Publikation Parteien / Wahlanalysen - Staat / Demokratie - International / Transnational Ergebnis übersichtlich, Perspektive unklar

Kleine tschechische Wahlnachlese. Text der Woche 27/06 von Holger Politt und Stanislav Holubec.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

Juli 2006

Die diesjährigen Parlamentswahlen in Tschechien lassen im Ergebnis an Übersichtlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zu genau der Hälfte teilen sich jene Kräfte die Parlamentssitze, die in der Interpretation des nachstehenden Satzes auf zwei gegensätzlichen Seiten stehen müssten: „Die Wohltat, dass der Markt nicht nach Geburt fragt, hat der Tauschende damit bezahlt, dass er seine von Geburt verliehenen Möglichkeiten von der Produktion der Waren, die man auf dem Markte kaufen kann, modellieren lässt“ (Adorno/Horkheimer). Während die einen den augenblicklichen Zustand in Tschechien als überreguliert und nachträglich egalisierend empfanden, betonten die anderen, dass es diesen Zustand entweder zu verteidigen oder gar auszubauen gelte. Da die bisher regierenden Sozialdemokraten (ČSSD) entlang dieser Linie mit den Kommunisten (KSČM) in einem Boot sich befanden, ohne dass in beiden Parteien klare Vorstellungen über den Weg der weiteren Zusammenarbeit mehrheitsfähig gewesen wären, überraschte es nicht, dass auf der anderen Seite von Anfang an ein dümmlicher Antikommunismus immer dann helfen musste, wenn Argumente ausgingen. Der Einsatz für ein lineares Steuerkonzept wurde da schon zur Schicksalsfrage der bürgerlichen Gesellschaft stilisiert. Mit diesem Steuerkonzept führte die bürgerliche ODS den Block der Herausforderer an, in dem neben Christdemokraten (KDU-ČSL) auch die Grünen sich befanden. Mit Hilfe der antikommunistischen Krücke schluckten sie letztlich die ihnen zugemuteten neoliberalen Kröten.

Im Parlament kam ein Patt zwischen den Lagern heraus, so dass noch immer unklar ist, welche Regierung den Auftrag für die kommenden Jahre tatsächlich bekommen wird. Der aus ODS, KDU-ČSL und Grünen formierte Koalitionsregierung fehlt genau die eine entscheidende Stimme, um ins Rennen gehen zu könne. Neuwahlen oder eine große Koalition zwischen ODS und ČSSD können nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Doch sei es drum - der Blick auf das Wahlergebnis lohnt allemal.

Eine deutliche Mehrheit hätte es gegeben, wenn nur die bis zu 45-jährigen zur Wahlurne gerufen worden wären: Sie haben sich mit 56% zu 36% deutlich für die auf „mehr Eigenverantwortung des Bürgers“ setzenden Parteien entschieden. Hier überwiegen die Überzeugungen, dass ein möglichst freies Spiel der Kräfte das beste Rezept für die eigene und damit des Landes Zukunft sei. Steuerbelastungen aus Umverteilungsgründen (etwa für kostenlose Bildung, für ein sozial verstandenes Gesundheitswesen usw.) gehörten auf den Prüfstand, da Sozialstaat insgesamt im Rufe steht, den ohnehin Tüchtigen und den sogenannten Leistungsträgern der Gesellschaft zusätzliche Fesseln anzulegen um letztlich unproduktive, konsumorientierte Ausgaben zu tätigen. In Prag übrigens, dass für viele überzeugte Anhänger einer strikter neoliberalen gesellschaftlichen Ausrichtung ein Modellfall für die zukünftige moderne Dienstleistungsgesellschaft in Tschechien geworden ist, sind die Mehrheitsverhältnisse ebenso klar (62% zu 31%). Auch Studenten (65% zu 27%) und Erstwähler (59% zu 30%) stellten sozialstaatliche Angebote von Sozialdemokraten und Kommunisten deutlich zurück.

Anders entschieden die über 45-jährigen, also jene, die 1989/90 zumindest an der Schwelle des beruflichen Lebens sich befanden. Mit 54% zu 40% gab es eine deutliche Mehrheit für die Angebote auf der linken Seite. Bei Rentnern kam sogar eine Mehrheit von 61% zu 34% heraus. Hier fruchteten die im Wahlkampf erzeugten Ängste, Verteidigung oder gar Stärkung sozialstaatlicher Prinzipien mit Hilfe der Kommunisten bedeutete unweigerlich eine schleichende Rückkehr dieser an die Machthebel, nicht.

Für die Kommunisten der KSČM könnte das Wahlergebnis aber richtungsweisend sein. Deutlich über dem durchschnittlichen Ergebnis von knapp unter 13% liegt die Partei bei der Altersgruppe der über 45-jährigen (19%) und bei den Rentnern (23,4%). Deutlich schwächer aber schnitt sie bei den Studenten (3,9%), bei den Erstwählern (7,1%), bei den unter 45-jährigen (7,1%) und in Prag (7,9%) ab. Die Grünen (insgesamt 6,2%) kamen in allen diesen Wählergruppen vor der KSČM ein: Bei den unter 45-jährigen erreichten sie 9%, bei den Studenten 16,3%, bei den Erstwählern 16,2% und in der Hauptstadt 9,1%.

Die Grünen, die erstmals antraten und die als erste grüne Gruppierung in einem der neuen Mitgliedsländer der EU den Sprung in das Parlament schaffte, werden eher durch die vorherrschende neoliberale Stimmungslage in den Zielgruppen, in denen sie das Gros ihrer Stimmen holten, gezogen, als dass sie diesen umgekehrt einen erkennbaren alternativen Stempel aufdrücken würden. Auch deshalb ist die beabsichtigte Koalition mit ODS und KDU-ČSL um ein strikt neoliberales Programm herum keine Überraschung. Ohne Not also werden sie durch die meisten politischen Beobachter dem neoliberalen Lager zugeordnet.


Stimmenzahl in Prozent nach einzelnen Parteien und nach ausgewählten Kriterien

ODSCSSD KSCMKDU-CSLGrüne
insgesamt  353212,87,26,2
bis 45 Jahre40,629,37,16,69
über 45 Jahre29,5 35,7197,83,3
Rentner23,9 37,7 23,4 8,4 2,5
Erstwähler38,4 22,6 7,1 5 16,2

Studenten

41,4 23,6 3,9 6,8 16,3

mit Abitur

40,8 29.3 9,6 7,1 7,1

ohne Abitur

24,938 18,9 7,4 4,6

Arbeitnehmer

31,7 36,4 12 7,1 6,3

Prag

48 23 7,94,8 9,1

Stadt

38,6 31,9 11,7 5,4 7,3

Land

29,8 32,515,1 10,4 4,7

Frauen

35,5 31,9 11,7 8 6,5

Männer

35 32,8 14 6,46