Der Zugang zu Theoretikern verläuft normalerweise über die Rezeption von deren Theorien. Oft ist es dann so, dass letzten Endes die jeweiligen Autoren mit ihrer Geschichte und ihrer Biografie nur noch als Begleitchiffren zu einem oder verschiedenen Texten wahrgenommen werden.
Da ist es schön, wenn durch Publikationen mal ein anderer Zugang zu diesen Menschen eröffnet wird, wie in dem neuen Band, der in der gut aufgemachten Reihe „Dissidenten der Arbeiterbewegung“ im Unrast Verlag erschienen ist. Dieser widmet sich Paul Mattick (1904-1981), einem der zentralen Theoretiker des Rätekommunismus.
Den Hauptteil des Bandes bildet ein langes Interview. In dessen Mittelpunkt stehen nicht Matticks „über 500 Aufsätze und Buchbesprechungen“ (S.14), sowie seine Bücher – von denen Marx und Keynes das wohl bekannteste sein dürfte –, sondern vielmehr dessen Biografie. Zahlreiche interessante und auch abenteuerliche Geschichten hat der Hannoveraner Politikwissenschaftler und Karl Korsch-Spezialist Michael Buckmiller Mattick entlocken können, dabei habe dieser eigentlich, so Buckmiller im Nachwort, partout nicht „über sich selbst (…) in einem biographischen Zusammenhang“ sprechen wollen (S.140).
Anschaulich werden verschiedene biografische Abschnitte in Matticks Leben gestreift: Vom proletarischen Elternhaus, in dem der Vater bei den Hausaufgaben der Kinder sich bemüht selbst besser Lesen und Schreiben zu lernen, vom Jugendlichen Mattick im KAPD-Milieu in Berlin und den revolutionären Umbrüchen zwischen 1918 und 1923, sowie der Zeit in den USA, wo sich Mattick im Kontext der IWW (Industrial Workers of the World) bewegt.
Es ist ein wahrlich „an abenteuerlichen Erlebnissen“ reiches Leben, wie die Herausgeber zu Recht festhalten (S.9) und mehrmals erfährt der Leser von Momenten, in denen Mattick nur knapp und durch Zufall dem Tod entronnen ist, denn: „Ich habe (…) immer irgendwie Schwein.“ (S.40) Zum Beispiel als er sich überreden lässt, nicht mit der Gruppe Utzelmann/Kempin – eine jener Guerillatrupps, die nach den Kämpfen Anfang der 1920er Jahre im Untergrund bleiben musste – weiter mitzuziehen, über deren Ende er folgendes berichtet: „Als die Gruppe den Angriff auf den Kassierer und die Lohntüten unternahm, haben sich die Arbeiter gegen die Expropriateure gewandt, wollten sie verhauen und totschlagen und das Geld wieder abnehmen. Es gab nur die Flucht in einen Wald, da die acht Leute nicht auf Arbeiter schießen wollten, warteten sie, bis die Arbeiter an sie rankamen. Inzwischen kam die Polizei, die sie dann einfach abgeschossen hat.“ (S.50) Vieles liefert eindrückliche Beschreibungen proletarischer Lebenswelten: „Damals war ich ein Delegierter und war von der AAU beauftragt, die Mitgliedsbeiträge einzuziehen. Das war eine widerliche Angelegenheit, denn die Mitgliedsbeiträge konnte man nur am Zahlabend einziehen und Zahlabend bedeutet: in der Kneipe. Und wenn ich in die Kneipe ging, um den Leuten die Mitgliedsbeiträge abzunehmen, na ja, dann bekam ich noch ein Bier. Ich hatte jetzt zwar den Mitgliedsbeitrag, aber auch noch das Bier, dann fühlt man sich verpflichtet, na ja, trinken wir noch ein zweites Glas. Im Laufe eines Abends wurde ich dann vollkommen besoffen, nur um die Mitgliedsbeiträge einzuziehen. So war ich in einem annähernd dauernd besoffenen Zustand.“ (S.54) Der Theoretiker Mattick erinnert daran: „Na ja, ich las die Zeitung, las ein Buch hier und da, oder Broschüren. Aber systematisch? Wir hatten doch gar keine Zeit, wir waren doch dauernd auf den Beinen. Entweder war ich arbeiten oder auf den Beinen.“ (S.60)
Später in den USA findet Mattick dann ein wenig mehr Muße, entdeckt das ihn einschneidend prägende Buch Grossmanns Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (1929) und nutzt dies sogleich als Waffe gegen die leninistischen Widersacher: „Und mit Grossmanns Hilfe habe ich die Proletarian Party gespalten, indem ich diese leninistische Unterkonsumtionstheorie mit der Theorie der fallenden Profitrate kaputtschlug. Viele Leute fingen an, Karl Marx neu zu lesen. Es war wie ein Wunder, auf einmal merkten sie, na ja, was die Leninisten über den Karl Marx erzählen, das stimmt doch alles gar nicht, Karl Marx ist doch ganz was Anderes.“ (S.63) Auch gibt es Ausführungen, die aus dem Munde eines Rätekommunisten – welche ja des Öfteren eher euphorisch über das Proletariat zu schreiben pflegten – eher überraschen: „Als wir mit unseren Forderungen zuletzt an den Direktor der Deutz-Maschinenbau herankamen, zum Schluss, als wir die Leute bereits auf den Hof geholt und alles zerstört hatten, da machte ich die eigenartige Entdeckung, dass die Arbeiter, als wir das Zimmer des Direktors betraten, ihre Mützen abnahmen. Das war das erste, was ich bemerkte. Ich nahm meine Mütze nicht ab, wir hatten alle Mützen auf. Aber wie die Arbeiterräte dort eintraten, nahmen sie alle ihre Mütze ab und standen ganz verlegen in der Ecke.“ (S.39) Letztlich bleibt dann – wie es scheint – nur noch der Glaube an die Geschichte, bzw. das dem Kapitalismus inhärente Katastrophenszenario: „Ich bin überzeugt, dass es ohne Krise keine Revolution gibt. Aber das ist eine alte Überzeugung, die kommt von Rosa Luxemburg und ihre Vertreter nannte man Katastrophenpolitiker. Ich bin Katastrophenpolitiker. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeiterklasse in einer Gesellschaft ohne langfristige Krise mit dauerndem Niedergang jemals den Kapitalismus angreifen würde. Sie wird sich einrichten im Kapitalismus, aber nicht angreifen. Ohne Katastrophen gibt es keinen Sozialismus. Und die Katastrophe kann im Kapitalismus nur kommen, weil zwar bewusst die Politik beherrscht werden kann, aber nicht die Ökonomie. Die Krise kann also nur aus der Ökonomie kommen.“ (S.106) Viel weiter als mit Bebels Kladderadatsch-Vorstellung ist man so nicht. Aber der Charme des Buches liegt denn auch woanders.
Abgerundet wird der Band mit einem interessanten, teilweise auch recht persönlichen Nachwort Michael Buckmillers: „Paul Mattick – ein proletarischer Intellektueller“, sowie vier literarischen Texten Matticks aus den 1920er und 30er Jahren, die noch einmal einen „anderen Mattick“ präsentieren. Ein schönes Buch, das historische Einblicke verschafft und nicht nur Interessierten am Rätekommunismus zur Lektüre empfohlen werden kann. Nicht zuletzt erinnert es auch daran, dass Sozialismus einmal ein ernsthaftes, ein das Leben umfassendes Projekt bezeichnete: „Man ging ja nicht in die Freie Sozialistische Jugend, weil man in einen Turnverein gehen wollte, sondern weil es die Freie Sozialistische Jugend war.“ (S.83)
Christoph Plutte/Marc Geoffroy (Hg.): Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer. Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller. Unrast Verlag, 2013. 179 Seiten. 16 €