Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Partizipation / Bürgerrechte - Erweiterung des Terrains Blick hinter den Schleier

Naika Foroutan zum Siegeszug des Begriffs des «Postmigrantischen»

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Naika Foroutan,

Erschienen

April 2017

Naika Foroutan Foto: Nina Pieroth

Günter Piening sprach mit der Migrationsforscherin Naika Foroutan über den Siegeszug des Begriffs des «Postmigrantischen», zur Sinnhaftigkeit von Leitbildern und Reeducation-Programmen und zur alles entscheidenden Frage, worum es bei der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung überhaupt geht. 

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Ab heute veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.

Günter Piening: Herzlichen Glückwunsch, Frau Foroutan. Der Begriff der «postmigrantischen Gesellschaft», der Ihrer Arbeit zugrunde liegt, hat eine wahre Blitz-Karriere hinter sich. Viele setzen ihre Hoffnung darauf, dass nun endlich ein Begriff gefunden wurde, der die Gesellschaft angemessen beschreibt und eine gute Basis für Zukunftsentwürfe bildet. Was ist so interessant am Begriff «postmigrantisch»?

Naika Foroutan: Der Glückwunsch muss an Shermin Langhoff* gehen, die den Begriff aus ihrer künstlerischen Arbeit heraus als subversiven, ironischen Gegenentwurf eingeführt hat, um deutlich zu machen, dass Deutschland nicht aus den Gruppen «Migranten» und «Nichtmigranten» besteht, sondern aus vielen aufeinander aufbauenden, nebeneinander herlaufenden oder sich gegeneinander positionierenden Gruppen und Personen.

Wir haben den Begriff in die Sozialwissenschaften transferiert und versuchen ihn zu operationalisieren. Das ist gar nicht so einfach. Die Kunst- und Kulturszene kann, ja muss einen Begriff im Ungefähren belassen. Wir aber müssen unsere Begriffe definieren, festzurren, dazu Modelle aufbauen. Das Risiko ist, dass dabei ein Teil dieser subversiven Kraft verloren geht. Vielleicht gelingt es uns aber auch, die Überlastung des Begriffes produktiv zu nutzen, indem wir uns am Ungefähren bzw. an der Ahnung, die dieser Begriff transportiert, wissenschaftlich abarbeiten und dabei aus ganz unterschiedlichen Richtungen den notwendigen gesellschaftlichen Paradigmenwandel beschreiben, um Ungleichheit zu überwinden. Dann würde das «migrantische» im postmigrantischen Begriff als Chiffre für reale und konstruierte, soziale und symbolische Ungleichheiten stehen, deren Überwindung sich die plurale Demokratie zum Ziel setzt.

«Begriffe sind Griffe, um Dinge zu bewegen» heißt es in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen. Was bewegt der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft?

Der Begriff entfaltet Kraft auf drei Ebenen: empirisch, analytisch, normativ.

Der empirische Teil ist für uns Sozialwissenschaftler*innen der griffigste Bereich. Das «post» in postmigrantisch steht in dieser Betrachtung für den Moment nach der Migration, wenn die Migranten im Land angekommen sind. Wir fragen: Wie verändern sich Gesellschaften, nachdem Migration erfolgt? Was passiert mit ihnen, was mit denen, mit denen sie agieren, mit der Gesellschaft, wie verändert sich Sprache, Arbeit, Wahrnehmung? Also wie verhalten sich die Akteure – und das sind die Einwander*innen und die Alteingesessenen, wobei Alteingesessene auch wieder Migrationshintergründe haben können! Postmigrantisch? Wir betrachten aber auch die Veränderung von Institutionen, Diskursen, Identitäten, Anerkennungsprozessen, Einstellungen, Wissensbeständen, Kontakten, etc.
 

«Hinter den Migrationsschleier blicken!»

Der analytische Teil ist komplizierter. «Post» meint hier eher ein «dahinter». Analytisch geht es darum zu erkennen, wie die Omnipräsenz des Themas Migration – ja diese regelrechte Obsession, die mit ihr einhergeht, wie Riem Spielhaus sagt, – die Gesellschaft vor sich her treibt und alles andere überdeckt. Klasse, Schicht, soziale Ungleichheit, Sexismus, Gender, Rassismus – all das wurde in den letzten Jahren vor allem mit dem Thema Migration verbunden und thematisiert. Dies sind aber dominante Konfliktlinien, die generell Gesellschaften zugrunde liegen und nicht erst durch Migration entstanden sind. Der postmigrantische Ansatz fordert dazu auf, hinter diesen Migrationsschleier zu blicken, und thematisiert Konflikte, die sehr viel stärker sozialstrukturell begründet sind, auch als das, was sie sind: Klassenkonflikte, Genderungleichheiten oder Rassismus.

Auf der normativen Ebene gilt es einen moral-philosophischen Ansatz hervorzuheben. Dieser schlägt sich in der Aufforderung nieder, etablierte Prozesse des Ausschlusses, des «othering» sichtbar zu machen. Dabei geht es darum, Leitbilder für eine integrative Gesellschaft zu entwickeln, die über die künstlichen, etablierten Trennlinien zwischen Migranten und Nichtmigranten hinausweisen. Es geht also nicht darum, Migration unsichtbar zu machen oder zu leugnen, dass es strukturelle Angebote geben muss, die speziell auf Migranten zugeschnitten sein müssen. Allerdings sind Instrumente der Sprachbildung, Orientierung, Arbeitsplatzsuche, Weiterqualifizierung etc. auch wiederum Bedarfe, die für weite Teile der Gesellschaft individualisiert zugeschnitten werden müssten.

Das ist die große Aufforderung, die in diesem Begriff steckt: Gesellschaftsanalytisch und dekonstruktiv vorzugehen und dabei gleichzeitig den strukturalistischen Spin zu wagen, die plurale Gesellschaft in ihren Bedarfen als Ganzes zu adressieren.
 

Migration ist nur die Chiffre, hinter der sich vielfältige Konflikte im Umgang mit Pluralität verstecken.

So sieht es die Wissenschaft. Aber in der Gesellschaft entwickelt sich die Debatte doch gegenläufig. Diese «künstliche Kategorie» Migration ist doch mächtiger denn je und der wichtigste Treibriemen für das Erstarken des Rechtspopulismus.

Ja, diskursiv erleben wir zur Zeit ein Rollback und eine extreme Polarisierung. Aber läuft die Bruchlinie wirklich entlang der Kategorie «Migration»? Nein. Wenn wir die Entwicklung genauer untersuchen, stellen wir fest, dass die Bruchlinie zwischen Pluralitätsaffinen und Pluralitätsgegnern verläuft. Ertrage ich Pluralität, mag ich sie, akzeptiere ich sie? Oder verängstigt sie mich, fühle ich mich damit unwohl oder lehne ich sie gar aggressiv ab? Das ist der Kern der Konflikte in der postmigrantischen Gesellschaft, der die Gesellschaft um zwei Pole gruppiert. Migration ist nur eine Chiffre für Pluralität, hinter der sich vieles versteckt: Umgang mit Gender-Fragen, Religion, sexueller Selbstbestimmung, Rassismus, Schicht und Klasse, zunehmende Ambiguität und Unübersichtlichkeit usw.
 

Haltung zu Pluralität und neue Allianzen

Pluralisierung entgrenzt bisher vermeintlich klar Abgezirkeltes. Und was macht das Überwinden von Grenzen deutlicher als Migration? Pluralität hat es schon immer gegeben. Dass es sich bildlich manifestiert, geht eben auch über Menschen, die anders aussehen, andere Sprachen sprechen. Migration (oder durch Migration Mitgebrachtes, wie z.B. Islam) überlagert bei den Rechtspopulisten alles – Anti-Europa, Anti-Gender, Anti-LGBTQ, Anti-Elite –, weil es eine Chiffre für das Überwinden von Grenzen ist. Pegida & Co wollen wieder in ihre klar abgezirkelten Grenzen zurück, und das ist nicht nur territorial zu verstehen.

«Pegida & Co wollen wieder in ihre klar abgezirkelten Grenzen zurück, und das ist nicht nur territorial zu verstehen. Migration oder durch Migration Mitgebrachtes, wie z.B. Islam, überlagert bei den Rechtspopulisten alles – Anti-Europa, Anti-Gender, Anti-LGBTQ, Anti-Elite –, weil es eine Chiffre für das Überwinden von Grenzen ist.» (Naika Foroutan) Demonstration in Stuttgart, CC BY-NC 2.0, Brainbitch, Flickr

Entlang dieser Kategorie – Haltung zu Pluralität – bilden sich neue Allianzen. Ein Dompropst macht das Licht aus, weil Pegida vor seiner Kirche demonstriert und vor seiner Kirche marschieren dann auf der No-Pegida-Demo Antifa-Aktivist*innen und Vertreter*innen von Migrantenorganisationen neben dem herkunftsdeutschen evangelischen Lehrer und der katholischen Heimatvertriebenen mit einem Schild «Deutschland ist bunt»! Im anderen Lager, den Antagonisten, die Pluralität ablehnen – von stark bis latent – finden wir auch ein sehr heterogenes Feld: Nicht nur Rechtsextreme und Salafisten, sondern auch Mittelschicht und «besorgte Bürger» und Teile etablierter Eliten. Wer hätte dort Boris Palmer von den Grünen erwartet oder Sarah Wagenknecht, die beide ihre latente Pluralitätsabwehr im letzten Jahr immer wieder als Teil eines «Man wird ja wohl noch sagen dürfen»- Diskurses inszeniert haben? Selbstverständlich kann man sie auf keinen Fall mit Pegida-Leuten oder Salafisten vergleichen. Es soll nur deutlich werden, dass das Feld der Pluralitätsabwehr heterogen ist, genauso wie das Feld der Pluralitätsoffenheit. Und diese neuen Feldorientierungen, die sich eben außerhalb etablierter Feldzuschreibungen aufstellen, führen zu weiteren zunehmenden Irritationen und Ambivalenzen. Man hat das Gefühl, nichts ist mehr so, wie es immer war.

Diese beiden Lager bilden sich offenbar jenseits von rechts und links, jenseits von migrantisch und nichtmigrantisch, jenseits von alt und jung, jenseits von reich und arm. Es ist eben nicht so, dass die Armen gegen Migration sind und die Reichen, weil sie es sich leisten können, sind pluralitätsaffin. 55 Prozent der AfD-Wähler haben Abitur, 44 Prozent verdienen über 3000 Euro und die meisten arbeiten als Angestellte. Den Diskurs so zu führen, als sei die Pluralitätsabwehr ein Makel der Armen und Ungebildeten, verdeckt den Rassismus der Etablierten. Es ist auch nicht so, dass Migranten alle für Pluralität sind und Nichtmigranten dagegen. Viele Migranten der ersten Generation haben sich abwehrend gegen die Willkommenskultur geäußert. Es geht, wie bereits beschreiben, um die Akzeptanz oder Abwehr von zunehmender Pluralität. Und zwischen diesen beiden Polen findet ein dynamischer Kreislauf um Anerkennung, Partizipation und um Gleichheits- und Zugehörigkeitsprozesse statt. Dieser dynamische Konfliktzirkel mit seinen Gleichzeitigkeiten ist es, der die postmigrantische Gesellschaft antreibt, und die derzeitige Situation so extrem ambivalent erscheinen lässt.

Reicht das Schild «Deutschland ist bunt» aus, um die Pro-Allianz dauerhaft zu stabilisieren trotz aller sozialen, politischen, kulturellen und – ja auch – ethnischen Unterschiede? Was ist das gemeinsame Interesse, der Kitt, der zusammenhält?

Die neuen postmigrantischen Allianzen entstehen, weil die Menschen eine ähnliche Vorstellung von der Gesellschaft haben, in der sie leben wollen. Es heißt nicht mehr allein «Mach meinen Kumpel nicht an», wo man sich als Herkunftsdeutscher schützend vor den Migranten stellt, sondern «Wir teilen die gleiche Vorstellung von Gesellschaft und sind Alliierte».
 

Kämpfe ohne Paternalismus

Man kämpft nebeneinander, Hand in Hand sozusagen, für ein Gesellschaftsmodell, das sich auf das Versprechen der Gleichheit stützt, das schon in der Verfassung verankert ist. Dieses Gesellschaftsmodell – die plurale Demokratie – sieht man durch die aggressiven Positionen der Rechtspopulisten angegriffen. Das macht die Kräfteverhältnisse prospektiv sehr viel gleicher als in den bisherigen Solidarisierungskampagnen, die immer auch die Position des Starken und des zu verteidigenden Schwachen markierten. Wenn das gemeinsame Ziel, das formuliert wird, der Schutz der pluralen Demokratie ist und nicht der paternalistische Schutz «des Migranten», dann ist dies das Postmigrantische, das der Allianz den Kitt gibt, auch wenn es Menschen aus sehr vielen Bereichen mit sehr unterschiedlichen Positionen und Herkünften sind. Ob sich das nun dauerhaft stabilisiert, bleibt abzuwarten.

«Deutschland ist bunt» ist ja auch deutlich realitätsnäher als die Weltbilder von Pegida & Co, die etwas Anachronistisches an sich haben. Die Welt der Homogenität, die dort beschrieben wird, ist doch längst eine Fiktion...

Vorsicht, das sagt man so schnell. Wenn man die Statistik aber genauer anschaut, sehen wir: 95 Prozent aller Migranten und ihrer Nachkommen leben im Westen, 5 Prozent im Osten. Dort ist die Gesellschaft nicht so divers, wie wir Migrationsforscher*innen und Ihr Integrationsbeauftragten es immer behauptet haben. D.h. die Menschen dort sind konfrontiert mit einer Deutschlanderzählung von uns Westdeutschen, die überhaupt nicht mit ihrer Alltagserfahrung übereinstimmt. In ihrem Alltag sind sie womöglich noch nie in ihrem Leben einem Migranten begegnet. Und dann erzählen wir, Deutschland ist bunt. Wir haben es mit unterschiedlichen, gleichzeitigen Realitäten zu tun, die wir zu wenig beachtet haben. Wir müssen in unsere Diversitätserzählung auch die homogenen Strukturen einbinden als Teil der Diversität, und nicht wie bisher – ein wenig überspitzt formuliert – als Subkultur.

Sie werben für ein postmigrantisches Leitbild. Warum? Wir haben die Verfassung. Warum reicht nicht der berühmte Habermas'sche «Verfassungspatriotismus»?

Wir sollten darüber nachdenken, ob wir nicht an einem Punkt sind, wo es darüber hinaus gehen muss. Wo wir eine Art gesellschaftlichen «Reload», eine Auffrischung des Verständnisses darüber brauchen, wer oder was wir als Gesellschaft sind. Bürger*in einer demokratischen Gesellschaft zu sein, heißt eben heute nicht nur die Verfassung zu akzeptieren, sondern auch, sie mit Leben zu erfüllen, wenn man merkt, dass zentrale Elemente demokratischen Verständnisses von Gleichheit unter Beschuss geraten.
 

Eine neue Orientierung

Solche Leitbilder, solche Narrative dienen zur Orientierung – auch um im Abgleich mit der Wirklichkeit, Defizite in der gesellschaftlichen Ordnung zu adressieren und sich als Gesellschaft daran abzuarbeiten. Nehmen wir das Narrativ «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Das hat nie die Realität abgebildet, ist aber eine prospektive, nach vorne weisende Messlatte.

Aber «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» ist nicht zu denken ohne die Französische Revolution. Kann man ein Leitbild einfach so verabschieden?

Das kanadische Leitbild «Unity in Diversity» ist auch auf dem Verwaltungsweg entstanden und hat neben der symbolischen Wirkung viele gesetzliche Konsequenzen nach sich gezogen und prägt heute die kanadische Gesellschaft. Wir haben in Deutschland auch Erfahrung mit Leitbildern. «Deutschland ist kein Einwanderungsland» war nicht verfassungsmäßig verankert, hatte aber erhebliche Auswirkungen auf die Gesetzgebung und gesellschaftliches Handeln. Und als es hieß, «Deutschland ist ein Einwanderungsland», folgte die Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechtes, das Zuwanderungsgesetz, das Anerkennungsgesetz und so fort.

Was wäre die Überschrift über dieses neue Leitbild?

«Deutschland, postmigrantisch» selbstverständlich (lacht). Um das auszufüllen, finde ich viele Anknüpfungspunkte in der deutschen Ideengeschichte. Solidarität ist dort z.B. stark verankert, das Wort subsumiert Anerkennung, Chancengleichheit, Teilhabe und Gleichwertigkeit. Das sind Ziele, die nicht abstrakt bleiben müssen, die man operationalisieren kann, wo man fragen kann, was muss geschehen, dass diese Prämissen für alle gelten. «Teilhabe» ist ein sehr funktionales Ziel, da kann man Gesetze schaffen. Eine Klärung des Leitbildes weckt auch Bereitschaft, aktiv zu werden und mitzumachen. Diese Auffrischung unseres Selbstbildes können wir doch alle gebrauchen.

Wie nehmen es Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer eigentlich auf, wenn Sie in Vorträgen ein «Integrationsprogramm auch für Nicht-Einwanderer*innen» fordern?

Halt, ich fordere es für alle, nicht für einzelne Gruppen. Das ist keine leere Provokation. Wir haben ja ein Integrationsgesetz – eigentlich formuliert für Geflüchtete und Neuzuwanderer – de facto aber adressiert an ca. 20 Prozent dieser Gesellschaft mit Migrationshintergrund. Wieso wundern wir uns, wenn es das für 100 Prozent geben soll? Die Aufforderung ist: Hört auf, Teilanforderungen zu stellen, weitet den Blick auf die gesamte Gesellschaft aus, denkt postmigrantisch, arbeitet Euch nicht an einer Kategorie ab, die Ihr kontinuierlich als anders markiert, weil Ihr denkt, sie seien Migranten, auch wenn sie seit drei Generationen hier leben, wenn Ihr eigentlich das neue Deutschland finden wollt.
 

Stereotype kann man abbauen

Was soll ich da lernen?

Die Analyse von Desintegrationsprozessen zeigt, dass – egal ob du rechtsextrem wirst oder Salafist – die zugrundeliegenden Dynamiken ähnlich sind. Es reicht nicht, Diversität und Pluralität zu haben, man muss lernen, damit umzugehen, das Überschreiten etablierter Grenzen, auch wenn es verunsichert, als Dynamik moderner Gesellschaften auszuhalten, ambiguitätstoleranter, wie es so schön heißt, zu werden, ohne naiv zu sein und Konfliktpotential zu übersehen. Das ist schwer. Mit Pluralität umgehen zu können ist keine Selbstverständlichkeit. Bei vielen pegelt es sich durch die Alltagskontakte ein, bei vielen – vor allem bei denen, die diese Erfahrungen nicht machen – aber auch nicht. Also muss man das beibringen, so wie wir in Deutschland es durch das große Reeducation-Programm der Alliierten beigebracht bekommen haben, nicht mehr so antisemitisch zu sein wie vor dem 8. Mai 1945.

Wir brauchen ein Antirassismusprogramm, kombiniert mit einem «Ambiguitätstoleranz- und Demokratie-Fach», um zu lernen, mit geschlechtlicher, sozialer, kultureller, ethnischer, religiöser und nationaler Pluralität umzugehen – für Alle! Für die gesamte postmigrantische Gesellschaft sind Migranten nicht per se, weil sie Rassismuserfahrung machen, auch antirassistisch, genau wie Homosexuelle nicht automatisch minderheitenaffin sind. Das muss in Schulen ansetzen, in Verwaltungen, überall. Es gibt rassistisches Wissen, das man mit Fakten abarbeiten kann, auch wenn wir derzeit so viel vom postfaktischen Zeitalter sprechen. Stereotype kann man abbauen, es gibt Trainingsmethoden. Emotionalität und Nähe kann man anteilig erzeugen, dazu gibt es genug Erkenntnis. Natürlich erreicht man nicht Alle. Aber man kann sich ja als Ziel setzen, möglichst Viele zu erreichen. Und wenn das Schulfach nicht so heißen darf, dann nennen wir es eben «Gesellschaft im 21. Jahrhundert». Ich glaube fest, dass man vieles erlernen kann, nicht nur kognitiv, sondern auch emotional.

Überschätzen Sie da nicht Bildungsprozesse und unterschätzen sozio-ökonomische Entwicklungen? Marginalisierungsprozesse, Aushöhlung demokratischer Institutionen durch Globalisierung und die Politik des Neoliberalismus?

Wenn ich kurz zum Leitbild zurückkehren darf: Das ist ja nicht als reines Symbol gedacht, sondern schon als eine Richtschnur für die Politik. Der Begriff der «Einwanderungsgesellschaft» etwa ist eng verknüpft mit dem Versprechen von Akzeptanz und Gleichheit – endlich auch für die Einwander*innen.
 

Gleichheitsversprechen nicht eingelöst

Die demokratischen Gesellschaften lösen dieses Gleichheitsversprechen für alle aber längst nicht ein. Da ist es dann zunächst verlockend zu sagen: Dieses Gleichheitsversprechen, das der Gesellschaft durch die Verfassung gegeben wurde, ist nicht etwa in Gefahr wegen systemischer Fehler in unserer Politik, die strukturelle Ungleichheitsprozesse befördert hat, sondern wegen der Migrant*innen, wegen der offenen Grenzen, weil die jetzt auch alle was vom Kuchen wollen.

Ich behaupte ja nicht, dass ich diese Erfahrung von wachsender Ungleichheit mit Reden aus der Welt schaffen kann, sondern die Politik muss das Versprechen der Gleichheit, das die plurale Demokratie gibt, einlösen oder zumindest deutlich machen, dass sie gegen Ungleichheit antritt, was im Zuge der Neoliberalisierungspolitik des letzten Jahrzehnts nicht wirklich glaubhaft zu vermitteln ist. Es scheint sich aber auch hier etwas zu ändern.

Wir müssen die Idee stark machen, dass Integration eine Gesellschaft als Ganzes betrifft, gegenüber allen, die abgehängt sind, egal ob herkunftsdeutsch oder nicht. Das wird verstanden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sehr viel besser funktioniert, mit dem Wort «Desintegration» zu arbeiten, als zum 1000. Mal zu erläutern, wie wichtig Integration ist und wie toll Pluralität, und dass Deutschland schon immer plural war. Wenn man Desintegration als Problem adressiert, kommt man automatisch auf die Abgehängten auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich, auf abgehängte Regionen und verlässt diese ethnische oder herkunftsbedingte Verengung und schafft neue Anknüpfungsmöglichkeiten.

Abschließend: Warum ist Migration für die Rechte fast immer ein Gewinnerthema und für die Linke fast immer ein Verliererthema?

In den letzten Jahrzehnten haben in der Tat europaweit Parteien fast immer Stimmen gewonnen, wenn sie das Migrationsthema negativ besetzten. Es gibt nur wenig Ausnahmen, Roland Koch zum Beispiel, als er versuchte, seine Anti-Staatsbürgerschafts-Kampagne zum zweiten Mal zu fahren ...

... und in NRW Jürgen Rüttgers mit seiner «Kinder statt Inder»-Kampagne, was haben wir uns da gefreut, als er damit vor die Wand fuhr ...

… aber das sind Ausnahmen. Es gibt offenbar diese leicht abrufbare Aversion, dieses tief liegende rassistische Wissen, das eingehegt wurde durch die Institutionen der Demokratie. Eine derzeit manifeste Kritik an Linksliberalen lautet ja, sie seien moralisierend und politisch korrekt, das empfinde man als Bevormundung. Aber diese Kritik, die von vielen benickt wird, überdeckt, dass es ja genau eine Grundfunktion der Demokratie ist, diese Einhegung, diese institutionelle Kontrolle von Affekten. Eine große Errungenschaft ist die Übergabe des Machtmonopols an den Staat, um Affektkontrolle herzustellen. Diese Einhegung bröckelt. Man schaue nur in die USA – Trump ist ein wandelnder Affekt.
 

Freiheitsversprechen und Ich-Verabsolutierung

Das Freiheits-Versprechen der Demokratie kann eben auch enden in einer Ich-Verabsolutierung: «Ich kann machen, was ich will.» Für das Gefühl von Gemeinschaft ist das kontraproduktiv. Vielleicht ist es ein Problem, dass wir in den letzten Jahrzehnten den Begriff der Gemeinschaft so abgewertet haben, irgendwie war das Wort ziemlich altmodisch, etwas, was man asiatischen, orientalischen etc. Gesellschaften zugeschoben hat, die alles kommunitaristisch – also in Gemeinschaft und Clans – denken und Individualismus und freie Persönlichkeitsentfaltung nicht kennen würden. Modern waren hingegen hyperindividualisierte Strukturen. Gesellschaft ist aber nicht nur eine Ansammlung von Individuen, die sich nur punktuell verstehen.

Aber die Menschen, die heute auf die Straße gehen, neue Allianzen bilden, brechen mit diesen Individualisierungen. Das Potenzial hat allerdings leider auch Pegida mobilisiert. Aber im Moment erkennen wir auch eine reaktive Politisierung der Demokraten. Kürzlich las ich den schönen Vergleich, dass erstmals seit langem die Leute nicht mehr nur auf die Straße gehen, um sich beim Marathon einer Selbstoptimierung hinzugeben, sondern um für demokratische Werte zu demonstrieren. Das ist doch eine schöne postmigrantische Entwicklung.


Naika Foroutan ist stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Im Juni 2015 wurde sie zur Professorin für «Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik» durch die Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die postmigrantische Theoriebildung mit dem Ziel, einen Erkenntnistransfer in Politik, Zivilgesellschaft und Medien zu leisten. 
 

Zur Interviewreihe
 


*Shermin Langhoff ist Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Berlin. Sie prägte den Begriff des postmigrantischen Theaters, der seitdem zu einer Konstante in den kulturellen und gesellschaftlichen Debatten um das Einwanderungsland Deutschland wurde. Das Gorki-Theater versteht sich als Bühne für eine zeitgenössische heterogene Stadtgesellschaft mit ausgeprägtem politischem Profil.