Der vorliegende Tagungsband versucht die Stadt-Land-Beziehungen als „wechselseitige Beziehungs- und Erfahrungsgeschichte“ zu verstehen, und eine „räumlich orientierte Gesellschaftsgeschichte“ zu betreiben. Er enthält jenseits des Vorwortes zwölf, in der Regel eher kleinteilige Beiträge aus einem sehr breiten Themenfeld. Dieses reicht von der biographischen Selbstdeutung von Lesben und Schwulen in der „Provinz“ bis zum (produzierten) Bild von Ländlichkeit in der Tourismuswerbung. Alleine diese zwei Beispiele machen deutlich, dass hier nicht die klassische Agrar- oder Planungsgeschichte verfolgt wird; sondern vielmehr angestrebt wird, eine Geschichts- bzw. Kulturwissenschaft nach diversen turns (cultural, visual, linguistic, …) als Instrument zur Beschreibung ländlicher Räume im Zeitraum „nach der Entagrarisierung“ zu nutzen. Dem Band liegt eine Tagung in Münster im Herbst 2012 zugrunde, die dann mit einer weiteren (vom 16.-17. Dezember 2014) mit dem Thema „Neue soziale Bewegungen in der ‚Provinz‘ (1970–1990)“ fortgesetzt wurde.
Mitherausgeber Kersting stellt die nicht zuletzt vom Gedanken der Re-Education (und Adorno) beseelten sogenannten „Darmstadt-Studien“ vor. Sie gelten als der Beginn einer aufgeklärten empirischen Soziologie und Sozialforschung ländlicher Gesellschaften in Westdeutschland. Julia Paulus schreibt über die zweite Frauenbewegung im Münsterland, während Clemens Zimmermann das Phänomen der „Suburbanisierung“ empirisch und ideengeschichtlich referiert. Immer wieder taucht aber der „subjektive Faktor“ auf, der in der neueren Kulturgeschichte davon ausgeht, dass Menschen selbst wahrnehmen, deuten und (damit) gestalten.
Auf der Meta-Ebene geht das Forschungsprojekt davon aus, dass sich „Stadt“ und „Land“ durch die Medialisierung und flächendeckende Automobilisierung und die Lebensstilrevolutionen tendenziell angeglichen, wenn auch nicht nivelliert hätten. Gleichzeitig existieren Stadt und Land mit realen und imaginierten Eigenschaften weiterhin. Es sind also (auch falsche) Bilder von „Stadt“ und „Land“ weiterhin lebendig, die diesen bestimmte Eigenschaften zuschreiben und damit auch Folgen haben. Gerade in der visuellen Repräsentation ist eine scharfe Unterscheidung die Regel. Stephan Beetz weist in seinem Beitrag daraufhin, dass der eh nicht unproblematischen Landsoziologie ihr Gegenstand abhandengekommen sei.
Die beiden Historiker Kersting und Zimmermann haben einen lesenswerten Band vorgelegt, der im Feld der Agrargeschichte und –soziologie positiv hervorsticht. Sie holen die Geschichte des ländlichen Raums und seiner Beziehungen ein kleines bisschen aus der Exoten-Ecke heraus. Die bisherigen Ergebnisse dieses Forschungsprojektes machen aber auch deutlich, welche definitorische Unschärfe (noch) besteht und weit mehr, welche großen Lücken eine Agrarzeitgeschichte noch engagiert zu füllen hätte. Eine Agrarzeitgeschichte, die internationale wissenschaftliche Konzepte von z.B. „rurality“, die „Land“ als soziale Konstruktion verstehen, rezipiert und anwendet. Es bleibt zu wünschen, dass zumindest die erwähnte Tagung zu neuen sozialen Bewegungen bald dokumentiert wird (1).
Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hrsg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert : geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven; Schöningh Verlag, Paderborn usw. 2015, 330 S., 38 EUR
(1) Vgl. den Tagungsbericht unter http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5780
Manuskript einer Buchbesprechung, die zuerst in Heft 2/216 von "Forum Wissenschaft" erschienen ist.
Volltext der Rezension auf H-Soz-Kult).
Ralph Richter zu diesem Buch auf H-Soz-Kult vom 6.10.2015: ""Insgesamt liegt mit dem Band ein inspirierendes und schlüssiges Werk vor, das einen wichtigen Beitrag zum Überdenken der vielfach behaupteten Nivellierung von Stadt und Land liefert." (