Publikation Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Migration / Flucht Der lange Marsch der Migration

Die Anfänge migrantischer Selbstorganisation im Nachkriegsdeutschland

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Erschienen

September 2020

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Die multikulturelle Gegenwart der Bundesrepublik ist nach wie vor Gegenstand harter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Große Teile der Bevölkerung wollen sich nicht damit abfinden, dass das Gesicht des Landes sich durch die Migrationswellen der Nachkriegszeit verändert hat. Deutschland ist bunter geworden, aber in den Köpfen vieler Bürgerinnen und Bürger bleibt es einfarbig.

Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die beiden deutschen Staaten in der Nachkriegszeit zwar ausländische Arbeitskräfte ins Land holten, diesen aber keine Integrations- und Bleibeperspektive boten. Im Gegenteil: DDR und BRD pflegten beide jahrzehntelang das Leitbild einer als ethnisch homogen imaginierten Gesellschaft, in der kein Platz war für Menschen mit Migrationshintergrund bzw., wie Ferda Ataman schreibt, für «Menschen mit Kanakenhintergrund».

Dabei war die Vorstellung ethnischer Homogenität bereits damals eine Fata Morgana. Schließlich hatte Deutschland längst verschiedene Einwanderungswellen erlebt. Prominente Beispiele hierfür sind die Einwanderung der Hugenotten, vor allem nach Brandenburg-Preußen, im späten 17. Jahrhundert, die Migration von Polen ins Ruhrgebiet 200 Jahre später oder auch die Immigration osteuropäischer Juden zur selben Zeit.

Gastarbeiter und Vertragsarbeiter

In der Nachkriegszeit warb die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren aus wirtschaftlichen Motiven sogenannte Gastarbeiter an – sie würden, so die Absicht, den Arbeitskräftemangel beheben und das Land nach einem temporären Aufenthalt wieder verlassen und in ihre Heimatländer zurückkehren. Angeworben wurden sie, um einfache, un- oder angelernte Tätigkeiten auszuüben; etwaige im Heimatland erworbene Qualifikationen wurden in der Regel nicht anerkannt. «Die ‹Gastarbeiter› erledigten ‹Ausländerjobs›» und unterschichteten den Arbeitsmarkt.

Die Migration wurde organisiert auf der Basis bilateraler Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko und Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Nach dem Anwerbestopp, der auf einem Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 23. November 1973 beruhte, verstärkte sich der Familiennachzug der immer noch als «Gastarbeiter» geltenden Einwanderer. Ihre Integration in die Gesellschaft blieb indessen weiterhin umstritten. Noch in den 1980er Jahren etwa versuchte die Regierung Kohl, sie durch «freiwillige Rückkehrhilfen» in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Nur stufenweise, und über Jahrzehnte, wurde der Aufenthalt verstetigt, ergaben sich für (manche) Eingewanderte bessere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe.

Die Situation ausländischer Arbeitskräfte in der DDR war sogar noch prekärer. Zwar war ursprünglich vorgesehen, dass die sogenannten Vertragsarbeiter, die über Staatsverträge mit befreundeten realsozialistischen Ländern – darunter neben Polen (1965) und Ungarn (1967) vor allem Vietnam (1980), Mosambik (1979), Angola (1984) und Kuba (1975) – in die DDR kamen, während ihres zeitlich befristeten Aufenthalts eine Ausbildung machten, die sie anschließend zur wirtschaftlichen Entwicklung ihres Heimatlandes nutzen sollten. In der Praxis aber geriet dieser Teil des Kontraktes rasch in den Hintergrund. Stattdessen wurden die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter vorrangig in jenen Wirtschaftszweigen eingesetzt, wo der Bedarf an Arbeitskräften besonders groß war. Zudem waren sie rechtlich noch schlechter gestellt als die «Gastarbeiter» in der Bundesrepublik.

Kurz: Den ins Land geholten Menschen wurde das Leben sehr schwer gemacht, sie wurden faktisch in die Zange genommen vom Staat auf der einen Seite und von der als ethnisch homogen imaginierten Gesellschaft auf der anderen – und das in West wie Ost.
 

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Inhalt

  • Albert Scharenberg
    Einleitung: Der lange Marsch der Migration
  • Edith Pichler
    Don Camillo und Peppone nördlich der Alpen
    Italienische Institutionen und Vereine in Deutschland nach 1945
  • Murat Çakır
    Eine deutsch-deutsch-türkische Geschichte
  • Ayten Kaplan und Elisabeth Kenan
    Im Zangengriff der Repression
    Kurdische Selbstorganisation in Deutschland
  • Johanna Panagiotou
    Griechische Anfänge
  • Nélson Pereira Pinto und Manuel Campos
    Portugiesische Vereine und die Rolle der Gewerkschaften
  • Patrice G. Poutrus
    Von der Planwirtschaft in die ethnische Ökonomie
    Vertragsarbeiter in der DDR und Ostdeutschland
  • Angelika Nguyen
    Nord oder Süd, Ost oder West
    Die beiden vietnamesischen Communities im Nachkriegsdeutschland
  • Katharina Oguntoye
    Kampf dem Rassismus
    Die Selbstorganisierung Schwarzer Menschen in Deutschland
  • Autorinnen und Autoren