegen Veränderung auszuspielen, und in welche Sackgasse wir mit der Verteidigung des proportionalen Wahlsystems und mit dem Versprechen auf eine Koalitionsregierung geraten sind. Von diesen beiden Aspekten abgesehen, war einer unserer Hauptfehler oder besser Versäumnisse meiner Ansicht nach, dass wir als kollektive Einheit über einen langen Zeitraum und insbesondere in den kritischen Tagen vor der Wahl nicht geschlossen, verantwortungsvoll und organisiert erschienen sind. Die deplatzierten öffentlichen Statements selbst noch in den letzten Tagen vor der Wahl, die Wankelmütigkeit, der Mangel an Verantwortungsbewusstsein und unser fehlendes Gespür für das Ausmaß an Misstrauen in der Wählerschaft haben uns viele Stimme gekostet, darauf hat auch Alexis Tsipras hingewiesen. Diese Fehler zwingen uns dazu, wie er sich ausgedrückt hat, uns stärker «in Richtung Ernsthaftigkeit, Verantwortung, Kollektivität» zu entwickeln.

Hatte die Partei vielleicht auch das falsche Aushängeschild? Oder, um es provokanter auszudrücken, leidet die griechische Gesellschaft an einer «Tsipras-Müdigkeit»?

Alexis Tsipras hat es in den letzten 15 Jahren, in denen er erst Vorsitzender von Synaspismos und dann von Syriza war, nie gescheut, Verantwortung zu übernehmen. Er hat viele entscheidende Schlachten für seine Partei und sein Land geschlagen. In diesem Sinne hat er sich auch nach dem aktuellen Wahlergebnis nicht weggeduckt. Von Anfang an hat er die Verantwortung für das unerwartet schlechte Resultat übernommen.

Doch nicht nur Syriza mit allen Funktionär*innen und Mitgliedern, sondern auch die Unterstützer*innen der Partei stehen in dieser entscheidenden Schlacht hinter ihm. Der wichtigste Grund dafür ist, dass Tsipras ein erfahrener politischer Anführer mit großen Verdiensten in der Opposition und sicherlich auch im Regierungsamt ist. Ich würde behaupten, dass er einer der wenigen wirklichen Staatsmänner unserer Zeit ist.

Unter seiner Regierung ist Griechenland aus dem Teufelskreis der Rettungspakete und Sparprogramme ausgebrochen, zugleich konnten wir viele soziale Rechte bewahren und selbst unter den schwierigsten Bedingungen die gefährdetsten Teile unserer Gesellschaft schützen. Wir haben ein sehr wichtiges Abkommen mit Nordmazedonien abgeschlossen, das Frieden und Stabilität im Balkan fördert, und Griechenland war mit einem der vielleicht größten Migrationsströme der europäischen Geschichte konfrontiert und hat die Herausforderung, unter Wahrung des Völkerrechts und der Menschenrechte, erfolgreich bewältigt.

Aus meiner Sicht ist es für die europäische Linke wichtig, über bloße Solidaritätsbekundungen hinauszukommen und in tiefere Diskussionen einzusteigen.

Daher ist es nur folgerichtig, dass er in der griechischen Bevölkerung weiterhin sehr populär ist, selbst nach unserer letzten Niederlage und trotz der Tatsache, dass die ND und unsere Gegner ihn persönlich mit systematischen Fake News angegriffen haben, weil sie wissen, dass seine Führung eine wichtige Stütze für Syriza ist.

Der zweite Grund, aus dem wir zu unserem Vorsitzenden halten und ich ihm unsere Niederlage nicht persönlich anlasten würde, ist, dass wir in der Linken alles gemeinsam tun. Wir haben in allen unseren Siegen, in allen unseren Kämpfen und in allen unseren Niederlagen zusammengestanden, und das werden wir auch weiterhin tun.

Natürlich gehören Kritik und Selbstkritik zu unserer Identität dazu, und natürlich hat Alexis Tsipras Fehler gemacht – niemand, der so viel getan hat, bleibt ohne Fehler. Er war der erste, der diese Fehler eingeräumt hat. Aber das heißt noch lange nicht, dass unser Aushängeschild das falsche war, und ich würde dem auch nicht zustimmen.

Syriza ist nicht die einzige linke Partei, die Stimmen verloren hat. MeRA25, die Partei von Yanis Varoufakis, zieht (vorerst) nicht erneut ins Parlament ein, nur die Kommunist*innen (KKE) und Sozialdemokrat*innen (PASOK–KINAL) konnten ihren Stimmenanteil erhöhen. Was sagen diese Ergebnisse allgemein über den Zustand der griechischen Linken aus?

Der gesamte Stimmenanteil der griechischen Linken ist bei den Wahlen im Mai gesunken. Die wichtigsten linken Parteien einschließlich PASOK–KINAL erhielten zusammen 41,4 Prozent, 2019 hatten sie noch 48,4 Prozent und im September 2015 mit Laiki Enotita (LAE) anstelle von MeRA25 50,2 Prozent. Allerdings weiß ich nicht, ob wir daraus schließen können, dass die griechische Linke insgesamt schrumpft. Die griechische Gesellschaft war über viele Jahrzehnte eine der am stärksten links ausgerichteten in Europa, daher sollten wir nicht vorschnell urteilen.

Allerdings halte ich es, wenn wir die Besonderheiten der jeweiligen Parteien außer Acht lassen, für richtig, dass die Linke unter ihrer Zersplitterung leidet. Die Zuwächse bei der PASOK und der KKE sind zwar bemerkenswert angesichts der Gesamtstärke dieser Parteien (beide haben zwei bis drei Prozent dazugewonnen), zeigen aber keine bedeutende Veränderung in der Struktur des griechischen Parteiensystems an.

Daher denke ich, die griechische Linke als Ganze sollte gründlicher über die letzten Wahlergebnisse reflektieren und sich nicht nur einer moderneren und radikaleren Programmatik und mutigerer ideologischer Arbeit zuwenden, sondern auch größere Einheit oder zumindest mehr gemeinsames Handeln anstreben.

Unterstützer*innen der Regierung behaupten, dass sich Mitsotakis wegen eines Wirtschaftswachstums, das mit drei bis fünf Prozent über dem EU-Durchschnitt liegt, wegen fallender Arbeitslosenzahlen und wegen fortschreitender Arbeitsmarktreformen und Digitalisierung des Staates halten konnte. Sie sagen, dass sich Griechenlands Ansehen seit seiner Regierungsübernahme gesteigert hat und Syriza kein ernsthafter Gegner für die ND ist. Kannst du das nachvollziehen?

Das klingt schön, hat aber leider nichts mit der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit der griechischen Bevölkerung zu tun.

Schauen wir zunächst einmal, welche Verbesserungen der sozioökonomischen Verhältnisse wirklich Mitsotakis zugutegehalten werden können. Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen, da du das Beispiel erwähnst, ist weitgehend der Syriza-Regierung zu verdanken, die sie von 26,5 Prozent 2014 auf 17,3 Prozent 2019 senken konnte – ein Rückgang von 9,2 Prozent inmitten einer sehr schwierigen Phase aufgrund der uns aufgezwungenen Sparauflagen. Die ND-Regierung senkte die Zahlen zwischen 2019 und 2022 auf 12,2 Prozent, also lediglich um 5,1 Prozent in einer Phase, in der der haushaltspolitische Rahmen in der EU ganz anders aussah und der Regierung viele Werkzeuge zur Steigerung des Wirtschaftswachstums zur Verfügung standen.

Wie die ND in sozioökonomischer Hinsicht abgeschnitten hat, lässt sich an einigen der wichtigsten Indikatoren ablesen. Aufgrund der unzureichenden und falschen Maßnahmen der Mitsotakis-Regierung zur Inflationsbekämpfung mussten die griechischen Arbeiter*innen laut OECD mit 7,4 Prozent im Ländervergleich die viertgrößten Reallohnkürzungen hinnehmen. Laut Eurostat steht Griechenland in der EU auch an drittletzter Stelle beim BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität. Wie du siehst, hat der Lebensstandard der Griech*innen durch die anhaltende Inflationskrise stark gelitten. Zweitens ist der Index für Einkommensungleichheit, der Gini-Koeffizient, der unter Syriza merklich gesunken war, infolge der ND-Maßnahmen wieder gestiegen.

Was das Ansehen Griechenlands angeht, dürfen wir nicht vergessen, dass das Land im vergangenen Jahr in allen großen internationalen Medien nicht mit seinen Erfolgen Schlagzeilen machte, sondern mit dem riesigen Abhör-Skandal, von dem Politiker*innen, Journalist*innen, Militärs und Regierungsbeamt*innen sowie andere Personen des öffentlichen Lebens betroffen waren. In diesen Skandal war Mitsotakis’ Behörde, wenn nicht sogar er persönlich verwickelt. Darüber hinaus wurde Griechenland im Demokratiebericht des V-Dem Instituts 2023 von einer liberalen zu einer «Wahldemokratie» herabgestuft, das heißt auf eine Stufe über autokratischen Regimen.

Wie kommst du persönlich mit der Niederlage zurecht?

In einem Satz? Mit dem, was Gramsci uns gelehrt hat: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens. Ich weiß, dass es wirklich schlecht aussieht – nicht nur für Syriza, sondern vor allem für die griechische Gesellschaft als Ganze, zu der ich natürlich auch gehöre. Zum Beispiel sorge ich mich darum, was mit dem Gesundheitssystem passieren wird, dem ich mein eigenes Wohlergehen verdanke. Ich sorge mich um weiteren Rückbau der sozialen Rechte und Arbeiterrechte und um zunehmende soziale Ungleichheit und Exklusion. Und natürlich sorge ich mich darum, welche Folgen die Herrschaft so einer autoritären rechten Partei für unsere Rechte und die demokratischen Institutionen haben wird.

Allerdings weiß ich auch, dass uns nichts Anderes übrigbleibt, als weiterzukämpfen und dabei unsere Fehler und Mängel auszubügeln. Letztlich bin ich optimistisch, dass wir die Kräfteverhältnisse, die aus der Wahl im Mai hervorgegangen sind, wieder umkehren können. Außerdem, das habe ich schon vorher erwähnt, vergesse ich nicht – selbst nicht nach einer Niederlage –, dass wir eine der stärksten linken und progressiven Parteien in Europa bleiben.

Wie können linke Parteien und Organisationen in Europa die griechische Linke und besonders Syriza bei der Stichwahl unterstützen?

Die Solidarität unserer Genoss*innen und Freund*innen ist und war uns immer teuer. Das Wissen darum, dass Linke und Progressive überall in Europa und auf der Welt ebenso für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie in ihren jeweiligen Ländern kämpfen und sich dabei oft noch größerer Bedrängnis gegenübersehen als wir, macht uns stärker und entschlossener.

Davon abgesehen und über den aktuellen Wahlkampf in Griechenland hinaus denke ich, dass europäische Linke uns und sich gegenseitig am besten helfen können, indem sie in ihren jeweiligen Ländern Siege erringen und stärker werden. Nur so können wir das Kräftegleichgewicht auf unserem Kontinent verschieben.

Aus meiner Sicht ist es für die europäische Linke wichtig, über bloße Solidaritätsbekundungen hinauszukommen und in tiefere Diskussionen einzusteigen. Angesichts unserer nationalen und regionalen Besonderheiten müssen wir von unseren Fehlern lernen, die Entwicklungen in unseren jeweiligen Gesellschaften analysieren und vor allem Ideen darüber austauschen, wie wir in unseren politischen Kämpfen die Menschen besser und wirksamer davon überzeugen können, dass die Zukunft in einer solidarischen und gerechten Gesellschaft mit Wohlstand für alle liegt.

Übersetzung von Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective.