UTOPIE kreativ, H. 117
(Juli 2000)
S. 681-692
I.
Wie kaum ein utopischer Roman der Weltliteratur ist George Orwells 1984 mit unterschiedlichen Akzentsetzungen gedeutet worden.1 Viele Interpreten haben ihn schlicht als den Vorgriff auf eine Zukunft gelesen, der wir nicht entrinnen können. Andere ordneten ihn in die von Swift begründete Tradition der Satire ein, die durch ihre radikale Kritik gegenwärtiger Fehlentwicklungen die Zeitgenossen davor warnen will, daß deren aktuelle Bedrohung durch die Schrecken der Zukunft noch überboten werden könnten, falls sie in Untätigkeit verharren. Geradezu schulemachend waren die Interpretationen, die in 1984 eine Anatomie des nationalsozialistischen und bolschewistischen Herrschaftssystems erblicken, und zwar als Modelle einer möglichen totalitären Zukunft der Menschheit. Auch hat es nicht an Versuchen gefehlt, 1984 zu historisieren oder zu personalisieren: sei es, daß dieser Roman als eine Satire auf das England des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit gedeutet wurde; sei es , daß man ihn als Ausfluß der frustrierenden Kindheit und Jugend seines Autors las. Nicht verschwiegen werden sollten aber auch jene Ansätze, die den Kern von 1984 in der metaphysischen Verzweiflung am Wesen der Macht sehen.
Aber nicht nur das »Verstehen« dieses Romans ist kontrovers; auch die bald nach seinem Erscheinen einsetzenden Versuche, ihn während der Zeit des Kalten Krieges für den politischen Zweck der Schaffung und Steuerung von Feind-Bildern zu instrumentalisieren, werfen Probleme auf. »Während Kritiker aus dem rechten Lager der in eine Anti-Utopie gekleideten Warnung vor den möglichen politischen Entwicklungen in der gesamten Welt literarische Treffsicherheit bescheinigten und den ›Wahrheitsgehalt‹ dieses Werkes hervorhoben, stellten linke Kritiker die intellektuelle wie literarische Leistung Orwells in Frage und versuchten das Gewicht seiner Aussagen zur Politik abzuschwächen, indem sie darauf hinwiesen, daß Orwell bereits ein todkranker Mann gewesen sei, als er dieses Buch schrieb. Das Buch ist in einer solchen Sicht dann nicht mehr als der Ausdruck einer sehr begrenzten privaten Erfahrung, das Dokument des psycho-physischen Zustandes des Autors in der Entstehungszeit des Werkes«.2
Gegen die konservative Vereinnahmung von 1984 spricht, daß sich Orwell von 1936 bis zu seinem Tod zum demokratischen Sozialismus bekannte: »Jede ernsthafte Zeile, die ich seit 1936 zu Papier brachte, ist, direkt oder indirekt, gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus geschrieben worden«.3 Ausdrücklich verwahrte er sich in einem Brief an einen amerikanischen Gewerkschafter gegen alle Tendenzen, 1984 als politische Waffe gegen den Sozialismus zu mißbrauchen.4 Vor allem aber übersieht eine einseitig antisozialistische Interpretation dieses Romans, daß er auch alle wesentlichen Momente der Kapitalismus-Kritik Orwells enthält: Sie reichen von »der atomistischen Existenz« der Individuen, der dichotomischen sozialen Schichtung des totalitären Systems und »der Passivität der Proles« bis hin zur »Zerstörung der Lebensqualität«, der »Triebunterdrückung« sowie der »Kulturindustrie«.5 Aber auch der Versuch linker Autoren, die in Orwells 1984 enthaltene Kritik an der stalinistischen Sowjetunion durch den Hinweis zu entschärfen, er habe von seiner eigenen Krankheit auf die der ganzen Welt geschlossen, stellt eine nicht zulässige Psychologisierung seines Werkes dar. Sie unterschlägt nicht nur die analytischen Qualitäten von »1984«, die sich durchaus auf der Höhe der zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Erforschung der totalitären Herrschaftsstrukturen seiner Epoche bewegte. Auch verkennt sie, daß 1984 gleichsam die Summe aller bis dahin geschriebenen Werke Orwells darstellt, in die – direkt oder indirekt – seine gesamten politischen Erfahrungen eingegangen sind.6
In der neueren Forschung steht außer Frage, daß das literarische Werk Orwells und seine biographisch vermittelten politischen Zielsetzungen eine Einheit darstellen: Ausdrücklich betonte er, daß unter den vier möglichen Gründen, Texte zu verfassen, nämlich 1. aus nacktem Egoismus (sheer egoism), 2. aus ästhetischer Begeisterung (aesthetic enthusiasm), 3. aus historischer Betroffenheit (historical impulse) und 4. zur Erreichung eines politischen Zwecks (political purpose), das zuletzt genannte Motiv für seine Schriftstellerei entscheidend sei. In einer friedlichen Epoche hätte er wahrscheinlich blumenreiche (ornate) oder nur beschreibende (descriptive) Bücher verfaßt, ohne sich seines politischen Standortes bewußt geworden zu sein. Aber in einer Epoche wie der Zwischenkriegszeit habe er sich zu einer Art Pamphletist (a sort of pamphleteer) entwickeln müssen.7 Doch welche persönlichen und politischen Erfahrung sind es8, die ihn zu einem politischen Schriftsteller werden ließen? George Orwell (Pseudonym für Eric Arthur Blair)9 »wird als zweites Kind von Richard Walmesley Blair (1857-1939) und Ida Mabel Blair (1875-1934) in Motihari, Bengalen, geboren. Der Vater arbeitet als Kolonialbeamter im Opium-Department des Indian Civil Service, das den legalen Opiumhandel mit China kontrolliert. Die Mutter entstammt einer anglo-französischen Teakholzhändlerfamilie«. 1904 kehrt er mit seiner Mutter und Schwester nach England zurück. Vier Jahre später wechselt er »von der örtlichen anglikanischen Convent-Schule auf die Prep(aratory) School St. Cyprian’s, nahe Eastbourne in Sussex«. In dem nach seinem Tode veröffentlichten Essaybuch Such were the Joys schildert er die für ihn deprimierenden Erfahrungen, unter denen er in dieser Schule litt. Im Frühjahr 1916 erhält er ein Stipendium für die Eliteschule in Eton. Unter anderem von einem Lehrer wie Aldous Huxley in Französisch unterrichtet, entwickelt er erste literarische Interessen. Doch sind seine schulischen Leistungen eher mäßig. 1921 schließt Blair seine Ausbildung in Eton ab. Er besteht im Sommer 1922 »die Examina des Indian Office und entscheidet sich für den burmesischen Polizeidienst«. Nach seiner Abschlußprüfung in der Polizeischule in Mandalay im November 1922 nimmt er seinen Dienst in Burma auf, den er 1927 – von den Kolonialmethoden der Briten angewidert – quittiert. Seine burmesischen Erfahrungen reflektiert er nicht nur im 8. und 9. Kapitel seines Buchs The Road to Wigan Pier, sondern auch in den Essays Shooting an Elephant und A Hanging. Den Winter 1927/28 verbringt er im Arbeiterviertel des Londoner East End. Im Frühjahr 1928 nimmt sich Orwell ein Zimmer im Fünften Arrondissement, einem Arbeiterviertel in Paris, und schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter und Tellerwäscher durch. Im Dezember 1929 völlig mittellos nach England zurückgekehrt, vagabundiert er durch Südengland und in den Arbeitervierteln Londons. Daneben ist er als Hilfslehrer, Buchhandelsgehilfe und Journalist tätig. Die Bilanz dieser Jahre zieht er in Down and Out in Paris and London. Das zweite größere Werk dieser Periode ist eine Untersuchung des Lebens der Bergarbeiter in England. Sie erscheint 1937 unter dem Titel The Road to Wigan Pier.
Einer der wichtigsten Abschnitte im politischen Leben Orwells beginnt, als er Mitte Dezember 1936 nach Spanien reist, um die Republikaner im Kampf gegen Francos Truppen und ihre Verbündeten zu unterstützen. »Er tritt in Barcelona in die Miliz der P.O.U.M. (Partido Obrero de la Unificaciòn Marxista) ein, einer Partei, die mit der englischen I.L.P. (Independent Labour Party) in engem Kontakt steht«. An der Aragonfront kämpfend, erlebt Orwell die Barrikaden-Kämpfe in Barcelona: Sie werden durch den Versuch des kommunistischen Polizeichefs ausgelöst, die von den Anarchisten kontrollierte Telefonzentrale zu besetzen. An die Aragon-Front zurückgekehrt, wird er durch einen Halsdurchschuß verletzt und zunächst im Lazarett von Taragona, dann im P.O.U.M.-Sanatorium am Rande Barcelonas behandelt. Nach dem Verbot der P.O.U.M. müssen Orwell und seine Frau Eileen, die sich seit Februar 1937 in Barcelona aufhält, fliehen und Spanien verlassen. Über die totalitären Methoden, mit denen die moskauhörige spanische K.P. »Abweichler« und »Anarchisten« liquidierte, empört und entsetzt, faßte er 1938 in dem Buch Homage to Catalonia seine Erfahrungen des spanischen Bürgerkriegs zusammen. Seit 1939 wieder in England lebend, tritt Orwell als anerkannter Journalist, Schriftsteller und von 1942 bis 1943 als Mitarbeiter des BBC hervor, der unablässig für eine linke, aber antitotalitäre Position kämpft.
Bei Kriegsausbruch meldet er sich als Freiwilliger, wird aber wegen seines Gesundheitszustandes nicht akzeptiert. Ab November 1943 ist er Feuilleton-Chef bei der Zeitschrift »Tribune«. Zugleich beginnt er mit der Niederschrift von Animal Farm , die er 1944 abschließt. Im Frühherbst 1947 liegt die erste Fassung von 1984 vor. Obwohl sich aufgrund eines Tuberkulosebefalls der linken Lunge sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert, reist Orwell unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Sanatorium nach Jura ab, um die Arbeit an seinem Roman abzuschließen. Das Manu-skript erreicht im Dezember 1949 den Verlag. Orwell hat sich von diesem Kraftakt nicht mehr erholen können. Am 21. Januar 1950 stirbt er an einer Lungenentzündung.
Auch wenn Orwell darüber klagte, er habe wegen seiner Krankheit das Werk und das Thema von 1984 »ziemlich versiebt«10, kann dieses Werk als sein eigentliches literarisches und publizistisches »Testament« gelten, weil sich, wie schon hervorhoben, »von jedem seiner Werke (...) Verbindungslinien zu 1984 ziehen (lassen)«.11 Die Rahmenhandlung, in die Orwell die »Summe« seines politischen und schriftstellerischen Lebens integrierte, hat einen denkbar einfachen Zuschnitt. Der Roman geht von einem zukünftigen internationalen System aus, das in drei Superstaaten zerfällt, nämlich Ozeanien, Eurasien und Ostasien. Zwischen diesen Machtblöcken kommt es zwar permanent zu bewaffneten Konflikten. Sie sind jedoch nur begrenzter Art, da jede Supermacht im Besitz von Atomwaffen ist, die einen Krieg nicht mehr gewinnbar erscheinen lassen. Zu einer »rein innerpolitischen Angelegenheit« (203) geworden, legitimiert der Krieg den permanenten staatlichen Notstand, der zum Aufbau eines ausgeklügelten Disziplinierungs- und Unterdrückungsapparates genutzt wird, um die Individualität der einzelnen restlos zu zerstören. Am Beispiel des Geschicks des Funktionärs Winston Smith schildert Orwell das Scheitern einer individuellen Rebellion gegen ein System, das weder vor brutaler Feind-Propaganda, psychischer und physischer Folter, systematischer »Sprachreinigung« sowie permanenter Geschichtsfälschung noch vor der ununterbrochenen Überwachung der Privatsphäre der einzelnen durch verdeckte Fernsehkameras zurückschreckt. Winston Smith’ Rebellion wird bald aufgedeckt, »er gerät in die Mühlen des Parteiapparates, der eine individuelle Intimsphäre ebensowenig duldet wie persönliche Bindungen. Mit Julia, seiner Geliebten, flüchtet er sich in die Nischen, die er unüberwacht wähnt. Er genießt Augenblicke des Glücks, und der Geschlechtsakt ist ihm und Julia Ausdruck ihres Aufbegehrens gegen die verhaßte Partei. Sie werden entdeckt, getrennt und einer psychischen Folter unterworfen, die Winston seelisch zerbricht, so daß er seine Geliebte verrät. Er wird ›gereinigt‹ in den totalitären Alltag entlassen«.12
Wie bereits eingangs gezeigt, läßt ein Roman wie Orwells 1984 selbstverständlich viele Lesarten zu. Vielleicht sind gerade die vielfältigen gemeinsamen Schnittmengen mit den unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und Erkenntnisinteressen der Interpreten bzw. der Leser, die dieser Text bietet, der Grund, warum 1984 sofort nach seinem Erscheinen ein Bestseller wurde und erheblich dazu beigetragen hat, daß »Orwells Bedeutung und Einfluß (...) nach seinem Tode ständig zugenommen« haben: eine Entwicklung, die unvermindert anhält.13 Doch gegenüber den genannten vorherrschenden Interpretationsvarianten ist eine Auslegung bisher kaum zum Zuge gekommen, die diesen Roman innerhalb der Tradition des klassischen utopischen Denkens als dessen Selbstkritik zu deuten versucht, ohne freilich von Orwells politischem Erfahrungshorizont der 30er und der 40er Jahre dieses Jahrhunderts absehen zu wollen. Eine solche Lesart bietet sich an, weil Orwell niemals Anti-Utopist in dem Sinne war, daß er das ganze Genre a priori als »totalitär« perhorreszierte. Vielmehr betonte er stets den konstruktiven Zusammenhang zwischen utopischem Denken und sozialer Reform.14 Aber auch die Strukturmerkmale und Topoi dieses Romans legen eine solche Deutung nahe. So machte Norbert Elias darauf aufmerksam, daß »das gute Land Utopia« des Thomas Morus »schon ein wenig an George Orwells 1984 erinnert«.15 Diese Hypothese wirft zwei Fragen auf, denen ich mich im folgenden zuwenden möchte: 1. Läßt sich nachweisen, daß Orwells »1984» tatsächlich einem Muster folgt, welches sein Vorbild in den archistischen, d.h. herrschaftsbezogenen Utopien vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat, wenngleich jetzt in seiner konkreten Ausgestaltung radikal negativ gewendet? 2. Ist das negative Szenario des Jahres 1984 eine Absage an die säkularisierte Vernunft und damit an das utopische Denken schlechthin?
II.
Die Sozialkritik des utopischen Denkens seit Morus hatte die Aufgabe, die Fehlentwicklungen zu benennen, von denen der utopische Entwurf befreien sollte. Die sozialen Mechanismen, die das gesellschaftliche Elend bzw. die Enthumanisierung von Millionen entwurzelter Existenzen bewirkte, wurden als reale Tendenzen der europäischen Gesellschaften dargestellt: Auf der Folie feudaler und kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse und der sie absichernden absolutistischen bzw. bürgerlichen Staatsapparate gewannen die Fiktionen einer besseren Alternative recht eigentlich erst ihre Verbindlichkeit und Überzeugungskraft. Das Neue an der Zeitdiagnose Orwells in 1984 besteht nicht darin, daß die Topoi antikapitalistischer Zeitkritik fehlen (vgl. 76): Wenn auch in vergröberter und plakativer Form, charakterisieren sie das Ancien Régime und fügen sich zwanglos in das Muster der utopischen Zeitdiagnose seit Morus ein. Originalität erlangt die utopische Zeitkritik in Orwells 1984 erst dadurch, daß ihr Wirklichkeitsgehalt in Frage gestellt wird: Der Held des Romans, Winston Smith, mißtraut dieser Deutung der kapitalistischen Vergangenheit. Ohne sie zu glorifizieren, hat er den Verdacht, daß die Realitäten der vorrevolutionären Epoche trotz all ihrer sozialen Mängel menschlicher waren als die Gegenwart des totalitären Staates, in dem er lebt (78). Man geht sicherlich nicht fehl in der Annahme, daß in Orwells utopischem Muster der Gegenstand der Sozialkritik ausgewechselt wird: An die Stelle der Defizite der Herkunftsgesellschaft treten die des utopischen Gemeinwesens selbst, und zwar in potenzierter Form.
Es ist nur konsequent, wenn Orwell mit der Erhebung der politischen und sozialen Zustände des utopischen Staates zum zentralen, wenn nicht ausschließlichen Gegenstand seiner Zeitkritik zugleich auch das utopische Ideal der klassischen Tradition in sein Gegenteil umschlagen läßt: Was einst als normativer Fluchtpunkt der Befreiung der Menschheit von Elend und Ausbeutung gedacht war, wird bei ihm zu ihrem Verhängnis, zum Signum der Auslöschung alles Humanen. Tatsächlich muß die Negativität der normativen Vorgaben des Staates von 1984 nicht erst durch ideologiekritische Interpretation sichtbar gemacht werden. Sie sind ihrem Anspruch nach »das genaue Gegenteil der blöden, auf Freude hinzielenden Utopien, die den alten Reformatoren vorschwebten. Eine Welt der Angst, des Verrats und der Qualen, eine Welt des Tretens und Getretenwerdens, eine Welt, die nicht weniger unerbittlich, sondern immer unerbittlicher werden wird, je weiter sie sich entwickelt. Fortschritt in unserer Welt bedeutet Fortschritt zu größerer Pein. Die alten Kulturen erhoben Anspruch darauf, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegründet zu sein. Die unsrige ist auf Haß gegründet. In unserer Welt wird es keine anderen Gefühle geben als Haß, Wut, Frohlocken und Selbstbeschämung (...). Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen«, läßt Orwell O’Brien, den Protagonisten des Staates von 1984, sagen, »dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder« (272).
So gesehen, verändern sich zentrale Elemente des Ideals der klassischen Utopietradition in Orwells 1984 grundlegend. Zwar ist der Antiindividualismus schon immer ein Signum der etatistischen Sozialutopie seit Morus gewesen. Aber er hatte stets sein Korrektiv im Emanzipationsgedanken, der trotz der Priorität des »Gan-zen« auch dem einzelnen zu seinem Recht verhelfen wollte. Dieses Korrektiv gehört in Orwells Staat von 1984 definitiv der Vergangenheit an. Der im Dienst der Abschaffung des materiellen Elends und drückender Lebensverhältnisse stehende Antiindividualismus der älteren Utopietradition wird nun ersetzt durch die schlichte Negation des einzelnen und seines Eigenwertes: »Der einzelne besitzt nur insoweit Macht, als er aufhört, ein einzelner zu sein« (268). Vereinfacht ausgedrückt, ließe sich die These formulieren, daß in Orwells 1984 alle normativen Vorgaben der klassischen Utopie-tradition in dem Maße in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie ihr ursprünglicher Geltungsanspruch, nämlich die säkular gedachte Emanzipation der Menschheit von historisch überflüssig gewordenem sozialen Elend, aufgegeben wird.
Der pervertierte Staatszweck, der die allgemeine Unterdrückung als sein letztes Ziel propagiert, verändert auch die ursprüngliche Zielsetzung der utopischen Eigentumsverhältnisse. Die Abschaffung der privaten Disposition über Produktions- und Arbeitsmittel zugunsten des kommunistischen Gemeineigentums war eine zentrale, wenn auch nicht durchgängige Forderung der klassischen Utopietradition. Deren Absicht war klar: Es ging darum, durch die Beseitigung individueller Besitzprivilegien nicht nur eine möglichst egalitäre Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu ermöglichen, sondern auch Produktionsschranken beiseite zu räumen, die angeblich einer optimalen industriell-technischen Entwicklung im Wege standen. Demgegenüber verfolgt die Abschaffung des Privateigentums in Orwells 1984 das genaue Gegenteil: Sie dient ausschließlich der Befestigung der sozialen Ungleichheit im Interesse des absoluten Machtanspruchs einer winzigen Parteioligarchie. Tatsächlich läuft bei Orwell die Zerschlagung des Kapitalismus auf eine »Konzentration des Besitzes in weit weniger Händen als zuvor« hinaus; »aber mit dem Unterschied, daß die neuen Besitzer eine Gruppe waren, statt eine Anzahl von Einzelmenschen. Als einzelnem gehört keinem Parteimitglied etwas, außer seiner unbedeutenden persönlichen Habe. Kollektiv gehört (…) der Partei alles, da sie alles kontrolliert und über die Erzeugnisse nach Gutdünken verfügt« (210). Diese Form der Eigentumsverhältnisse resultierte aus der Einsicht, »daß die einzig sichere Grundlage einer Oligarchie im Kollektivismus besteht. Wohlstand und Vorrechte werden am leichtesten verteidigt, wenn sie im Gemeinbesitz sind« (ebd.).
Welche Rolle spielen nun die drei Eckpfeiler der klassischen utopischen Wirtschaftssysteme, nämlich die Arbeit, Technik und Wissenschaft sowie die Struktur der zu befriedigenden materiellen Bedürfnisse in Orwells »schwarzer« Utopie des Jahres 1984?
1. Wie in den meisten klassischen Sozialutopien kommt es in Orwells 1984 zu einer vollständigen Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitsressourcen. Dennoch ist ein entscheidender Unterschied nicht zu übersehen. Seit Morus war die allgemeine Arbeitspflicht stets mit einer Reduktion der Arbeitszeit verbunden, um Freiräume für kreative Beschäftigungen zu ermöglichen. Dieser Zusammenhang zwischen Arbeit und Muße wird in Orwells 1984 brutal zerrissen: Sowohl die Elite der Partei als auch die »Proles«, d.h. die große Masse der arbeitenden Bevölkerung, unterliegen dem Arbeitsdiktat bis zur physischen und psychischen Erschöpfung, ohne jemals die Aussicht zu haben, jene Fähigkeiten zu kultivieren, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der materiellen Reproduktion des Zwangssystems stehen. Gleichwohl ist ein Qualitätsunterschied der Arbeit entlang den Kastenschranken nicht zu übersehen; die Elite der Funktionäre ist – wie in der klassischen Utopietradition – von körperlicher Arbeit entlastet. Demgegenüber wird die gesamte physische Arbeit den »Proles« (75) aufgebürdet. Sie haben die Stellung der Sklaven in Morus »Utopia« inne. Außerdem steht etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Erde den drei Superstaaten zur Verfügung, die ebenfalls als Arbeitssklaven in den Besitz des jeweiligen Eroberers übergehen (191). Zu Recht wurde darauf hingewiesen, daß in Orwells 1984 die »produktive Arbeit wieder zu dem Sklavenwerk geworden (ist), das sie in der Spätantike, also vor dem abendländischen Zivilisationsprozeß, im breiteren Verstand gewesen ist«.16
2. In den klassischen Sozialutopien hatten die Naturwissenschaft und ihre Anwendung als Technik eine klar umrissene Funktion. Sie bestand in der Erwartung, daß mit der Entfaltung der wissenschaftlich-technischen Potentiale Hunger, Überstunden, Schmutz, Elend, Unbildung und Krankheit definitiv überwunden werden. In Orwells 1984 wächst in dem Maße Wissenschaft und Technik eine von der utopischen Tradition abweichende Funktion zu, wie sie zum direkten Herrschaftsinstrument einer kleinen selbsternannten Elite erhoben wird. Diese Umorientierung läßt sich an der Art der Wissenschaftsförderung ablesen. Nachdem alle drei Supermächte über ein Atomwaffenpotential verfügen, das einen Krieg nicht mehr gewinnbar erscheinen läßt, besteht die einzig relevante Aufgabe für Naturwissenschaft und Technik darin, die Gedanken eines anderen Menschen zu entdecken, ohne daß er sich dagegen wehren kann (197). Im Gegensatz zu den militärischen Forschungen ist dieses Ziel von entscheidender Bedeutung: »Nichts … ist leistungsfähig außer der Gedankenpolizei« (202), heißt es. Der gefragte Wissenschaftler ist dann auch »eine Mischung von Psychologe und In- quisitor, der mit ungewöhnlicher Sorgfältigkeit die Bedeutung von Gesichtsausdrücken, Gebärden und Stimmungsschwankungen studiert und die zu wahrheitsgemäßen Aussagen zwingenden Wirkungen von Drogen, Schocktherapie, Hypnose und körperlicher Folterung erprobt. Oder er ist ein Chemiker, Physiker oder Biologe, der sich nur mit solchen Fragen seines Spezialfachs beschäftigt, die auf die Vernichtung des Lebens Bezug haben« (197).
3. Den durch die Industrialisierung bewirkten beispiellosen gesellschaftlichen Reichtum vor Augen, ließen die großen Utopisten des 19. Jahrhunderts das tradierte Luxusverbot fallen. Wie Orwell selbst schreibt, war ihr Signum die »Vision einer zukünftigen unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und tüchtigen Gesellschaftsordnung – einer schimmernden antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweißem Beton« (192). Im Gegensatz zu Herbert George Wells17 und Aldous Huxley18, der diese Tradition gleichsam bis zum zynischen Exzeß zu Ende denkt, kehrt Orwell zur Sozialaskese der frühneuzeitlichen Utopie zurück, freilich mit einem charakteristischen Unterschied: War vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der materielle Mangel eine Rahmenbedingung der Sozialutopie, die dem Stand der noch in den Anfängen befindlichen Naturbeherrschung entsprach, so wird er im Staat des Jahres 1984 künstlich herbeigeführt, um die bestehende Kastenstruktur zu befestigen. Die Einfrierung des Lebensstandards der Massen, hart am Existenzminimum, erfolgt durch die systematische Vernichtung der Überproduktion: So fallen im Zuge permanenter Kriegsvorbereitungen maschinelle Erzeugnisse der Vernichtung anheim, um zu verhindern, daß sich der allgemeine Lebensstandard hebt. Von der Führungsspitze der Partei einmal abgesehen, gelten diese Konsumschranken selbst für die mittleren und unteren Funktionärskader. Nahmen in den Sozialutopien des 19. Jahrhunderts die Menschen ihre ausgesuchten Mahlzeiten in luxuriösen Palästen ein, so speist der Held des Romans, Winston Smith, in einer schäbigen Kantine, deren Häßlichkeit nur noch von der elenden Qualität der dort angebotenen Nahrungs- und Genußmittel überboten wird (63).
III.
Ungeachtet seiner historischen Vorbilder in den modernen Totalitarismen, die Orwell freilich noch zu überbieten sucht, kann sein Aufbau des Staates von 1984 das Modell nicht leugnen, dem es nachgebildet ist: die etatistische Sozialutopie in der Nachfolge Platons und Morus’. Eine wichtige Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren dieser perfektionierten Superstaaten war die staatliche Organisation der Geschlechterbeziehungen: Erst wenn die Dynamik sexueller Energien in den Dienst des Staates gestellt war, glaubte er sich seines reibungslosen Funktionierens sicher zu sein. Ein ähnliches Muster ist in Orwells 1984 zu erkennen. Während die Sexualität der »Proles« unbeaufsichtigt bleibt (76), wird sie bei den Parteimitgliedern strikt diszipliniert. Als eine unauflösliche, vom Staat sanktionierte Bindung ist der einzige Zweck der Sexualität in der Ehe, »Kinder zum Dienst für die Partei zur Welt zu bringen« (69). Diese von der Partei propagierte Enthaltsamkeit hat einen doppelten Grund: Einerseits gilt der sexuelle Akt, lustvoll praktiziert, als Rebellion gegen das System. »Die Begierde war ein Gedankenverbrechen« (72). Andererseits gebot es der Machtwille der Partei, den Sexualtrieb im Interesse seines bedingungslosen Herrschaftsanspruches zu instrumentalisieren: »Hätte man sonst Furcht, Haß und fanatischen Glauben, wie sie die Partei bei ihren Mitgliedern voraussetzte, in der richtigen Weißglut erhalten können, wenn man nicht einen mächtigen Urtrieb auf Flaschen zog, um ihn als Treibstoff zu benutzen?« (137).
Auch die Konzeption eines »neuen Menschen« findet sich in Orwells 1984 wieder. In der klassischen Sozialutopie zeichnet er sich nicht nur durch hohe Intelligenz, eine allumfassend gebildete Persönlichkeit und ein langes Leben, sondern auch durch einen wohlgestalteten Körper aus. Alle diese Attribute sind in Orwells Staat von 1984 in ihr Gegenteil verkehrt. Der dominierende Menschentyp ist der im Sinne der Parteiräson reibungslos funktionierende Apparatschik, der gänzlich außerstande erscheint, die Parteidoktrin auch nur zu verstehen. Er schluckt einfach alles, so heißt es, »und das Geschluckte schadete ih(m) nichts weiter und ließ nichts zurück, genau wie ein Getreidekorn unverdaut durch den Magen eines Vogels hindurchgeht« (160). Zwar orientiert sich der »neue Mensch« am Ideal der großgewachsenen, muskulösen Männer und vollbusigen Mädchen, blond, lebensbejahend, sonnengebräunt und sorglos. In Wirklichkeit jedoch gedeiht unter der Herrschaft der Partei ein ganz anderer Typ: »kleine untersetzte Menschen, die schon in jungen Jahren korpulent werden, mit kurzen Beinen, raschen zappeligen Bewegungen und gedunsenen undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen« (64).
Das politische System im engeren Sinne trägt gleichfalls Züge, die sich mit dem Aufbau des Regierungsapparates vieler etatistischer Sozialutopien vergleichen lassen, allerdings modifiziert durch die Erfahrung moderner totalitärer Diktaturen. So haben die Ministerien der »Macht«, »Weisheit« und »Liebe« bei Campanella ihre Entsprechung in jenen Ministerien, die den Kern des Herrschaftssystems des Jahres 1984 bei Orwell bilden. Es handelt sich um das »Wahrheitsministerium, das sich mit dem Nachrichtenwesen, der Freizeitgestaltung, dem Erziehungswesen und den schönen Künsten befaßte, das Friedensministerium, das die Kriegsangelegenheiten behandelte, das Ministerium für Liebe, das Gesetz und Ordnung aufrechterhielt, und das Ministerium für Überfluß, das die Rationierungen bearbeitete« (8). Im Unterschied zu Morus’ Utopia und Campanellas Sonnenstaat freilich sind diese Ministerien Agenturen einer allmächtigen Staatspartei, an deren Spitze ein totalitärer Diktator steht, der unter dem Namen »Big Brother« firmiert. Er steht an der Spitze eines Gesellschaftsmodells, dessen Schichtung vor allem auf James Burnhams The Managerial Revolution (1941) zurückgeführt wird. Doch sollte diese Zuordnung nicht verdecken, daß Orwells totalitärer Staat auch einen anderen Vorläufer hat, der älter ist als Burnhams Konstrukt: Ich meine die Idealstaatskonzeption, wie Platon sie in der Politeia entwickelte.19
So wird in Orwells System des »oligarchischen Kollektivismus« die politische Macht von einer intellektuellen Elite kontrolliert, der etwa zwei Prozent der Bevölkerung zuzuordnen sind. Aus dieser »inneren Partei«, die Platons Philosophen nachgebildet ist, geht die Spitze des Systems in Gestalt des »Großen Bruders« hervor. Wie Platons Philosophenkönig ist er unfehlbar und allmächtig. Die Kaste der Wächter ähnelt der »äußeren Partei«. Etwa 17 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassend, fungiert sie als die »Hand« des Staates, welche die Befehle des »Gehirns«, also der »inneren Partei«, auszuüben hat: Ihre Tätigkeitsfelder sind definiert durch Gehirnwäsche, Umerziehung und Liquidation. Und schließlich korrespondiert die Masse der physisch arbeitenden Sklaven, Handwerker, Arbeiter und Bauern in Platons »Idealstaat« den sogenannten »Proles«, die 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen: In eine Existenz dumpfer Privatheit abgedrängt, spielen sie – wie bei Platon – als politischer Faktor keine Rolle. Diese Kastengesellschaft ist zwar im Prinzip ein statischer pyramidaler Monolith. Doch findet dann eine punktuelle Mobilität zwischen den Eliten und zwischen der herrschenden Kaste und den »Proles« statt, wenn es darum geht, »Versager« in Führungspositionen durch fähige Aufsteiger zu ersetzen (213). Bekanntlich sah auch Platon vor, daß z.B. intelligente Kinder der Handwerker und Bauern in die herrschende Kaste aufgenommen werden, während umgekehrt deren unfähige Nachkommen in der Sphäre der materiellen Reproduktion physische Arbeit verrichten müssen.
Allerdings darf eine wichtige Differenz zwischen Platons ständischem Kommunismus und dem in Orwells 1984 dominierendem Muster nicht übersehen werden: Alle Utopisten der klassischen Tradition, die sich von Platon inspirieren ließen, interpretierten dessen Modell der etatistischen Eliten funktional , d.h. die ihnen zugeordnete Macht war kein Selbstzweck, sondern hatte ihre Legitimation darin, daß sie zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen war. Die negative Wende des Eliten-Konzepts in Orwells 1984 resultiert dagegen aus der Tatsache, daß die sozio-politische Macht der herrschenden Kaste nur ein Ziel kennt: sich in ihrer privilegierten Stellung zu behaupten (205). »Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an«, verkündet O’Brien, der Protagonist des Staates von 1984. »Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche. (…) Der Zweck der Macht ist die Macht« (68).
Es ist klar, daß ein Machtwille, der sich aller normativen Korrektive entledigt hat, zu Mitteln greift, die sich deutlich von den Repressionstechniken der klassischen Utopietradition unterscheiden. Für sie stand außer Frage, daß die Zwangsmittel bei der Integra- tion der einzelnen in das Gemeinwesen nur »begleitend« einzusetzen seien. Der eigentliche gesellschaftliche Zusammenhalt sollte dadurch gestiftet werden, daß – je nach dem Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung – für eine optimale Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse gesorgt wird. Demgegenüber haben sich die Mittel der Macht in Orwells 1984 wie diese selbst verabsolutiert. In ihrer Gesamtheit konstituieren sie daher auch ein Überwachungs- und Repressionssystem, auf dessen Hintergrund sich die Sanktionsgewalt der utopischen Gesellschaftsmodelle der klassischen Tradition wie ein Vorspiel ausnimmt. Campanellas Nachrichtendienste und Ohrenbeichte ist dem »Televisor« (7,121) gewichen, der potentiell jeden Bürger überwacht. Das Wahrheitsmonopol der klassischen utopischen Eliten wird in Orwells 1984 durch das »Wirklichkeitsmonopol« der totalitären Partei ergänzt, das mit Hilfe einer neuen manipulierten Sprache, »Newspeak«, und der permanenten Verfälschung der Geschichte gemäß den aktuellen Zielen der Partei jedes kritische Denken im Ansatz verhindern soll (43). In der klassischen Utopietradition ist für den Fall eines Verstoßes gegen die Normen des idealen Gemeinwesens in der Regel Zwangsarbeit, in Ausnahmefällen die Todesstrafe vorgesehen. Orwell zeigt demgegenüber am Beispiel des Helden des Romans, Winston Smith, daß abweichendes Verhalten zunächst die »Gehirnwäsche« in Form physischer und psychischer Folter, dann die in eine vorbehaltlose Identifikation mit dem System einmündende »Umerziehung« nach sich zieht, bevor der »Delinquent« liquidiert wird. Diese Technik des »Vaporisierens« (45) hat nur ein Ziel: Sie soll potentielle Gegner des Systems verschwinden lassen, ohne aus ihnen Märtyrer zu machen (258f).
IV. Die hier angestellte Komparatistik hat gezeigt, daß fast alle Topoi der klassischen Sozialutopie von der Zeitkritik über die normativen Vorgaben des utopischen Gemeinwesens bis hin zu dessen ökonomischem und politischem System in Orwells »schwarzer« Utopie vorhanden sind. Allerdings ist eine entscheidende Neuerung erkennbar, die die ältere Utopietradition nicht kennt: das Fallenlassen des Emanzipationsgedankens, der der Dreh- und Angelpunkt der älteren Sozialutopie war. Die klassische Utopietradition verband die Formel, daß das Ganze Priorität vor dem einzelnen hat, mit der Erwartung, daß ihre Einlösung nichts anderes hervorbringen könne, als ein harmonisches Gemeinwesen ohne irrationale Herrschaft und soziales Elend. In Orwells 1984 treibt diese Formel einen gesellschaftlichen Zwangszusammenhang hervor, dessen ausdrückliches Ziel gerade nicht die »Versöhnung« des einzelnen mit dem Ganzen ist. Zwar gibt es in der Tat berechtigte Zweifel, ob die klassische Sozialutopie dieses »telos« jemals erreicht hat oder auch nur erreichen konnte. Zu sehr blieb sie, dem Denken Platons verhaftet, der vermeintlich höheren Dignität des »Allgemeinen« unterworfen. Gleichwohl war ihr Antiindividualismus nicht strukturell auf die Auslöschung des einzelnen, wohl aber auf seine Einbindung in das Kollektiv bezogen. Was sie bekämpfte, war jener schrankenlose Egoismus, der den Ausgleich der Partikularinteressen mit dem Allgemeinwohl per se obsolet erscheinen ließ.
Demgegenüber stellt sich dieses Verhältnis in der »schwarzen Utopie« Orwells ganz anders dar. Die Vorstellung eines Allgemeinwohls, das konsensfähig wäre, wird aufgegeben. An seine Stelle tritt der absolute Machtanspruch einer kleinen selbsternannten Elite, welche, die wissenschaftlich-technischen Mittel kontrollierend, nur ein Ziel hat: das bestehende System der Unterdrückung und Ausbeutung in einem »Post-Histoire« zu stabilisieren. Angesichts dieses Befundes ist die These formuliert worden, daß Orwell mit seiner »schwarzen« Utopie den Abgesang auf die emanzipatorische Vernunft der Aufklärung anstimmen wollte. Der Held des Romans, Winston Smith, sei gleichsam der »letzte Mensch«, der zwar seine Würde gegenüber den Zumutungen eines Totalitarismus ohne Alternative einzuklagen versuche, aber dessen Omnipotenz nicht gewachsen sei.20 Indem der Exponent der Aufklärung, der kritische Intellektuelle, in letzter Instanz der Macht innerlich zustimme und damit das totalitäre System legitimiere, kapituliere er vor der nackten Gewalt und gebe damit faktisch den Emanzipationsgedanken preis.21 Sicherlich steht außer Frage, daß Orwell die Zerstörung der Humanität der einzelnen Menschen für möglich hielt. Doch stellt er damit die Humanität als solche zur Disposition?
Es gibt Gründe zur Annahme, daß diese Frage zu verneinen ist. Zunächst erscheint bemerkenswert, daß sein Menschenbild, auf dessen Folie er die Depravation der menschlichen Existenz abbildet, kein relativistisches ist: Er sieht es, wie Fromm mit großem Recht betont, durch »wesensmäßig eigene Qualitäten« charakterisiert, nämlich »ein intensives Verlangen nach Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit und Solidarität«.22 Erst auf diesem Hintergrund wird plausibel, warum Orwell mit seiner Schreckensvision einer möglichen Gesellschaft der Zukunft im Leser Kräfte mobilisieren will, die sich gegen eine solche Fehlentwicklung auflehnen.23 Nicht zufällig ist in seinem Roman das, »was den Helden aus dem Gleis wirft, was ihn zuerst von seiner Umgebung trennt, was ihn die Eindimensionalität durchbrechen läßt«24, die Sexualität: Sie ist der einzig verbleibende Raum der emanzipatorischen Vernunft, die noch nicht auf ein bloßes Herrschaftskalkül reduziert worden ist. »Nicht nur die Liebe zu einem Menschen«, heißt es bei Orwell, »sondern der animalische Trieb, die einfache, blinde Begierde: Das war die Kraft, die die Partei in Stücke sprengen würde« (130). Da die negative Utopie eben aus diesem psychischen Zentrum, das sich der Kontrolle des Systems entzieht, seine utopieimmanente kritische und subversive Stoßkraft erlangt, wird nicht die Aufklärung als solche denunziert, sondern jene falsche Rationalität, die, ihr emanzipatorisches Erbe verleugnend, zu einer bloß instrumentellen Perfektion verkommen ist.25
Doch steht dieser Orwellschen Intention nicht seine Anatomie eines in sich homogenen totalitären Systems gegenüber, an dem alle Individualisierungsversuche, einschließlich die Hoffnung auf die umwälzende Kraft der »Proles«26, scheitern? In der Literatur ist zu wenig beachtet worden, daß dieser scheinbare Sieg des Systems ein bloßer Pyrrhus-Sieg sein könnte. Wie kann sich ein Regime auf Dauer stellen, wenn es per Dekret befiehlt, daß 4 + 4 = 5 ist? Wie ist ein Minimum an technischer Effizienz, ohne das ein moderner Unterdrückungsapparat nicht auskommt, aufrechtzuerhalten, wenn die Partei die Macht für sich beansprucht, selbst die Naturgesetze nach Belieben zu verändern? An der Gestalt O’Briens zeigt Orwell, daß eine Verwirklichung seiner »schwarzen« Utopie nichts anderes bedeutete als die Verwandlung der Menschheit in ein Konglomerat von Wahnsinnigen. So ist an O’Briens Gesicht, während er die Folterungen an Winston Smith vornimmt, »eine Art Verzückung, eine verrückte Überspanntheit« (258), eine »verrückte Begeisterung« (260) bzw. ein »undeutlicher, irrer Begeisterungsschein« (266) zu erkennen. Diese Hinweise deuten unübersehbar auf die Selbstdestruktion eines enthumanisierten Systems hin, das sich selbst jener Korrektive entledigt hat, die unverzichtbar für sein eigenes Überleben sind.
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Richard Saage – Jg.1941, Politikwissenschaftler, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Zitiert wurde nach folgender Edition: George Orwell: 1984. Mit Beiträgen von Iring Fetscher, Adolf Muschg, Erich Fromm und Heinz Ludwig Arnold. Ins Deutsche übertragen v. Kurt Wagenseil, Frankfurt am Main, Olten, Wien 1984. Die Belegstellen, durch arabische Ziffern in runden Klammern gekennzeichnet, befinden sich im Text. Die Zitate wurden mit dem englischen Original der folgenden Edition verglichen: George Orwell: Nineteen Eighty-Four, Harmondsworth u.a. 1984.
1 Ich beziehe mich im folgenden auf die Zusammenfassung der interpretatorischen Ansätze bei Krishan Kumar: Utopia and Anti- Utopia in Modern Times, Oxford and New York 1987, p. 288f; zur Rezeptionsgeschichte von »1984« vgl. auch Bernd Kahrmann: George Orwells Nineteen Eighty Four (1949), in: Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Klaus L. Berghahn und Hans Ulrich Seeber, 2. Auflage, Königstein/Ts. 1986, S. 233-249.
2 Willi Erzgräber: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur. Morus, Morris, Wells, Huxley, Orwell, 2. unveränderte Auflage, München 1985, S. 171f.
3 Zit. a.a.O., S. 171.
4 Vgl. hierzu Hans- Christoph Schröder: George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, München 1988, S. 244.
5 Vgl. a.a.O., S. 320.
6 Vgl. a.a.O., S. 242f.
7 Zit. n. Erzgräber: Utopie (Anm. 2), S. 171.
8 Zu Leben und Werk Orwells vgl. u.a. Bernard Crick: George Orwell. Ein Leben. Aus dem Englischen v. Friedrich Polakovics unter Mitwirkung von Harald Raykowski, Frankfurt am Main 1984; Schröder: Orwell (Anm. 4); Tom Hopkinson: George Orwell (1903-1950), in: British Writers, Vol. VII, New York 1984, S. 273-287; Orwell, George, in: The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 8, 1985, S. 1020f.
9 Alle direkten Zitate des folgenden biographischen Abrisses sind der »Zeit- tafel« bei Schröder: Orwell (Anm. 4), S. 388-392, entnommen. Sie werden im folgenden nicht eigens ausgewiesen.
10 Crick: Orwell (Anm. 8), S. 793.
11 Erzgräber: Utopie (Anm. 2), S. 170.
12 Alpers, Fuchs, Hahn, Jeschke, Lexikon der Science Fiction Literatur. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe in einem Band, München 1987, S. 768.
13 Crick: Orwell (Anm. 8), S. 14.
14 Vgl. Schröder: Orwell (Anm. 8), S. 14.
15 Norbert Elias: Thomas Morus’ Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie, in: Utopieforschung. Hrsg. v. Wilhelm Voßkamp, Bd. II, Frankfurt am Main 1985, S. 121.
16 Ferdinand Seibt: Utopie als Funktion abendländischen Denkens, in: Utopieforschung, Bd. I (Anm. 15), S. 269.
17 Vgl. Herbert George Wells: Men like Gods, London 1927.
18 Vgl. Aldous Huxley: Brave New World, London 1988.
19 Vgl. Dirk Otto: Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four. Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon, Berlin 1994.
20 Vgl. Schröder: Orwell (Anm. 4), S. 259.
21 Vgl. hierzu Adolf Muschg: Raum 101, in: Orwell. 1984, S. 334.
22 Erich Fromm: George Orwells ›1984‹, in: George Orwell: 1984, S. 339.
23 Vgl. Erzgräber: Utopie (Anm. 2), S. 184.
24 Zit. n. Hans Ulrich Seeber, Walter Bachem: Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der Anglistik, in: Utopieforschung, Bd. I (Anm. 15), S. 174.
25 Ebenda. 26 Vgl. Erzgräber: Utopie (Anm. 2), S. 176.