Diese Publikation des Musikjournalisten Christoph Wagnerstellt die laut dem Klappentext des Buches «besonders rührige» historische Lebensreformbewegung im heutigen Baden-Württemberg vor. Diese gründete ab dem Ende des 19. Jahrhunderts vegetarische Läden und rauchfreie Cafés ebenso wie Reformschulen, Sanatorien, ländliche Siedlungen und «Erziehungsheime» (Internate). Über zahlreiche Veröffentlichungen und gegenseitige Besuche wurde der Kontakt und Austausch untereinander gepflegt und versucht, in die Gesellschaft hineinzuwirken.
Die Lebensreform plädierte in Reaktion auf und in Abgrenzung zur Moderne und zur Industrialisierung für eine Umkehr im Privaten und sprach viel von einem «neuen Menschen». Ihre AnhängerInnen strebten nach einem anderen Umgang mit der Natur und ihrem eigenen Körper, sie träumten von alternativen und utopischen Lebensmodellen und sucht ihr Heil in Gemeinschaften. Die «praktischen» Themen, anhand derer eine Umsetzung ausprobiert und zu denen viel publiziert wurde, sind bekannt: Ernährung, Kleidung, Tanz, Körper und Gesundheit, Wohnen und Siedeln und auch Bildung und Erziehung.
Der Autor hat, und das ist in der Form neu und deswegen verdienstvoll, viele Vereine, Zeitschriften, Orte und Personen aus Württemberg zusammengetragen, und das umfangreiche Personenregister erleichtert die Nutzung. Die gesellschaftliche Linke dieser Jahre kommt jenseits der Nennung von später prominenten Einzelpersonen (Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Hermann Hesse, Friedrich Wolf) nur in Form der Naturfreunde vor (S. 108-117). Deren Ortsgruppe Heilbronn konnte mit dem Steinknickle 1913 das erste Naturfreundehaus in Schwaben eröffnen. Schwarzenbach, das erste in Baden, wurde 1912 eröffnet, fiel aber kurz darauf dem Bau einer Talsperre wieder zum Opfer und musste an anderer Stelle neu erbaut werden.
Die einzelnen Beiträge zeigen die Aufbruchsstimmung und Naturschwärmerei, den «Idealismus», aber auch die bei einigen anzutreffende Askese. Viele Vorhaben scheiterten früh aus wirtschaftlichen Gründen und/oder wegen zwischenmenschlicher Probleme und Spannungen. Wagner beschreibt und kritisiert immer wieder den Irrationalismus und Antisemitismus, ebenso das völkische Denken, das in Teilen dieser Reformbewegungen durchaus vorhanden war, und ab 1914 immer weitere Verbreitung fand. Wagner hat alles in allem eine lesenswerten und reich mit historischen Abbildungen versehenen Band vorgelegt. Das Vorwort hat der ökokonservative Landesvater Winfried Kretschmann beigesteuert. Dass der Ministerpräsident darin das Buch als «Heimatkunde vom Feinsten» bezeichnet, sollte nicht von der Lektüre abschrecken. Denn hier ist viel über einige, wenn auch minoritäre Wurzeln der heutigen Zivilisations- und Kapitalismuskritik zu erfahren.
Christoph Wagner: Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880-1940); Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher etc. 2022, 280 Seiten, 34,80 Euro
Im Appenzeller Volkskundemuseumin Stein (südlich von St. Gallen/Schweiz) ist noch bis 27. August die Ausstellung «Von Reformtänzerinnen und Wollaposteln. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950» zu sehen. Die dazugehörige Publikation ist Iris Blum: «Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950». Verlagsgenossenschaft St. Gallen, 2022. 352 Seiten. 42 Franken. Artikelzu dieser Ausstellung und Publikation in der WochenZeitung WoZ vom 22. Juni 2023.