Publikation Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Osteuropa Im Schatten der deutschen Verbrechen

Anmerkungen zu einer heftigen Geschichtsdebatte in Polen

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Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Im Wahljahr 2015 versprachen Polens Nationalkonservative an vorderster Stelle, auf dem geschichtspolitischen Feld für Ordnung zu sorgen. Insbesondere Jarosław Kaczyński legte sich mächtig ins Zeug, meinte entschieden, Polens Geschichtspolitik müsse in der Auseinandersetzung mit der deutschen Erinnerungspolitik zumindest die gleiche Augenhöhe erreichen. Den Deutschen sei es nämlich gelungen, der Welt einzureden, die Verbrechen an den Juden hätten die Nationalsozialisten verübt, wohingegen deren Helfershelfer vor Ort dann Litauer, Letten, Esten, Ukrainer und eben auch Polen gewesen seien. Dem innenpolitischen Gegner wurde vorgeworfen, hier aus opportunistischen Gründen klein beigegeben und die Kröte geschluckt zu haben, weil das Verhältnis zum deutschen Nachbarn nicht betrübt oder belastet werden sollte. 

Ein immer wiederkehrender Stein des Anstoßes ist die Bezeichnung „polnische Vernichtungslager“, die häufig genug vor allem in englischsprachigen Zeitungen jenseits des Atlantiks herumspukte, wenn Vernichtungsorte wie Treblinka, Bełżec oder vor allem Auschwitz gemeint waren. Unbedacht wurde mit dem Adjektiv verkürzend die geographische Zuordnung herausgehoben, so als ob sich daraus für den Leser der Vernichtungsvorgang bereits deutlicher erklären würde. Es liegt auf der Hand, dass die Öffentlichkeit in Polen darauf sehr sensibel und ablehnend reagierte – immer wieder wurde versucht, die gemeinten Dinge hinterher ins richtige Licht stellen zu lassen. Doch die Interventionen von polnischer Seite glichen einer Sisyphusarbeit. Besonders allergisch reagierte die Öffentlichkeit in Polen natürlich, wenn so etwas gar in Deutschland  vorkam – wie zuletzt im Fernsehsender ZDF. 

Das ist die eine – die schnell erfassbare Seite. Doch Kaczyński spricht zugleich gerne von der „Pädagogik“ oder auch der „Politik der Schande“, die seit 1990 in Polen herrsche und die darauf hinauslaufe, den Polen ein schlechtes Gewissen einzureden, sobald sie auf die Zeit der deutschen Okkupation von 1939 bis 1945 zu sprechen kämen. Das ist allerdings etwas anderes als die eher achtlos hingepinselten „polnischen Vernichtungslager“ in der ausländischen Presse. Erst diese Dimension macht erklärlich, weshalb Kaczyński nach den nationalkonservativen Wahlerfolgen von 2015 einen Gesetzestext ausarbeiten ließ, der nun weltweit Schlagzeilen macht. Die Aufmerksamkeit, ja die Aufregung in der Welt hat dazu geführt, dass auch die innenpolitischen Wellen nun in Polen hochschlagen. Was hat den Anführer der Nationalkonservativen angetrieben, die „Pädagogik der Schande“ nun per Gesetz in die Schranken weisen zu wollen? 

Wird von außerhalb Polens auf das unglaubliche Verbrechen der Auslöschung des osteuropäischen Judentums während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg geschaut, so bleibt der Blick meistens auf AuschwitzBirkenau gerichtet – die anderen Vernichtungslager stehen im Schatten, auch deshalb, weil die Zahl der Überlebenden dort im Vergleich verschwindend gering gewesen war. Doch allein in den großen Vernichtungslagern im besetzten Generalgouvernement – in Treblinka, Bełżec und Sobibór – wurden 1942 und 1943 während der Aktion „Reinhard“ zusammengerechnet 1,5 Millionen Menschen vergast – der allergrößte Teil, weil sie Juden waren, aber daneben auch einige Tausend Angehörige der Roma-Völker. Die Lager, die einen vergleichsweise geringen räumlichen Platz benötigten, waren ausschließlich auf die Massentötung von Menschen ausgerichtet. Es genügten Laderampen für die ankommenden Züge, geeignete Baulichkeiten für die Gaskammern, der Raum für die ausgehobenen Erdgruben und später für die Schienenroste, auf denen die toten Menschenkörper oder die wieder ausgegrabenen Leichenreste unter freiem Himmel verbrannt wurden. Außerdem mussten die SS-Führungsmannschaft und die Wacheinheiten untergebracht werden, die nötigen Versorgungsbaracken brauchten auch ihren bescheidenen Platz. Die SS-Täter kamen ausschließlich aus Deutschland und Österreich. In den Wachmannschaften jeweils in Mannschaftsstärke von maximal 100 dienten meistens ehemalige Rotarmisten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren und denen ein Sonderdienst statt Kriegsgefangenschaft angeboten wurde, ohne ihnen zunächst aber mitzuteilen, worauf sie sich überhaupt einließen. Zumeist waren es kriegsgefangene Soldaten, die aus der Ukraine stammten, aber es gab auch eine erhebliche Zahl von ihnen, die im eigentlichen Russland oder in weiteren Teilen der Sowjetunion zu Hause waren. Für die Tötung und die anschließende Beseitigung der vergasten Menschen waren Bedienungsmannschaften zuständig, die aus den ankommenden Transporten zusammengestellt wurden. Weil hier die „handwerkliche“ Routine eine Rolle spielte, waren es die einzigen gefangenen Menschen in den Vernichtungslagern, die wenigstens eine klitzekleine Überlebenschance hatten, soweit sie nicht mit jedem ankommenden Transport ausgewechselt wurden, also Ortskenntnisse erlangen konnten. Die Aufstände in Treblinka und Sobibór mit den geglückten Ausbrüchen einiger Hundert Menschen beweisen es. Und ein wichtiger Fakt in der heutigen Diskussion wird durch die neueste Forschung bestätigt: In den Vernichtungslagern waren keine Polen an der Ermordung der Menschen beteiligt – weder unmittelbar noch mittelbar. Allerhöchstens könnte jemand auf die Idee kommen, die Lokomotivführer einzubeziehen, doch die waren nur ein kleines, leicht ersetzbares Rädchen in der teuflisch ausgetüftelten Todesmaschinerie der deutschen Besatzer; außerdem kamen die polnischen Lokomotivführer nie an die Rampe heran – die SS wechselte sie vorher aus. Der Ausdruck „polnische Vernichtungslager“ ist also gleichermaßen ein unüberlegtes Kürzel wie handfeste Geschichtslüge – es ist völlig verständlich, wenn darauf in Polen heftig reagiert wird. 

Die Erforschung dieser barbarischen Zeit während der deutschen Okkupation Polens hat in den letzten Jahrzehnten verstärkt das Licht auf das Verhältnis der polnischen Mehrheitsgesellschaft zu den verfolgten Juden gerichtet. Eine Reihe von aufsehenerregenden Publikationen sind in Polen erschienen, wurden teils heftig diskutiert, erschütterten auch die Welt der Politik. An erster Stelle sollte hier das Buch „Nachbarn“ genannt werden, dass der in den USA lebende polnische Historiker Jan Tomasz Gross im Jahr 2000 in Polen veröffentlichte (dt. 2001). Seit 1961 gab es in dem kleinen Städtchen Jedwabne eine Erinnerungstafel, mit der an die Ermordung von 1.600 jüdischen Einwohnern des Ortes im Juli 1941 erinnert wurde, die bei lebendigem Leibe in einer Scheune verbrannt worden waren. Die Tat wurde der Gestapo und der Hitlergendarmerie, also den deutschen Okkupanten zugeschrieben. Dokumente von Zeitzeugen oder Überlebenden in den verschiedenen Archiven, die eine genauere Rekonstruktion der Tat ermöglicht hätten, blieben bis auf wenige Ausnahmen unberücksichtigt. Bekannt war lediglich, dass es auch polnische Mithelfer gab, von denen 23 zwischen 1949 und 1953 angeklagt und zum Teil auch verurteilt wurden. Jan Tomasz Gross kehrte in seinem schmalen Buch die bisherige Logik um – die Täter waren die Nachbarn aus Jedwabne. Er ließ die Ausflüchte, dass das Verbrechen  schließlich unter deutscher Okkupation erfolgt sei und eventuell auf Motive von Rache für das angeblich kollaborierende Verhalten von Juden unter der sowjetischen Okkupation in der Zeit zwischen Herbst 1939 und Juni 1941 zurückzuführen sei, nicht gelten. 

Einig war sich ein Großteil der Öffentlichkeit, dass alles vorbehaltlos aufgedeckt gehöre, dass damit sowohl der polnischen Staatsräson als auch der Vertiefung des historischen Bewusstseins in der polnischen Gesellschaft am besten gedient werde. Dass sich die Auseinandersetzung um den Text in kurzer Zeit zu einer in ihrer öffentlichen Wirkung beispielhaften Geschichtsdebatte ausweitete, wie es sie Polen nach 1990 noch nicht erlebt hatte, zeugt von der Polarisierung des Streits, von den unerbittlich gegenüberstehenden und streitenden Lagern. Neben der Frage der Täter wurde die Opferzahl genauer untersucht und schließlich auf knapp 400 korrigiert. Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski legte in Jedwabne am 10. Juli 2001 bei der Gedenkfeier für die dort ermordeten Juden ein deutliches Bekenntnis ab, denn es gebe keinen Zweifel, dass hier am Ort Bürger der Republik Polen durch die Hand andere Bürger der Republik Polen umgebracht worden seien. Zur selben Zeit erklärte Jarosław Kaczyński hingegen, die Feinde Polens versuchten, die Ehre der Polen zu beflecken, aus ihnen Helfershelfer Hitlers zu machen. Glaubt man Umfragen jener Zeit, so hatte eine Mehrheit in Polen die Meinung des Parteiführers der damals aufstrebenden Nationalkonservativen geteilt – nicht die des Staatspräsidenten. Am neu errichteten Denkmal für die in Jedwabne ermordeten Juden lautet die Inschrift seit 2001: „Im Gedenken an die Juden aus Jedwabne und Umgebung, an die Männer, Frauen und Kinder, an die Mitbewohner dieses Landstrichs, die an dieser Stelle bei lebendigem Leibe am 10. Juli 1941 verbrannt worden sind“. Ein Hinweis auf die Täter fehlt. Während des Präsidentschaftswahlkampfes 2015, als Amtsinhaber Bronisław Komorowski gegen den nationalkonservativen Herausforderer Andrzej Duda antrat und schließlich verlor, spielte Jedwabne wieder eine größere Rolle. Dem amtierenden Präsidenten wurde die vorwurfsvolle Frage gestellt, wie er sich zu Jedwabne verhalten habe! Komorowski hatte am 10. Juli 2011 in Jedwabne von Tadeusz Mazowiecki einen Brief verlesen lassen, in dem er seine Scham so ausgedrückt hatte: „In dieser Scheune in Jedwabne haben die Täter, ohne es selbst zu wissen, die jahrhundertelangen Ideale der polnischen Republik verbrannt. Wir verspüren heute Schmerz und Scham über das, was damals geschehen ist.“

Viele Jahre später soll nun ein Gesetz verhindern, dass die Ehre Polens und der Polinnen und Polen im Zusammenhang mit den deutschen Verbrechen während der Okkupation Polens und insbesondere im Zusammenhang mit dem Judenmord durch falsche Behauptungen und Beschuldigungen beschmutzt wird. Der geduldigen, gewissenhaften und gründlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung wird misstraut, was insofern besonders bedauerlich ist, weil die Leistungen solcher Einrichtungen wie das Jüdische Historische Institut (ŻIH) oder das Warschauer Zentrum zur Erforschung der Judenvernichtung einen wohl unersetzlichen Beitrag zur Erforschung der Verbrechen an den Juden Europas und insbesondere Polens leisten. Zwar wurde von den Gesetzesmachern sogleich versichert, dass weder Forschung noch künstlerischer Umgang mit der Problematik durch das Gesetz beeinträchtigt würden, dennoch spricht sich in der Gesetzesinitiative  ein tiefes Misstrauen gegen die Prinzipien der offenen Gesellschaft aus. Jarosław Kaczyński kündigte zugleich an, dass Polen nun dabei sei, einen Mechanismus zu entwickeln, mit dem die historische Wahrheit verteidigt werde, denn Polen werde als der Schwächere sich nicht durch den Stärkeren die Verantwortung für ungeheuerlichste Verbrechen in die Schuhe schieben lassen. Schaut man zurück zu dem eingangs erwähnten Versprechen aus dem Jahr 2015, so ist gut zu sehen, wie der Kreis sich nun geschlossen hat.