Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte Jenseits von Nützlichkeitsdiskursen

Beiträge zu einer notwendigen linken Debatte zu Einwanderung und Einbürgerung

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Deutsche Reisepässe auf einem Tisch
Die Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts weg vom Abstammungsrecht hin zu einer Eröffnung von Möglichkeiten der Einbürgerung ist linker Konsens. Viele andere Fragen zu Einwanderung und Einbürgerung sind dagegen umstritten. Foto: IMAGO / Zoonar

Durch verschiedene Gesetzesvorhaben der Bundesregierung gewinnen Debatten um eine erleichterte Einbürgerung, den Umgang mit Menschen, die seit langem in schwer erträglichen Duldungsketten leben, sowie um eine rechtlich neu geregelte Einwanderung erheblich an Bedeutung. Doch zwischen Nützlichkeitsdiskursen bzw. Pragmatismus, menschenrechtlichen Idealen und taktischen Abwägungen befindet sich das linke Mosaik immer wieder in einem Spannungsverhältnis.

Die «Ampel»-Koalition von SPD, Grünen und FDP hat 2022 erste Entwürfe für eine erleichterte Einbürgerung sowie für verbesserte Aufenthaltsperspektiven vorgelegt bei zeitgleicher begrenzter Öffnung der Arbeitsmärkte für «Fachkräfte» auch aus anderen als den EU-Ländern. Diese unterschiedlichen Gesetzesentwürfe und Reformen betreffen Menschen, die sich seit Jahren in Deutschland aufhalten, aber, oftmals von Abschiebung bedroht, von Duldung zu Duldung hangeln und sich in sogenannten Kettenduldungen befinden. Die jüngste Ablehnung der sächsischen «Härtefallkommission» im Falle der Familie Pham Phi Son, machte dahingehend einmal mehr deutlich, wie dringend notwendig weitgehende Reformen sind.

Rebecca Gotthilf ist Bildungskoordinatorin internationale Migration, Florian Weis Referent für Migration und Demokratie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Inwieweit die Entwürfe jedoch angesichts des Widerstandes von großen Teilen der Unionsparteien, der AfD und sie unterstützender Medienorgane sowie der Wankelmütigkeit der FDP und ihrer zunehmenden populistischen Orientierung durchgesetzt werden können, bleibt offen. Weitgehende Unterstützung linker Akteur*innen gibt es hinsichtlich der Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts: Weg vom Abstammungsrecht, hin zu einer Eröffnung von Möglichkeiten der Einbürgerung, die einer Gesellschaft der Vielen und den Lebensrealitäten gerechter wird. Einigkeit  besteht auch in der Verteidigung von Rechten von Migrant*innen sowie gegen rassistische Angriffe und Diskriminierungen. In Bezug auf die konkrete Umsetzung all dieser Punkte, gehen die Positionen jedoch auseinander und bleiben teilweise uneindeutig diskutiert. Der Zwiespalt zwischen dem Verständnis, was als rassistisch gewertet wird, wie Rassismen in eigenen Reihen diskutiert und dafür sensibilisiert werden kann, ist ein stetiger und konfliktärer Lernprozess.

Die Partei DIE LINKE, aber auch andere Akteur*innen des linken Mosaiks sind vielfach zögerlich in ihrer Positionsbildung.

Gleichzeitig verweben sich in dieser grundsätzlichen Debatte natürlich auch realpolitische Auswirkungen: Wie um und für ein neues Einwanderungsgesetz kämpfen? Wie dieses besprechen ohne rassistische Narrative und Begründungen, wie die der vermeintlich «nützlichen» Migration (Fachkräftemangel) gegenüber der vermeintlich «unnützen» Migrationsbewegung (Flucht und Asyl), zu verfallen? Wie aber auch demokratische Mehrheiten für eine offene Gesellschaft der Vielen gewinnen und objektive Herausforderungen und Konkurrenzen unter kapitalistischen Bedingungen bearbeiten, etwa für eine ausreichende Wohnungsversorgung für alle hier lebenden Menschen?  

Die Partei DIE LINKE, aber auch andere Akteur*innen des linken Mosaiks sind vielfach zögerlich in ihrer Positionsbildung, obwohl sich spätestens seit dem Koalitionsvertrag auf Bundesebene Ende 2021, eigentlich aber schon früher, abzeichnete, dass es gesetzliche Neuregelungsinitiativen geben würde. Auf Landesebene sind Fraktionen und Partei oftmals sehr aktiv und kundig, und auch Landesregierungen mit LINKEN-Beteiligung unternehmen Vorstöße, so der bis zum April 2023 im Amt befindliche Berliner Senat, der eine Verdreifachung der Einbürgerungszahlen anstrebte.

Dabei besteht die Herausforderung darin, einerseits an Rahmenbedingungen zu arbeiten und diese auszuweiten, damit eine Vervielfachung von beispielsweise Einbürgerungen und einer erleichterten Einwanderung ermöglicht wird – zugleich bedeutet dies faktisch auch Ausschlüsse hinzunehmen. Denn jede gesetzlich-administrative Regelung von Einwanderung und Aufenthaltssicherung stellt immer auch eine Begrenzung und somit eben einen Ausschluss dar. Aus einer radikal-menschenrechtlichen, rassismuskritischen und internationalistischen Perspektive, die sich außerhalb von Parlamenten, Parteien, Regierungen und Verwaltungen organisiert, ist eine solche linke Realpolitik kritisierbar. Gleichzeitig richtet sich aber auch dieses außerparlamentarisch-zivilgesellschaftliche Engagement etwa für von Abschiebung bedrohte Menschen und für die Aufnahme von beispielsweise schiffbrüchigen Geflüchteten aus dem Mittelmeer mit Forderungen oftmals an den Staat und die Politik. Wie also mit diesem Spannungsverhältnis umgehen?

Ein Teil des linken Spektrums verwehrt sich einer Debatte um Einwanderung und Aufenthaltssicherung, weil es – verständlicherweise – einen Nützlichkeitsdiskurs ablehnt und zeitgleich ein anderer Teil diese Themen nicht behandeln möchte, aus Sorge, dies könne der AfD zusätzliche Argumente an die Hand geben oder Nutzen bescheren. Doch diese uns alle betreffenden Debatten müssen geführt und Handlungsmöglichkeiten ausgelotet werden. 

Eine sozialistische Perspektive sieht nicht in ankommenden Menschen das Problem, sondern in kapitalistischer Ungleichheit, sucht Lösungen durch Umverteilung und nicht durch Abschottung.

Für einige Akteur*innen in der Partei DIE LINKE und anderen Teilen eines sozial-progressiven gesellschaftlichen Lagers, etwa in der Kommunalpolitik, liegt eine Herausforderung darüber hinaus auch darin, einen sozialen und ökonomischen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen von z.B. Schutzsuchenden und schon lange hier lebenden Menschen zu schaffen, die ebenfalls mit den Problemen fehlender bezahlbarer Wohnungen, fehlender Mobilität in ländlichen Regionen und überforderter Schulen zu kämpfen haben. Eine sozialistische Perspektive sieht nicht in ankommenden Menschen das Problem, sondern in kapitalistischer Ungleichheit, sucht Lösungen durch Umverteilung und nicht durch Abschottung. Gleichzeitig müssen die praktischen Probleme, vor denen linke und andere demokratische Politiker*innen in Kommunen und Ländern stehen, Berücksichtigung in linken Debatten finden, wie auch das Ringen um Akzeptanz für eine offene Gesellschaft. Und dies braucht Diskurs und vor allem Diskursfähigkeit.

Wir erkennen bisher einen Mangel an argumentativer Handhabe von und für links, und ebenso eine Unsicherheit, sich aktiv einzubringen und festzulegen. Müssen wir uns an Nützlichkeitsdiskursen beteiligen, damit wir Chancen ausbauen und Hürden, für einige, verringern? Oder sollten wir uns diesen entschieden entgegenstellen, also auch dem Diskurs verwehren? Brauchen wir diese Argumente, um voranschreiten zu können und realpolitisch Fakten zu schaffen sowie mehr Menschen beispielsweise einbürgern zu können? Oder ist die Teilnahme an diesen Diskursen per se derart rassistisch aufgeladen und bringt die Gesellschaft der Vielen ins Wanken – denn Grenzen sind Grenzen und Ausschluss bleibt Ausschluss? Zwischen idealistischen Vorstellungen und realpolitischen Umsetzungsrahmen bewegt sich die Arbeit linker Akteur*innen für die Gesellschaft der Vielen im Widerspruch. Wie viel Richtig kann es in falschen Verhältnissen geben? Und wie gehen wir damit um?

In Fragen der Einbürgerung und des Rechts auf Partizipation spiegelt sich das Versprechen auf erfolgreiche Integration wider.

Wir leben in einer Welt von Nationalstaaten, die historisch und aktuell widersprüchlich zu betrachten sind. Einerseits stehen sie historisch für Fortschritte wie die parlamentarische Demokratie und den Sozialstaat, andererseits aber auch für Abschottung und Nationalismus. Wenn nach Nützlichkeit und Staatshierarchien Menschenrechte vergeben werden, leidet ebenfalls der demokratische Anspruch. Der strukturelle Ausschluss Marginalisierter lässt die Demokratie kränkeln und wirft zeitgleich Fragen danach auf, was ein Integrationsdiskurs meinen kann, wenn weite Teile der Bevölkerung auf ewig Migrant*innen bleiben. Wie viel Nützlichkeit ist also ein demokratisierendes Mittel? In Fragen der Einbürgerung und des Rechts auf Partizipation spiegelt sich das Versprechen auf erfolgreiche Integration wider, weswegen wir uns als Gesellschaft der Vielen gerade aus dem linken Mosaik heraus diesen Fragen stellen und widmen sollten.

Zwischen Kritik an der Nützlichkeitsdebatte und realpolitischen Forderungen, die als umsetzbar wahrgenommen und in gesellschaftlichen und parlamentarischen Prozessen mehrheitsfähig sein müssen, besteht ein objektives Spannungsverhältnis in diesen Debatten, die eben nicht selten rassistisch aufgeladen sind. In diesen sowie den oben genannten Dilemmata und Ambiguitäten bewegen sich große Teile progressiver und linker Politik, in Parteien, Parlamenten, Kommunen und Regierungen, aber auch in der praktischen Arbeit von Initiativen und NGOs.

Im Zuge dessen ist eine sowohl diskursive als auch praktische, handlungsfähige Intervention notwendig, um linke Positionsbildungen zu qualifizieren und reale Verbesserungen zu erreichen. Es gilt dabei einerseits, den rassistischen Teilen der «Debatten» und ihrem politischen Agieren etwas entgegenzusetzen und zugleich eine argumentative Handhabe mitzugeben, die in den konkreten Ausgestaltungsfeldern eine sachliche Information und Meinungsbildung erlaubt und realpolitische Handlungsfelder auslotet.

Unser Dossier «Einwanderung und Einbürgerung» ist der Versuch dazu einen kleinen, jedoch wie wir hoffen, relevanten Beitrag zu leisten.

Dieses Dossier ist ein Angebot des gemeinsamen Nachdenkens und inhaltlichen Schärfens von Positionen.

Die einzelnen Beiträge verfolgen dabei verschiedene Argumente und Schwerpunkte und beinhalten in sich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr kann dieses Dossier als eine Sammlung an verschiedenen Perspektiven verstanden werden, um einen Ein- und Überblick in die Kontroversen aus linker Perspektive zu ermöglichen. Die verschiedenen linken Standpunkte sollen so Raum bekommen nebeneinander stehen zu können, in der Hoffnung die innerlinke Debatte voranzutragen, andererseits jedoch auch nach außen hin zu informieren, welche Spielfelder es gibt und in welchem Rahmen sich das linke Mosaik bewegt.

Es erscheinen Texte von Autor*innen aus Politik, Wissenschaft, (Selbst-)Organisationen und Zivilgesellschaft, die jeweils unterschiedliche Teilaspekte behandeln. Dabei wird es etwa um die historische Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechtes, um kritische Einordnungen der Regierungsgesetzesentwürfe, aber auch um eine sachliche Einschätzung und politische Forderungen Betroffener gehen. Wir wollen so versuchen, linke Konsenspunkte in der Argumentation gegen rechte Positionen zu stärken, zudem konkrete Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten darzubieten und schließlich einen Beitrag für eine Diskussion auch und gerade von Dissenspunkten zu leisten.

Politik braucht Wissen

Nicht zuletzt möchten wir dafür werben, die – begrenzten – Chancen, die die gegenwärtigen Diskussionen um Einbürgerung, Aufenthaltssicherung und Einbürgerung für Betroffene bieten, politisch und praktisch zu nutzen. Und schließlich greifen wir ein Motto der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus Anlass ihres zwanzigjährigen Bestehens auf: Politik braucht Wissen. Meinungen und Meinungsstreit sind zentral für eine Demokratie, klare Haltungen in elementaren Fragen von Menschenwürde und Gleichheit ebenso. Es braucht daneben zudem auch Informationen und Kenntnisse.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Initiativen der Bundesregierung sowie verschiedene Aktivitäten von Landesregierungen die miteinander verflochtenen Themen von Einwanderung, Einbürgerung, Flucht und Asyl, Duldung sowie Partizipation nicht nur in den Wahlen 2023 (Berlin, Bremen, Hessen, Bayern), sondern auch darüber hinaus bis zur Bundestagswahl 2025 relevant bleiben werden. Damit Beteiligte dabei unterschiedliche Rollen einnehmen, Einfluss auf die politischen Debatten und Gesetzgebungserfahren nehmen können, müssen sie sich kompetent, differenziert und vernehmbar einbringen. Linke Kritikfähigkeit zu Vorschlägen und Umsetzung bedarf einer gründlichen Positionsbildung.

Als eine Gesellschaft der Vielen sollten wir dabei fragend in Diskussionen gehen und wohlwissend der Widersprüche Haltung bewahren und Spielräume schaffen. Mit dem Dossier zu Einwanderung und Einbürgerung möchten wir uns dieser Aufgabe widmen.

 
Rebecca Gotthilf und Florian Weis, Juni 2023