Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen Kein Mensch ist egal – «Würde für alle»

Zu Jan Kortes Buch: «Die Verantwortung der Linken»

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Florian Weis,

Erschienen

März 2020

Jan Korte spricht zu Stipendiaten und Stipendiatinnen der RLS
Jan Korte bei einer Veranstaltung mit Stipendiat*innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2017

Jan Kortes Buch zur «Verantwortung der Linken» geht auf Artikel zurück, die er sowohl für die Rosa-Luxemburg-Stiftung als auch für Zeit Online schrieb. Ein zentraler Ausgangs- und Ansatzpunkt von Korte, MdB für Sachsen-Anhalt seit 2005, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag und Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist es, dass linke Politik wieder stärker auf diejenigen eingehen müsse, die das Gefühl eine, «in den politischen Debatten nicht vorzukommen, nicht gehört oder gesehen zu werden» (S. 13. Die Seitenangaben hier und im Folgenden beziehen sich auf das vorgestellte Buch.). Für ihn ist die «Idee des Gemeinsamen, die Idee der Gleichheit» die «Uridee der Linken» (S. 16). Er fordert eine Zuwendung zu Gruppen und Menschen ein, die er (mit einigem Grund) in der öffentlichen und auch in der linken Debatte vernachlässigt sieht. Diese Ausrichtung begründet Korte sowohl mit einer gebotenen sozialen Empathie als auch materiell bzw. in seinem Sinne materialistisch. Nicht zuletzt sieht er Arbeitnehmer*innen und Arbeitslose als zentrale Basis und Bezugsgröße der Partei DIE LINKE.

«Kein Mensch ist egal» (Meckie Berlinutz). Bei Korte (S. 40) heißt es, es gehe darum, «wieder ein Gleichgewicht, eine Suche nach Zusammenhalt und Würde – für alle! – neu zu entwickeln».
Das Buch ist 2020 im Verbrecher Verlag erschienen. 144 Seiten, 16 Euro.

Korte stützt sich in seinem Buch vor allem auf Erfahrungen aus seiner langjährigen Wahlkreisarbeit in Anhalt, einer Region, die von einer radikalen Deindustrialisierung und sozialen Deklassierung überdurchschnittlich betroffen ist,[1] zudem auf eine Reihe von aktuellen Publikationen und Autor*innen. Nancy Fraser zählt mit ihrem Begriff des «progressiven Neoliberalismus» ebenso dazu wie Oliver Nachtwey («Die Abstiegsgesellschaft»), Wilhelm Heitmeyer («Autoritäre Versuchungen»), Andreas Reckwitz («Die Gesellschaft der Singularitäten»), Cornelia Koppetsch («Die Gesellschaft des Zorns»), Christian Baron («Ein Mann seiner Klasse») und Didier Eribon («Rückkehr nach Reims»).

Korte nimmt, und das ist angesichts vieler unglücklich geführter Debatten in der LINKEN wichtig festzuhalten, keinerlei Abwertung von antirassistischen, (post)migrantischen und anderen emanzipatorischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte gegenüber den sozialökonomischen vor. Vielmehr stellt er immer wieder ihre Gleichrangigkeit heraus (S. 10 f., 14, 40, 46). Kortes Buch unterscheidet sich auch von manch unangenehmem Debattenbeitrag innerhalb der LINKEN der vergangenen Jahre dadurch, dass in ihm jede Aufgabe zentraler Demokratie-, Menschenrechts- und Emanzipationspositionen aus Rücksicht auf bestimmte Wähler*innen abgelehnt wird, und zwar gleichermaßen aus einer prinzipiellen Haltung heraus wie aufgrund der praktischen Erfahrung, dass sich so, durch Annäherung und Übernahme, ein Kampf gegen rassistische und andere verfestigte rechte Überzeugungen und Kräfte nicht gewinnen lässt ( u.a. S. 16).

Korte widmet der Zunahme rechtsnationalistischer und rechtsterroristischer Kräfte das erste Kapitel seines Buches, das er vor dem Erfurter Tabubruch Anfang Februar und vor dem rechtsterroristischen Mord an zehn Menschen in Hanau schrieb (in einer Pressekonferenz nach den rassistischen Morden von Hanau forderte er zu Recht die «Entwaffnung» der militanten Rechten). Er geht auf die NSU-Morde sowie die Anschläge gegen Walter Lübcke und in Halle als weitere Schritte einer stetigen Eskalation ein. Entsprechend eines langjährigen Arbeitsschwerpunktes, der sich auch in einigen Veröffentlichungen[2] niederschlägt, verweist Korte auf antikommunistische Traditionen in der Bundesrepublik, insbesondere in den Sicherheitsbehörden, und auf die Funktion des Antikommunismus als Integrationsangebot an die Bevölkerung der frühen Bundesrepublik (S. 22 ff.). In dieser Tradition stehe die Gleichsetzung von «Links- und Rechtsextremismus» durch die Unionsparteien, die in den vergangenen Wochen eine so unheilvolle Wirkung zeigte. Die Tür zur AfD konsequent zu schließen sieht Korte als eine zentrale Herausforderung für die Union (S. 34) – und für die FDP, ist wohl hinzuzufügen. Woraus dann freilich für die Partei DIE LINKE und für Linke generell ein Dilemma erwächst, das nicht einfach aufzulösen, sondern mit dem möglichst gut umzugehen ist: Einerseits fordert Korte wiederholt eine Rückkehr zu politischen Blöcken, um so klare Alternativen innerhalb des demokratischen Spektrums, eine deutliche Unterscheidbarkeit und eine Mobilisierung gegen die antidemokratische Rechte zu ermöglichen. Andererseits scheint mir eine breitestmögliche Abwehr der rassistischen, antidemokratischen Rechten zur Verteidigung von elementaren Menschenrechten und einer liberalen Demokratie, wie reduziert sie auch sein mag, dringend nötig zu sein. In Bezug auf die demokratischen bürgerlichen Kräfte verlangt das dann auch linken politischen Akteur*innen sehr viel ab. Doch nur wenn konservative Milieus, Unionsparteien und relevante Teile des Staatsapparates, anders als ihre Vorläufer am Ende der Weimarer Republik, eine demokratische Richtungsentscheidung treffen, wird es eine erfolgreiche Abwehr der auch von Korte völlig zu Recht so bezeichneten größten faschistischen Gefahr seit 1945 geben können.

Was Korte einfordert, ist eine angemessene Balance des Einsatzes und der Aufmerksamkeit für verschiedene Zielgruppen und Anliegen linker Politik, eine größere Empathie und Zuwendung für von Deklassierungen betroffene Menschen und Gruppen und eine politische Sprache, die kulturelle Abstände nicht noch vergrößert. Er spricht von «Sensoren» für das Fühlen und die Wünsche von Menschen, die ihre Anliegen nicht erörtert, geschweige denn berücksichtigt sehen, und die deshalb oftmals resignieren (S. 12 f.). Ausgangspunkt sind für ihn dabei Erfahrungen konkreter materieller und beruflicher Degradierung ebenso wie solche der Aberkennung von Leistungen, Lebensweisen und Fähigkeiten sowie des Verlustes sozialer Räume, die Beruf, Organisierung und Alltagsorte boten. Er erinnert dabei etwa an die gescheiterten Hoffnungen auf Arbeitsplätze in der Solarenergie in Ostdeutschland, die für die betroffenen Beschäftigten eine zweite Erfahrung des Scheiterns bedeuteten (S. 57 f.). Das eigene Leben nicht mehr verlässlich planen zu können und nicht mehr an eine für das eigene engere Umfeld politisch gestaltbare und bessere Zukunft zu glauben, sind somit für Korte wesentliche Ursachen dafür, dass sich Teile der Arbeitnehmerschaft und Arbeitslose von der politischen Linken abgewandt haben. Liberale und Linke, so Korte, würden darauf vor allem mit einem überheblichen Gestus und einer Sprache reagieren, der es an Empathie, Respekt und sachlichem Verständnis fehle. Und nicht selten herrsche eine regelrecht kulturelle Verachtung gegenüber Lebensstilen und Äußerungen aus bedrohten Arbeitnehmergruppen und von Deklassierten, die dann als politische Abgrenzung gegenüber vermeintlich oder real rassistischen oder rechten Positionen verbrämt würde.[3]

Korte betont den hohen Stellenwert von Arbeit für viele Menschen, die aus der gesellschaftlichen und seines Erachtens nach auch aus der linken Wahrnehmung geraten seien: Arbeit als Existenzgrundlage, aber auch lange Zeit als Ort der Begegnung, der kollektiven Organisierung, der Sinngebung und des Stolzes auf Erreichtes (S. 87 ff.). Hier treffen sich verschiedene reale Prozesse und politisch-kulturelle Haltungen: etwa der stetige Rückgang industrienaher Beschäftigungen, akut drängende ökologische und technologische Umbauten (ein vermutlich die Arbeitswelt stark verändernder Digitalisierungsschub), deutlich weniger gemeinsame Arbeitsplatz- und damit Organisierungserfahrungen, sinkende gesellschaftliche Wertschätzung für (zumeist männliche) Industriearbeit. Nun geht es Korte nicht darum, Industrieromantik zu betreiben oder die Notwendigkeit des ökologischen Wandels der Industriegesellschaft in Zeiten einer elementaren Klimakatastrophe zu leugnen. Es geht ihm um die Art und Weise, wie über die Beschäftigten, ihre Angehörigen und Milieus gesprochen wird, dass sie und ihre Erfahrungen und Kompetenzen nicht in die Wandlungsprozesse einbezogen, sondern eher, überspitzt formuliert, als lästige Relikte dargestellt werden, denen etwas gegeben wird (etwa ein Grundeinkommen), deren Arbeit, Fähigkeiten und Bedürfnisse aber wenig zählen und die viel zu wenig als Subjekte und Akteure erscheinen. Wird der Blick auf die Entwicklungen etwa in Großbritannien und den USA erweitert, lässt sich erkennen, dass davon nicht nur die (zumeist männlichen) Beschäftigten in den Industrieberufen betroffen sind, darunter im Übrigen sehr viele mit einer Einwanderungsgeschichte, sondern auch deren Familien und Umfeld. Spöttische Bemerkungen über «weiße (alte) Männer»[4] ignorieren dieses Umfeld in den verbliebenen oder ehemaligen Industrieregionen, deren (Wahl)Verhalten ähnlich ist.

Eine der Kandidat*innen für den Labour-Vorsitz, Lisa Nandy, macht dies immer wieder deutlich und auch Joan C. William in ihrem Buch «White Working Class. Overcoming Class Cluelessness in America». (Boston 2020). Williams beschreibt in der Einleitung zur Neuauflage ihres Buches 2019, dass sie neben vielen positiven Reaktionen auch einige tief verächtliche in Bezug auf ihr Werben um ein Verständnis für die Situation der working classes erhalten habe. Der mittlerweile sehr bekannte britische Kolumnist und Autor Owen Jones hat dies bereits vor fast einem Jahrzehnt in seinem Buch «Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse» (Mainz 2012) eindrücklich beschrieben. Beide, Williams und noch mehr Jones, verfolgen dabei einen dezidiert verbindenden Ansatz, wollen antirassistische mit Anliegen der LGBT+-Communities verknüpfen, ohne freilich über Differenzen hinwegzugehen («solidarity across differences»). Korte beschreibt dies am Beispiel seines Großvaters, eines Stahlarbeiters, für den CDU-Mitgliedschaft und Katholizismus kein Widerspruch zu einer starken IG-Metall-Bindung und einem Arbeiterbewusstsein waren – eine Kombination, aus der dann auch eine gewisse Immunisierung gegenüber Rassismus erwuchs (S. 80). Bestärkend bezieht er sich dabei auf den britischen Publizisten Paul Mason.[5] Schon Eric Hobsbawm skizzierte in «Das Zeitalter der Extreme» (Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1994, u.a. S. 389 f.) vor mehr als einem Vierteljahrhundert, wie mit dem Macht- und Bindungsverlust der sozialistischen und gewerkschaftlichen Organisationen und Milieus auch in Arbeitnehmerkreisen Rassismus wirkmächtiger wurde. Zentral für diese Prozesse sind, neben selbstverständlich ökonomisch-materiellen Verschlechterungen und einem ausgeprägten Bedrohungs- und Abstiegsgefühl die Abwertung industrieller Arbeit, der Bedeutungsverlust von Arbeiterorganisationen und das Verschwinden der Zuversicht, einer aufsteigenden Klasse ihren Organisationen anzugehören.

Korte greift dies auf, in dem er von einer Abwägung spricht, zu der Wähler*innen gebracht werden könnten:

«2009 gelang es uns, auch jene zu erreichen, die schon damals bestimmt einige Ressentiments verinnerlicht hatten, die unsere Positionen zur Einwanderung bestimmt nicht teilten. Aber es gelang uns, diese Menschen zu einer Abwägung zu bringen: Auch wenn ich als Wähler viele liberale Positionen der Linken nicht teile, so ist es dennoch die Partei, die am meisten mit meinem Leben zu tun hat. Das war damals unser Angebot. Und dahin müssen wir als ersten Schritt zurück, um als Linke danach eine neue Ära der Solidarität auszurufen, in deren Zentrum das Gemeinsame, das Verbindende und die reale Veränderung für die Drangsalierten dieser Gesellschaft steht. Egal, wie sie leben, lieben und wo sie herkommen.» (S. 98)

Auf die USA bezogen wären dies Wähler*innen, die 2008 und vielleicht noch 2012 in Michigan, Pennsylvania, Ohio oder Minnesota Barack Obama ihre Stimme gaben, dann aber 2016 zu Donald Trump überliefen.

Deutlich beschreibt Korte die Auswirkungen von Deregulierung und marktradikaler Globalisierung, des Selbstoptimierungsdrucks der vergangenen Jahrzehnte und der Nachwirkungen von Hartz IV: «Unsicherheit im Job, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Leiharbeit und menschenunwürdige Löhne sind Gewalt.» (S. 114, ähnlich auch S. 40) Er führt dies am Beispiel der Beschäftigten der Paketlieferdienste plastisch aus (S. 54 ff.). Zu ergänzen wäre hier, dass in den Großstädten viele dieser unter üblen Bedingungen arbeitenden Menschen oftmals Einwanderer*innen sind Geflüchtete etwa oder EU-Bürger*innen aus Bulgarien und Rumänien. Indem Sub- und Sub-Sub-Unternehmer*innen für DHL, Hermes & Co tätig werden, nicht selten «Selbständige» und Werkvertragsnehmer*innen die Arbeiten ausführen müssen, ohne den Schutz vieler gesetzlicher, geschweige denn tarifvertraglicher Sicherungen, etwa im Krankheitsfall, häufen sich hier in der Tat besonders ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Gleichzeitig zeigt der Onlinehandel die Dysfunktionalitäten des aktuellen Konsumkapitalismus besonders deutlich auf, an dem auch diejenigen mitwirken, die sich an anderen Stellen für kritische Verbraucher*innen mit hohen sozialen und ökologischen Standards halten.

Was also tun? Jan Korte nennt einige Zielsetzungen, die in der Partei DIE LINKE weitgehend unstrittig sein dürften: die radikale Abkehr von der Privatisierungspolitik, die Stärkung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Dienstleistungen (exemplarisch an der Deutschen Bahn ausgeführt; S. 47, 61 f.), die Wiederherstellung eines persönliche Sicherheit gewährleistenden Sozialsystems und eines gestaltungsfähigen Staates sowie öffentlicher Räume, und die Umverteilung in der Steuer- und Wirtschaftspolitik. Immer wieder betont er Empathie, Solidarität und Gleichheit[6] als Grundlagen linker Politik. Gerade der Gleichheitsbegriff bietet dabei eine gute Möglichkeit, die in der Linken in Deutschland derzeit oft (und richtigerweise) bemühte «verbindende» Politik auszuformulieren, mehr noch als der traditionell verwendete Begriff der sozialen Gerechtigkeit, denn Gleichheit im Sinne des englischen equality schließt sowohl individuelle (Bürger- und Menschen-) als auch soziale Rechte ein.[7]

Der von Korte skizzierten Politik kann ich weitgehend folgen, insbesondere dann, wenn sie eine Rückkehr des Sozialstaates, mehr öffentliche Dienstleistungen und Räume sowie eine Ausweitung von Arbeitnehmerrechten als linke Ziele an sich und nicht in erster Linie als Mittel zur Abwehr der politischen Rechten versteht. Allerdings scheinen Eindrücke aus dem Wahlkampf in Großbritannien und aus den USA darauf hinzudeuten, dass Teile der working classes dem Versprechen einer «Free for all»-Politik, als die etwa das Wahlprogramm der Labour Party und einige Forderungen im Vorwahlkampf der US-Demokraten verstanden wurden, nicht recht vertrauen. Zudem ist in der Tradition der Arbeiterbewegung bis heute ein bestimmtes Leistungsdenken vorhanden, wie auch in Teilen der traditionellen Mittelschichten, was sich durchaus mit einer Ausweitung des Sozialstaates verbinden lässt, wobei jedoch die Skepsis etwa gegenüber radikalen Grundeinkommenspositionen oder Forderungen nach einer starken Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Rente zur Kenntnis zu nehmen ist. Kortes Zielsetzung einer klaren politischen (Links-rechts-)Blockbildung in der politischen Auseinandersetzung sowie einer Regierungs- und Machtoption von SPD, Grünen und DIE LINKE, um das von ihm formulierte politische Programm verwirklichen zu können, stößt in seiner Partei keineswegs auf ungeteilte Zustimmung (S. 33, 120 ff.).

Linke Politik, so Korte, sollte an frühere Erfolge und Anläufe erinnern: Was bereits einmal gelungen ist, kann, wenn auch sicherlich in anderer Gestalt, wieder gelingen (S. 41 f.). Dazu gehören für Korte sowohl soziale Errungenschaften und Bewegungen (Kampf um Gewerkschaftsrechte, Arbeitsrechte und Tarifverträge, Frauenwahlrecht sowie der kompromisshafte Aufbau des Sozialstaates, später etwa die Einführung des Mindestlohns) als auch andere emanzipatorische Kämpfe (Geschlechterverhältnisse, Ehe für alle) und nicht zuletzt positive Erfahrungen internationaler Solidarität (Chile, Südafrika) und des europäischen antifaschistischen Widerstands. Geschichts- und Traditionsbewusstsein sind für Korte mithin wesentliche Bestandteile einer Rückgewinnung von Zukunftsvertrauen und Überwindung von Ohnmacht (S. 100 ff.). Der Kapitalismus wird es jedenfalls nicht wieder richten, denn: «Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht, dass kann man zurzeit gut in China besichtigen.» (S. 64)

Die stärksten Passagen des Buches von Jan Korte sind für mich diejenigen, in denen er Empathie für soziale Verlierer*innen, Respekt vor Arbeit und eine Akzeptanz unterschiedlicher Lebenswelten und -vorstellungen einfordert, solange diese nicht wiederum andere verächtlich machen und diskriminieren. Das bedeutet dann auch, bei der (An-)Sprache, in der Analyse und nicht zuletzt in der Verteilung von materiellen Ressourcen und von Aufmerksamkeit, den Fokus nicht nur auf die Groß- und Universitätsstädte zu legen. «Arbeit in der Fläche» nennt die Rosa-Luxemburg-Stiftung dies, sachlich ebenso wichtig und richtig wie sprachlich noch verbesserungsfähig. Das schließt für mich den Versuch ein, den auch unter Linken verbreiteten Bildungselitismus zu überwinden. Dies meint nicht, anti-intellektuell zu werden, ganz im Gegenteil: Es bedarf ein Mehr an analytischer Auseinandersetzung mit globalen Entwicklungen und einer seriösen Beschäftigung mit den Einschätzungen auch von solchen Wissenschaftler*innen, die der Linken fernstehen. So geht Korte auf Philip Manows «Die Politische Ökonomie des Populismus» (Berlin 2018) ein, ein Buch, das erst spät und nur von wenigen Linken (Christa Luft ist hier eine seltene Ausnahme) zur Kenntnis genommen wurde, obwohl es sich doch einer für Menschen, die in der Tradition von Marx stehen und sein Verständnis von Materialismus teilen, zentralen Frage stellt. Auch Befunde aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung wie diejenigen zu «Rechtspopulismus und Gewerkschaften»[8] sind als wichtige, zugleich leider seltene Beispiele zu nennen, die die ökonomischen und betrieblich-arbeitsweltlichen Ursachen der gesellschaftlichen Zuspitzungen und Brüche sichtbar machen. Weiterhin sei hier auf einige Arbeiten von Horst Kahrs («Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand»? und Deutungsmuster zum Erfolg der AfD bei den Bundestagswahlen 2017) verwiesen, die sich mit ökonomisch-materiellen Ursachen des tiefen Krisenbewusstseins von Arbeitnehmerschichten befassen. Allzu zahlreich sind solche Deutungsversuche aber nicht, und das macht einen Teil des Problems linker Politik aus. Insofern kann ich Jan Kortes Aussage «Wir brauchen […] mehr radikale Analyse» zustimmen, doch weder verstehe noch teile ich seine Schlussfolgerung: «Wir brauchen weniger radikale Moral.» (S. 40) Moral und Haltung und natürlich auch das Bestreben, andere zu überzeugen, sind unerlässlich für linke (und jede demokratische) Politik. Problematisch wird es für mich erst dann, wenn moralische Postulate eher einen Gestus, eine kulturelle Identifikation, einen Habitus der Abgrenzung ausdrücken.

Bildungselitär sind viele Sprachverwendungen, wenn sie unreflektiert, schlagwortartig, modisch, eher identitätsbestärkend als analytisch und erläuterbar für Außenstehende sind. Bildungselitär ist die ebenso anmaßende wie historisch vielfach widerlegte Annahme, Bildungsabschlüsse seien mit einer umfassenden, auch humanen Bildung identisch. Bildungselitär ist vor allem eine kulturelle und sprachliche Abgrenzung,[9] mal bewusst, so in liberal-bürgerlichen Kreisen, mal eher unbewusst, weil unreflektiert, so unter nicht wenigen Linken. Bildungselitär ist es auch, wenn der «rohe» Konsumismus der «Unterschichten» karikiert oder angeprangert, der eigene bürgerliche aber nicht reflektiert wird, obwohl doch der Lebensstil der «gebildeten» Mittelschichten die ökologische Katastrophe viel stärker beschleunigt. Bildungselitär ist es, wenn von «bildungsfernen Schichten» und «sozial Schwachen» gesprochen wird. Bildungselitär ist es auch, wenn etwa Raucher*innen pauschal als antisozial angeprangert werde – übrigens eine eigentümliche methodische Nähe linksliberal-libertärer Positionen zu ihnen inhaltlich entgegengesetzten neokonservativ-fundamentalistischen Haltungen, wie sie etwa in der Tea Party und Teilen der US-Republikaner seit den 1990er Jahren stark vertreten sind. Beide laden individuelles Verhalten (Sexualität – wir reden hier nicht von Gewalt und Macht, die selbstverständlich politische, moralische und öffentliche Themen sind!, Alkohol-, Zigaretten- und anderen Drogenkonsum) moralisch auf. Gebotener wäre es doch für Linke, an dieser Stelle über Armut und Gesundheit zu sprechen.[10]

Korte arbeitet, um den Kerngedanken des «niemals herabschauen» zu illustrieren, gern mit Musikbeispielen, so von Tom Petty («Baby, even the losers / get lucky sometimes / even the losers / keep a little bit of pride») und Ton-Steine-Scherben («Du bist nicht besser als der neben Dir»). Joan C. Williams nennt Bruce Springsteen als einen der wenigen US-amerikanischen Künstler, der mit Empathie das Leben der traditionellen Arbeiterschaft und Deklassierten darstelle (White Working Class, S. 3.). Und der bei Korte ebenfalls wiedergegebene Christian Baron fordert in einem Interview mehr «Erzählung von unten», ohne jeden Anflug von sozialistischem Realismus, aber mit Empathie. Darum geht es in diesem Buch.


[1] Korte verweist dabei auch auf die wirklich dichte und eindrückliche Vergleichsarbeit von Raphael, Lutz: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.

[2] Korte, Jan: Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Agieren von Jan Korte und einigen anderen in der Legislaturperiode 2005 bis 2009 zur Rehabilitierung der «Kriegsverräter» ein seltenes und außergewöhnlich interessantes Beispiel für eine einen langen Atmen erfordernde, aber am Ende erfolgreiche Intervention aus der Opposition heraus darstellt.

[3] Ein Beispiel, das an Owen Jones, erinnert, sei hier zitiert: «Wer Menschen verachtet, weil sie bei Primark einkaufen [müssen], der hat die Empathie aufgegeben und wird den Vormarsch rechter Demagogen nicht aufhalten.» (S. 16.)

[4] Die vom Verfasser dieser Rezension eigentliche geschätzte Band K.I.Z. etwa soll sich in ihrem Konzert zum Frauentag in diesen dümmlichen Zynismus eingereiht haben (soll – abschließend kann ich dies nicht beurteilen).

[5] «Während die Generation meines Vaters Antirassismus, Internationalismus und autodidaktischen Altruismus geatmet hatte, versorgte der Neoliberalismus die entgegengesetzten Neigungen mit Sauerstoff. Über drei Jahrzehnte hinweg unterspülte und zersetzte dies den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Neoliberalismus. Und als der Neoliberalismus selbst zusammenbrach, wurde nicht länger der herkömmliche Konservatismus mit Sauerstoff versorgt, sondern der autoritär rechtsextreme Populismus.» (Paul Mason, zit. nach Korte, S. 79.)

[6] «Ob in Nordamerika, Lateinamerika, Afrika, Asien, Australien, Europa oder Deutschland, der Kampf für die Gleichheit der Menschen ist unser Kernpunkt.» (S. 103)

[7] An dieser Stelle wäre zu prüfen, ob der interessante Vorschlag von Susanne Scharanowski (Heimat. Geschichte eines Missverständnisses, Darmstadt 2019), von Identifikationen statt Identitäten zu sprechen, dabei helfen kann, den Fallstricken der Identitätspolitik zu entgehen.

[8] Dieser Studie gingen verschiedene Untersuchungen in den Vorjahren voraus, darunter Detje, Richard/Menz, Wolfgang/Nies, Sarah/Sauer, Dieter: Krise ohne Konflikt?, Hamburg 2011. 

[9] Eine der wirkungsvollsten Projektlinien der Rosa-Luxemburg-Stiftung war und ist das Programm «Lux like Studium». Siehe auch Bitis, Songül/Borst, Nina (Hrsg.): Un_Mögliche Bildung. Kritische Stimmen und verschränkte Perspektiven auf Bildungsun_gleichheiten, Münster 2013. 

[10] Jan Korte tut dies (S. 42 ff.), sehr pointiert auch: Harris, John: Our social crisis is no longer just about Inequality, it’s about life and death, in: The Guardian, 9.3.2020.